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News des Tages: Inflation, Papst Franziskus, Gendersprache

1. Der Butterschock

Die Inflationsrate ist im Mai auf den höchsten Stand seit fast 50 Jahren gestiegen: 7,9 Prozent. So hat es heute das Statistische Bundesamt vorgerechnet. Wer im Mai vorigen Jahres also gerade so mit seinem Geld hinkam, ist statistisch gesehen jetzt schon zweieinhalb Tage vor dem Monatsende pleite. Es gibt wenig Hoffnung, dass sich die Lage bald wieder entspannt.

Bei Lebensmitteln waren die Preissteigerungen besonders groß. Molkereiprodukte: plus 13,1 Prozent. Fleisch: plus 16,5 Prozent. Mehl: plus 33,3 Prozent. Butter: plus 43 Prozent. Ich erinnere mich, wie Olaf Scholz vergangenes Jahr im Bundestagswahlkampf gefragt wurde, was ein Paket Butter kostet. Die richtige Antwort, die Scholz nicht wusste, lautete damals 1,49 Euro. Heute kostete das günstigste Paket Butter beim Discounter 2,19 Euro.

Werden es demnächst 3,09 Euro sein? Eine düstere Vorahnung auf die weitere Entwicklung geben die Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte. Sie haben einige ihrer Preise zuletzt sogar noch stärker angehoben, als es die Inflationsrate für Lebensmittel zeigt, um 40, teils 50 Prozent. Seit Beginn der Erhebung im Jahr 1961 gab es bei ihnen keinen höheren Anstieg. Pflanzliche Produkte wurden besonders teuer, auch eine Folge der weltweiten Getreidekrise.

Der Krieg in der Ukraine ist einer der Gründe für die Inflation. Andere Gründe hätten die Verantwortlichen voriges Jahr vorhersehen können, etwa die Lieferkettenprobleme nach der Pandemie oder die Nebenwirkungen der Politik des billigen Geldes. Doch viele Expertinnen und Experten, die sich heute zu großen Wirtschaftserklärern aufschwingen, leugneten damals das Problem. Wer vorigen Herbst vor der Inflation warnte, wurde teils als Panikmacher vom rechtspopulistischen Rand diffamiert. Selbst als Briten und US-Amerikaner die Leitzinsen erhöht hatten, tat die Chefin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde so, als wäre ihre Welt in Ordnung.

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Immerhin spricht es für die Unabhängigkeit der Zentralbank, dass Lagarde trotz ihrer lausigen Performance bis heute im Amt ist.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Das Rätsel um die Minen vor Odessa: Angeblich ist das Schwarze Meer großflächig vermint. Die Funktionsweise der Sprengkörper ist heimtückisch, ihre Räumung extrem komplex. Doch wie groß ist die Zahl der Seeminen wirklich, und wer hat sie ausgelegt? 

  • Doktor Outlaw: Anton Hofreiter fordert schwere Waffen für die Ukraine, kritisiert den Kanzler und gilt in seiner Fraktion als Außenseiter. Was sagt es über die Grünen, dass er dort mittlerweile als Störenfried gilt ?

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Der Papst und sein Erbe

Seit Franziskus kurzfristig eine Afrikareise abgesagt hat, brodelt in Rom die Gerüchteküche. Wie krank ist der Papst? Gibt er womöglich auf? Franziskus selbst hatte die Gerüchte befeuert, als er Ende Mai vor italienischen Bischöfen seine Gesundheitsprobleme thematisierte und sagte: »Bevor ich mich operieren lasse, trete ich lieber zurück.«

Unser Italien-Korrespondent Frank Hornig ist den Geschichten nachgegangen . Vergangenen Sonntag sah er den Papst beim Angelusgebet, dort wirkte dieser recht fidel. »Er wurde nicht im Rollstuhl geschoben, er musste sich nicht am Pult festhalten«, schreibt Frank. »Und anders als Vorgänger in diesem Alter hatte er auch keine Probleme, seine Gedanken verständlich zu äußern und mit lebhaften Gesten und wacher Mimik zu betonen.«

