1. Die Zapfsäulenheiligen bei der FDP
Im Bundesschnitt kostet der Liter Diesel schon wieder mehr als zwei Euro, meldet der ADAC. Autofahrer müssen also fast so viel zahlen wie vor dem Tankrabatt, den die Bundesregierung zum Monatsbeginn spendierte. Der Effekt verpufft aber nicht, sondern kommt teilweise nur woanders an: »Die Mineralölindustrie macht mit dem neu eingeführten Tankrabatt offensichtlich Kasse«, berichten meine Kollegen Claus Hecking und Patrick Stotz . Die Datenanalyse von Claus und Patrick legt sogar nahe, dass die Mineralölwirtschaft ihre Margen nochmals deutlich ausgeweitet hat. Der FDP sei, sorry, Wortwitzwiederholung, Tank.
Aber wollte das Kartellamt nicht ganz genau hinschauen? »Wir tun unser Möglichstes, um aufzuklären und Transparenz in die Preissetzung der Mineralölkonzerne zu bringen«, teilte der Amtschef auf Anfrage der Kollegen mit. Aber man könne Preise nicht »auf Knopfdruck« senken. »Das Erwirtschaften von hohen Gewinnen ist nicht verboten.« Das klingt für mich, als würde das Amt den Konzernen eher auf die Schulter klopfen, als ihnen auf die Finger zu hauen.
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Lesen Sie hier mehr: Das machtlose Kartellamt
2. Lkw ojemine
Und noch ein Blick auf die Straße: In Deutschland fehlen 60.000 bis 80.000 Lkw-Fahrer, da sind sich die beiden großen Verbände fürs Speditionsgewerbe (DSLV) und für die Transportfirmen (BGL) einig, wie meine Kollegen Alfred Weinzierl und Claus Hecking berichten . Unzählige Laster stehen auf Betriebshöfen herum, obwohl es eigentlich genug zu transportieren gäbe. In der Busbranche ist es ähnlich: Allein die privaten, mittelständischen Betriebe melden rund 5000 offene Stellen. Experten fürchten noch im Sommer englische Verhältnisse.
»Schon jetzt bleiben Container in den Häfen stehen, reißen Lieferketten«, sagt Alfred. »Die Logistik wird kollabieren, wenn demnächst die Frachtschiffe, die noch in China liegen oder bereits in der Nordsee auf Reede warten, in europäischen Häfen landen.«
Und die Aussicht ist – anders als im erhöhten Fahrersitz – schlecht: Viele Lkw- und Busfahrer (selten sind es Fahrerinnen) nähern sich dem Rentenalter, der Nachwuchs interessiert sich kaum für die Jobs. Und die Bürokratie macht es Zuwanderern, die in ihrer Heimat am Steuer saßen, schwer, dasselbe hier zu tun.
»Die Szene, die alles auf den Punkt bringt, erlebte ich in Bad Oeynhausen bei der Firma Kottmeyer«, erzählt Alfred. Er lernte den ukrainischen Lkw-Fahrer Anton Karamow und seine Familie kennen. Der fuhr zuletzt für einen litauischen Unternehmer quer durch Europa. Als Putin Karamows Heimat überfiel, floh seine Frau Polina mit den drei Kindern per Zug nach Polen und weiter nach Deutschland. Kurz darauf kündigte Anton in Litauen, jetzt sind die fünf in Ostwestfalen untergekommen.
»Karamow könnte morgen bei Kottmeyer anfangen«, sagt Alfred. »Er darf es aber nicht, weil er die in Deutschland notwendige Ausbildung zum Berufskraftfahrer nicht hat.« Folge: Der Staat zahlt ihm als Flüchtling und seiner Familie jetzt Geld. »Wenn wir in Deutschland pragmatischer wären, würde er für Kottmeyer fahren, der Staat müsste nichts zahlen, sondern hätte im Gegenteil Einnahmen aus Lohnsteuer.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Keiner will mehr Trucker sein
3. Automatisch schlechter?
Überleben des Schöneren: Hässliche Fische scheinen eher vom Aussterben bedroht zu sein als solche, die wir Menschen als hübsch empfinden. Zu dem Schluss kommt eine Studie, über die der »Guardian« berichtet.
Mit komplexen Gedanken und durchdachten Entscheidungen verhält es sich ähnlich wie mit hässlichen Fischen. Sie brauchen besondere Aufmerksamkeit und Pflege, um zu überleben. Ein gestresster Kollege sagte mal, die Qualität seiner Entscheidungen nehme im Tagesverlauf dramatisch ab: morgens überblicke er noch alles Wesentliche, gegen Abend hocke er im Tunnel und entscheide nur noch weg, fast automatisch, ohne nachzudenken, Hauptsache weg, nächstes Problem.
Wenn das Maschinen so machen, heißt es automatische Entscheidungsfindung, Automated Decision Making, kurz ADM. Ein großer Trend in der Informationstechnologie, berichtet mein Kollege Patrick Beuth . Und wie beim Menschen, werden die Entscheidungen nicht unbedingt besser, wenn sie automatisiert getroffen werden – manchmal wird es sogar diskriminierend und gefährlich. So mache die Technik die Jobchancen mancher Menschen davon abhängig, welchen Browser sie verwenden. Oder die Kreditwürdigkeit davon, ob jemand seine Mutter zurückruft. Mehr und mehr Firmen setzen vermeintlich schlaue Programme ein und lassen sie auf ihre Kundinnen und Kunden los.
