Für den früheren Friedrich Merz wären die Töne, die er am vergangenen Montag in der Parteizentrale anschlug, ungewöhnlich gewesen. Denn früher, da war Merz einmal die Personifizierung des CDU-Wirtschaftsflügels. Seit er aber Parteichef ist, arbeitet Merz an seinem Image, versucht sich lieber an sozial verträglicheren Statements. Und so gibt Merz, als es am Montag im Berliner Konrad-Adenauer-Haus um die neue Grundwertecharta der CDU geht, eben nicht den Wirtschaftsfreund – er spricht über Sozialpolitik.
Zu lange habe man es versäumt, auf sozialpolitische Herausforderungen wie den demografischen Wandel zu antworten, beklagt Merz in seiner Rede. Bei der Arbeit am neuen Grundsatzprogramm gehe es auch um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. »Dies ist in der deutschen Innenpolitik vermutlich die größte intellektuelle Herausforderung, vor der wir alle miteinander stehen«, ruft er ins Mikro. Die Anwesenden applaudieren, »bravo« ruft jemand in der Menge.
Nur: Beim ersten Praxistest, der zum Ende der Parlamentswoche im Bundestag ansteht, scheint das neu entdeckte soziale Gewissen der Union schon wieder in den Hintergrund zu rücken. Wenn am Freitagmorgen über den Gesetzesvorschlag der Ampelfraktionen zur Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro abgestimmt wird, wollen sich die Abgeordneten von CDU und CSU enthalten. Und das, obwohl führende Unionspolitiker zuvor öffentlich dafür geworben hatten, die Lohnuntergrenze entsprechend anzuheben. Bislang gelten 9,82 Euro, am 1. Juli erfolgt ohnehin eine Erhöhung auf 10,45 Euro.
Die schwierige Beziehung zum Mindestlohn
Anstatt für den Ampelantrag zu stimmen, haben die Unionsabgeordneten einen eigenen Antrag präsentiert: Darin begrüßen sie die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Aber der Weg, den die Ampel dahin gehen will, der passt ihnen nicht.
Die Union und der Mindestlohn – das war schon immer eine komplizierte Geschichte. Viele Jahre lang hatten sich CDU und CSU vor allem aus ordnungspolitischen Gründen gegen ein entsprechendes Instrument gesträubt und auf die Zuständigkeit der Tarifpartner verwiesen. Schließlich gab die Union mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze dem Drängen ihres damaligen Koalitionspartners SPD aber nach, sodass zum 1. Januar 2015 ein Mindestlohn von zunächst 8,50 Euro eingeführt wurde. Und während die SPD schon im vergangenen Bundestagswahlkampf forderte, die Lohnuntergrenze auf zwölf Euro zu erhöhen, hielt die Union dagegen.
Seit der Unionsklatsche bei der Bundestagswahl aber hat sich manches geändert bei den Schwesterparteien, unter anderem der Blick auf die Arbeits- und Sozialpolitik – und das, obwohl mit Merz jemand zum CDU-Vorsitzenden und Chef der Unions-Bundestagsfraktion gewählt wurde, der eben den Wirtschaftsflügel seiner Partei vertrat. Jedenfalls hieß es in der sogenannten Kölner Erklärung, die vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen von den Präsidien von CDU und CSU verabschiedet wurde: Aufgrund der aktuellen Entwicklungen sei es »richtig, dass in dieser Zeit der Inflation der Mindestlohn erhöht wird«. Und der alte und wohl neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst sprach sich sogar explizit für eine Steigerung auf zwölf Euro aus.
Prozess der Selbstfindung
Auch die Arbeitnehmergruppierungen der Unionsparteien taten dies, Mitte Mai positionierte sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ebenfalls so und empfahl seiner Fraktion die Zustimmung zum entsprechenden Ampelgesetz. Prinzipien hin oder her, etwas anderes sei in diesen Zeiten nicht vermittelbar, so seine Argumentation. Dobrindt ist der Verbindungsmann von CSU-Chef Markus Söder nach Berlin, deshalb war in diesem Moment klar: Auch der bayerische Ministerpräsident ist für Zustimmung.
Dann aber, so ist zu hören, seien die Wirtschaftspolitiker der CDU auf die Zinne gegangen. Und Fraktionschef Merz geriet ausgerechnet vonseiten seiner größten Fans unter erheblichen Druck.