Doch es gibt Anzeichen, dass der Papst sein Erbe ordnet. Er ernennt plötzlich neue Kardinäle und verändert damit das Wahlgremium, das über seinen Nachfolger entscheidet. Er plant eine Pilgerreise zu den Reliquien von Coelestin V., der 1294 freiwillig auf sein Amt verzichtete – eine solche Fahrt hatte auch Franziskus-Vorgänger Benedikt XVI. unternommen, bevor er zurücktrat. Papst Franziskus leidet sichtlich an Knieschmerzen sowie an den Folgen einer Darmoperation vom vergangenen Jahr. Er blieb sitzen, als ihn kürzlich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen besuchte. Im Konklave-Kreis kursieren längst Kurzbiografien möglicher Nachfolger.

Wie ernst sind also die Gerüchte zu nehmen? Frank hält sich mit einer Prognose zurück. Schon kurz nach seiner Wahl habe Franziskus durchblicken lassen, dass er eines Tages verzichten werde. »Seither macht er sich einen Spaß daraus, seine Bischöfe und Kardinäle zu verwirren.«

3. Ist das * jetzt Deutsch?

Der Autohersteller Audi will seine Beschäftigten weiter als »Audianer_innen« anreden und in seiner Kommunikation »gendersensible Formulierungen« verwenden. Vor dem Landgericht Ingolstadt lehnte das Unternehmen heute einen Kompromiss mit einem Mitarbeiter ab. Dieser hatte geklagt, weil er nicht in geschlechtergerechter Sprache angesprochen werden möchte, und verwies auf rumplige Arbeitsanweisungen mit Formulierungen wie dieser: »Der_die BSM-Expertin ist qualifizierte_r Fachexpert_in«.

Der Vorsitzende Richter hatte zur gütlichen Einigung vorgeschlagen, den Mann künftig in herkömmlicher Sprache anzuschreiben, als eine Art Einzelfall-Lösung. Die Audi-Anwälte lehnten das als nicht praktikabel ab. Damit kommt es nun wohl zur Hauptverhandlung. Eine Entscheidung soll am 29. Juli verkündet werden. Anschließend könnte der Fall beim Bundesgerichtshof landen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das Thema Gendersprache auch beim SPIEGEL viele Leute bewegt . Wir haben uns nach einigem Hin und Her dafür entschieden, das generische Maskulinum (»Forscher«) falls möglich durch Doppelnennungen (»Forscherinnen und Forscher«), geschlechtsneutrale Begriffe (»Forschende«) oder auch »kluge Umschreibungen« zu ersetzen. So steht es in Kapitel 2.6.1 unserer Redaktionsstandards; ein Beispiel für eine kluge Umschreibung von »Forscher« denken Sie sich bitte selbst aus. Anders als bei Audi verzichten wir auf Genderzeichen, Ausnahmen bestätigen die Regel. In einer persönlichen Kolumne dürfte ich »Forscher*innen« schreiben, in einem Nachrichtentext nicht.

Auf diese Weise ist es uns gelungen, einen Minimalkonsens zwischen den harten Pro- und Kontra-Genderfraktionen herzustellen dergestalt, dass beide Seiten den Kompromiss irgendwie blöd finden.

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Was heute sonst noch wichtig ist

Meine Lieblingsgeschichte heute: Die Schätze unserer Kindheit

Meine Kollegin Sandra Schulz hat darüber geschrieben, wie schön es ist, in den Keller zu gehen und in den Schätzen unserer Kindheit zu stöbern, in Kisten, Koffern, Kartons . Manche Menschen schmeißen ja aus genau diesem Grund nichts weg. »Von manchem Gegenstand können wir uns seit Jahrzehnten nicht trennen«, schreibt Sandra, »nicht, weil er für sich genommen so eine große Bedeutung hätte, sondern weil das Überdauern selbst bedeutsam ist. Weil er uns einfach schon immer begleitet hat und das letzte Verbindungsstück zu einem früheren Ich ist, unser Leben also als Kontinuität begreifbar macht.«