»Natürlich kann uns die sogenannte künstliche Intelligenz technologisch voranbringen«, sagt Patrick, etwa in der Klima-, Material- oder der Pharmaforschung. »Aber sobald eine Software, die als ›intelligent‹ bezeichnet wird, über die Lebensumstände konkreter Personen entscheidet, wird es problematisch.« Dafür gebe es mittlerweile haufenweise Beispiele, und ständig würden weitere hinzukommen.
Patrick ist gerade auf der re:publica unterwegs, wo heute auch der Bundeskanzler gesprochen hat (hier das Video). Dort sind die Gefahren von KI und ADM schon lange ein Thema. »Die politische Regulierung hängt der technischen Entwicklung um Jahre hinterher«, sagt Patrick. Deshalb müssen Menschen seiner Ansicht nach lernen, sich gegen automatische Entscheidungsfindungen zu verteidigen. Etwa mithilfe von Anleitungen zum Verfassen einer Bewerbung, die bei einer KI gut ankommt.
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Lesen Sie hier mehr: Warum künstliche Intelligenz oft sinnlos oder gefährlich ist
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Die wichtigsten Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
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Flakpanzer Gepard – warum es auf die Munition ankommt: Bald bringt Deutschland die ersten Gepard-Flugabwehrpanzer in die Ukraine. Noch ist unklar, mit welcher Munition. Dabei entscheidet sie darüber, wie effizient die Kanonen sind – und welche Ziele bekämpft werden können .
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»Es ist eine sehr brutale, sehr harte Schlacht« Die russische Armee ist in der Ostukraine weiter auf dem Vormarsch. Es seien entscheidende Kämpfe um den Donbass, sagt Präsident Selenskyj. In seiner neuen Videoansprache erwähnt er auch Kanzler Scholz.
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Putin befreit Exporteure von Rubel-Umtauschpflicht: Eigentlich sollen internationale Sanktionen die Landeswährung schwächen. Doch der Rubel hat so sehr an Stärke gewonnen, dass Moskau nun Beschränkungen im Devisenverkehr aufheben kann.
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Ukrainische Abiprüfungen an deutschen Unis: Auch wenn ihre Schulen zerstört sind, sollen sie ihren Abschluss erhalten: Ukrainische Geflüchtete können sich nach SPIEGEL-Informationen online an mehreren deutschen Unis testen lassen.
Was heute sonst noch wichtig ist
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Europäische Zentralbank will Leitzins auf 0,25 Prozent erhöhen: Die hohe Inflation zwingt nun auch die EZB zum Handeln: Die Zentralbank beendet das milliardenschwere Ankaufprogramm für Anleihen und macht den Weg frei für die erste Zinsanhebung seit mehr als einem Jahrzehnt.
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Fahrer soll vorläufig in Psychiatrie: Er habe psychische Probleme, leide womöglich an paranoider Schizophrenie: Das sagt die Staatsanwaltschaft über den Amokfahrer von Berlin. Die Ermittler gehen von einer vorsätzlichen Tat aus.
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USA liefern Taiwan Waffen im Wert von 120 Millionen Dollar: China beansprucht Taiwan für sich, der Konflikt im Pazifik schwelt seit Monaten. Nun bringen die USA die bereits vierte Waffenlieferung seit Bidens Amtsantritt auf den Weg. Die Regierung in Peking gibt sich empört.
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Drosten sorgt sich wegen wachsender Sterberate bei Omikron: Die Coronazahlen in Deutschland steigen wieder, doch der Virologe Christian Drosten gibt vorerst Entwarnung. »Etwas beunruhigt« zeigt er sich wegen Daten aus Portugal – die Grünen drängen nun auf neue Schutzmechanismen.
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Stiko empfiehlt Affenpocken-Impfung für Risikogruppen und nach engem Kontakt: In einigen Fällen rät die Stiko jetzt zur Impfung mit dem Mittel Imavex. Das soll eigentlich vor den Pocken schützen, kann aber auch gegen Affenpocken hilfreich sein.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Das Kind ist tot, du bist nicht mehr schützenswert« Wer vor dem sechsten Schwangerschaftsmonat ein Kind verliert, hat keinen Anspruch auf eine gesetzlich geregelte Auszeit. Natascha Sagorski will das ändern. Hier erzählt sie, warum.
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Der Opferkult der gefallenen Fußballbosse: Sie waren die mächtigsten Männer des Weltfußballs. Jetzt stehen Ex-Fifa-Chef Sepp Blatter und Ex-Uefa-Boss Michel Platini in der Schweiz vor Gericht. Dort tun sie, was sie immer taten: sich als Geschädigte inszenieren.
Was heute weniger wichtig ist
Allein ist man weniger zu zweit: Die Sozialdemokraten Doris Schröder-Köpf, 58, und Boris Pistorius, 62, haben sich bereits vor Monaten getrennt, wie der »Stern« und die »Bild« berichten. Sie ist niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, er ist in dem Bundesland der Innenminister. Es heißt, sie seien »in Freundschaft« auseinandergegangen und verstünden sich weiterhin gut.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Aus einer Ampulle können zwälf Auffrischimpfungen gegeben werden.«
Cartoon des Tages: Coronaherbst
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie einer Empfehlung meines Kollegen Andreas Borcholte folgen und die neue Serie »Ms. Marvel« bei Disney+ anfangen zu gucken. »Marvels erste muslimische Superheldin war als Comic eine Sensation«, findet Andreas. »Jetzt hat der US-pakistanische Teenager Ms. Marvel eine eigene, knallbunte TV-Serie – und eine tolle Darstellerin, die selbst mal Fangirl war.« (Hier die ganze Rezension.)
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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