Die Causa Mindestlohn ist auch deshalb so relevant, weil sie mitten die Zeit des christdemokratischen Selbstfindungsprozesses fällt. Die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm hat gerade begonnen, verschriftlicht ist bisher nur die Präambel. Bereits darin heißt es jedoch, die CDU sei »christlich-sozial«, man wolle Eigenverantwortung und Sozialstaat »in Balance« bringen. Die Partei will sich einen neuen Anstrich geben, am liebsten einen, der nicht mehr vorrangig nur der Wirtschaft gefällt. Als Partei und als Gesellschaft müssen wir den sozialen Fragen dringend mehr Aufmerks4amkeit widmen«, erklärte Generalsekretär Mario Czaja kürzlich in einem Interview mit der »taz«.
Keine Anhebung ohne Reform
»Wir können nicht nur Politik für die oberen 60 Prozent machen«, sagt auch der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker. Er arbeitet in der Gruppe »Soziale Sicherung« am neuen Grundsatzprogramm mit. Wie viele Sozialpolitiker in seiner Partei hat Whittaker bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass die CDU sozialen Themen mehr Raum geben muss. Bisher stieß man damit aber häufig auf taube Ohren. »Innerparteiliche Kompromisse bei sozialpolitischen Themen zu finden, war in den vergangenen Jahren oft sehr schwierig«, sagt Whittaker. Nun soll das neue Grundsatzprogramm Kompromisse finden, die sozialpolitischen Leerstellen füllen. Bei der Abstimmung zum Mindestlohn will man sich im Bundestag dennoch zurückhalten.
CDU-Abgeordneter Whittaker: Nicht nur Politik für die »oberen 60 Prozent«
Foto: Christian Spicker / imago images
In der Unionsfraktion kam es zu Beginn der Woche zur entscheidenden Sitzung in der Mindestlohn-Frage: In einer Runde mit dem Fraktionsvorsitzenden Merz und Landesgruppenchef Dobrindt kam man schließlich überein, sich am Freitag im Plenum zu enthalten. In dieser Runde habe Einigkeit geherrscht. »Eine politische Anhebung des Mindestlohns ohne Reform der zuständigen Kommission greift zu kurz«, erklärt der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Axel Knoerig, zu dem Beschluss. Die Kommission müsse den Mindestlohn vor allem öfter anpassen als alle zwei Jahre. »Sonst haben wir in Zukunft wieder dieselben Probleme.«
Als Dobrindt diese Positionierung jedoch anschließend in der Sitzung der CSU-Abgeordneten verkündete, war die Überraschung groß, so wird berichtet. Und nach wie vor sind bis in die Führung hinein bei den Christsozialen nicht alle glücklich mit der Entscheidung. Volker Ullrich, Chef des CSU-Arbeitnehmerflügels, sagt: »Ich hätte mir eine Zustimmung im Plenum gut vorstellen können.« Eine Sichtweise, die dem Vernehmen nach auch von einem Teil der CDU-Abgeordneten geteilt wird.
Komplexität statt einfachem Versprechen
Wie eine Oppositionsfraktion sich zu einem Thema verhält, bei dem ihre Stimmen – wie in diesem Fall – nicht benötigt werden, ist natürlich eigentlich ziemlich egal. Aber beim Mindestlohn geht es eben um eine wichtige inhaltliche Positionierung – und zudem um die Glaubwürdigkeit von CDU und CSU. Auch deshalb ist das Gegrummel in Teilen der Fraktion so deutlich vernehmbar.
Was, wenn die SPD, die die Forderung nach zwölf Euro Mindestlohn schon im letzten Bundestagswahlkampf als einen ihrer Schlager identifizierte hatte, die Sache künftig umdreht? Nach dem Motto: Wir, die Sozialdemokraten, haben die zwölf Euro durchgeboxt – die Union dagegen, hat sich mal wieder nicht getraut. Denn Enthaltung ist am Ende beides: kein Nein, aber eben auch kein Ja. Dass die Union sich vor allem am Weg zu den zwölf Euro an der Mindestlohnkommission vorbei stört, steht dann höchstens im Kleingedruckten.
Oder wie der Sozialpolitiker Whittaker es formuliert: In der Regierung habe die Union eigentlich wichtige sozialpolitische Projekte vorangebracht, im Bereich Rente etwa. »Aber solche Erfolge gingen trotzdem immer mit der SPD nach Hause.« Ähnliches dürfte der Union nun auch blühen: Obwohl man für eine Anhebung des Mindestlohns ist – als Erfolg für sich wird die Union diese nicht verbuchen können.