Sandra hat in der Redaktion herumgefragt, welche Lieblingsstücke die Kolleginnen und Kollegen haben. Janko Tietz nannte sein orangefarbenes Kassetten-Karussell (inklusive Vicky-Leandros-Kassetten von Opa), Nina Weber ihr kleines Feuerwehrauto, Helene Flachsenberg eine Pfauenfeder und Jens Radü einen Flacon mit trüber Flüssigkeit, den sein Onkel vor über 30 Jahren aus Hinterpommern mitbrachte. Es handelt sich um Wasser aus dem Fluss Radüe. Jens sagt, es erinnere ihn aber auch an die Phiole der Elbenkönigin Galadriel in »Herr der Ringe«.

Haben Sie auch ein Lieblingsstück, das Sie an Ihre Kindheit erinnert? Schicken Sie mir gern ein Foto: alexander.neubacher@spiegel.de 

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen


Was heute weniger wichtig ist

  • Risikogruppe: Rolling-Stones-Sänger Mick Jagger, 78, hat sich mit dem Coronavirus angesteckt. Das für gestern Abend geplante Konzert in Amsterdam wurde deshalb kurzfristig abgesagt. »Den Rolling Stones tut die Verschiebung des heutigen Abends sehr leid, aber die Sicherheit des Publikums, der Musikerkollegen und der Tournee-Crew muss Vorrang haben«, teilt die Band auf Twitter mit. Jagger selbst äußerte sich über Facebook: »Danke euch allen für eure Geduld und euer Verständnis.« Unklar ist, welche Auswirkungen die Erkrankung auf die weiteren geplanten Konzerte der Stones-Tournee hat. Für Freitag ist eigentlich ein Auftritt in Bern geplant, Ende Juli will die Band in Gelsenkirchen auftreten.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Er spielte dort in der 22. Folge aus dem Jahr 1991 den Detektiv Joe Bookman, der in einer Bibliothek ein langes verschollenes Buch aufspürt.«

Cartoon des Tages: Zukunftsaussichten

Illustration: Thomas Plassmann


Und heute Abend?

Meine liebste Literaturkritikerin Elke Heidenreich erinnert in ihrer Videokolumne an Friedrich Christian Delius, der Ende Mai mit 79 Jahren gestorben ist. Vor allem dessen Roman »Flatterzunge« aus dem Jahr 1999 hat es ihr angetan. »Verneigung, Christian, mein Freund, Ade!«, sagt Heidenreich. »Du wirst zu Füßen Gottes sitzen, wenn Gott denn Füße hat.«

In »Flatterzunge« geht um einen Posaunisten, der sich bei einer Orchesterreise in Tel Aviv einen unmöglichen, nun ja, Witz erlaubt: Er unterschreibt abends in einer Bar eine Rechnung mit »Adolf Hitler«. Einen solchen Fall hat es 1997 tatsächlich gegeben, im Mittelpunkt stand ein Kontrabassist aus Berlin. Mein damaliger Kollege Jan Fleischhauer hat einen Artikel geschrieben, den Delius gekannt haben könnte; Sie können ihn hier nachlesen.

Im Roman von Delius geht es um die Frage, warum sich ein Mensch, der nach eigener Ansicht kein Nazi ist, so irrsinnig verhält, und wie er hinterher damit umgeht. Ist es nicht ungerecht, dass er wegen einer so offenkundigen Eselei seinen Beruf, seine Wohnung, seine Freundin verliert? Andererseits: Waren es nicht auch bei den Nazis die angeblichen Kleinen, die das System am Laufen hielten? »Dieser Roman hat viele Facetten«, sagt Heidenreich. »Er ist großartig, immer noch aktuell. Und wenn wir ihn heute wieder lesen, wissen wir, dass wir an Delius einen großen Autor verloren haben.«

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

Herzlich
Ihr Alexander Neubacher

Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.

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