1. Ist der Bundestag die bessere Talkshow?
Eine gründliche Aussprache ist immer eine gute Sache, nur nennt man sie in Beziehungen eher nicht Generaldebatte – ein Wort, das der politischen Sphäre vorbehalten ist und offenkundig wieder Sinn ergibt. Zumindest ist das ein Verdacht, den meine Kollegen Sebastian Fischer und Kevin Hagen äußern.
Sie haben den Schlagabtausch im Reichstag begleitet und schreiben in einem ersten Resümee : »Scholz hat mit Merz in einer solchen Generaldebatte den nahezu perfekten Partner: rhetorisch stark, demokratisch scharf. Vorgängerin Angela Merkel konnte in ihren letzten Amtsjahren weder mit dem einen noch mit dem anderen rechnen.«
Im Kern geht es bei den Anwürfen von Friedrich Merz um den zaghaften bis schwammigen Umgang des Kanzlers mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Aber auch darum, Scholz habe gewiss bereits eine feine Rede vorbereitet. Der reagierte mit sechs Minuten freier Rede, bevor er sich über sein Manuskript beugte. (Hier das Video.)
Um die Scholz’sche Rhetorik scheint es besser bestellt zu sein als um den Merkel’schen Humor. Im »kleinen Kreis« begeisternd, glühend, mitreißend. In der Breitenwirkung hernach die Totalverpuffung. Hier zumindest haben meine Kollegen den Ansatz einer Mikrozeitenwende ausgemacht – und einen Scholz im Angriffsmodus erlebt.
So bezeichnete er das Sondervermögen für die Bundeswehr als »mutige Entscheidung. Weil Sie nur fragend durch die Landschaft getänzelt sind, lieber Herr Merz«. Ein solcher Satz ist zwar weit entfernt von den rustikalen Robustheiten eines Wehner oder Strauß. Dennoch lässt die Aussprache heute hoffen, dass die politische Rede wieder dahin zurückkehrt, wo sie hingehört. Raus aus dem Studio, rein ins Parlament.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Kanzler der Offensive
2. Ist Sylt noch zu retten?
Ohne Reservierung ist der sicherste Platz im ICE auf dem Gang, gleich vor der Tür. Unreservierte Plätze gibt es nicht mehr; nur solche, die man »gegebenenfalls freigeben« muss. Also immer. Stress pur. Vor der Tür aber kann man immerhin ein Bein auf der Treppe abstellen, hat, wenn’s kalt ist, den Rücken schön vor den Rippen der Heizlüftung – und darf in Fulda, Kassel, Göttingen, Braunschweig und so weiter jeweils aufstehen, um Menschen mit Sitzplatzreservierung ein- oder aussteigen zu lassen. Das ist gut für die Durchblutung.
Seit dem Morgen hat nun die Deutsche Bahn ein eigenes Durchblutungsprogramm für ihr Streckennetz begonnen, vor allem die kleinen, verschlafenen Abschnitte. Mit dem 9-Euro-Ticket, so will es Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), wird endlich das ganze Land die Vorzüge des Schienenfernverkehrs zu schätzen lernen. Wesentlich aber ist, was als Verkehrswendebeschleuniger gedacht sein mag, nichts anderes als ein Sonderangebot. Greifen Sie zu! Noch bis zum 31. August!
Erinnerungen werden wach an Interrail der Achtziger- oder das Schönes-Wochenende-Ticket der Neunzigerjahre. Wissing wertet es als »Erfolg, dass wir jetzt schon sieben Millionen Tickets verkauft haben«. Das Ticket sei »längst in den Herzen der Bürgerinnen und Bürger angekommen«. Bislang federt die Bahn den Andrang locker ab.
Ungewiss ist, wie sich all das auf Sylt auswirken wird. Aus irgendwelchen Gründen hat sich die Erzählung Bahn gebrochen, nun würden zombiehafte Horden von Geringverdienern (mit dem 9-Euro-Ticket im Herzen und der Revolution im Kopf) das idyllische Eiland stürmen – als wäre das bisher nur per Privatjet erreichbar gewesen.
Ich tippe mal: »Das wird nie etwas«, wie schon Lenin bemerkt haben soll, denn »wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!«. Ein Sonderangebot wird die Verhältnisse nicht auf den Kopf stellen.
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Hier mehr zum Thema: Zwölf Bahn-Tipps für (Wieder-)Einsteiger
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Die Deutschen und das 9-Euro-Ticket: »Ist hier noch frei?« – »Ungern«
3. Ist Russland in Gefahr?
In der Generaldebatte ist Olaf nicht nur auf das 9-Euro-Ticket eingegangen. Auch ein anderes Großthema unserer Zeit fand Erwähnung – Russlands Krieg gegen die Ukraine und was Deutschland da liefertechnisch zu tun gedenkt; oder eben nicht. Wie man hört, steht die Ukraine gerade im Osten unter Druck.
Erleichterung schaffen könnte hier ein von 1990 stammendes Produkt der Traditionsmarke Krauss-Maffei-Wegmann: der Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II. Mehrfachraketenwerfer, weil er binnen 60 Sekunden bis zu zwölf Flugkörper bis zu 40 Kilometer weit werfen kann. Im Verein mit einem modernen Flugabwehrsystem sowie einem Ortungssystem für feindliche Artilleriestellen ist das schon ein bisschen mehr als nichts.
Vermutlich zum Leidwesen der Linkenchefin Janine Wissler, die im SPIEGEL-»Spitzengespräch« zu Protokoll gegeben hatte: »Wenn wir weiter Waffen und schweres Gerät liefern, wird dieser Krieg auch nicht in kurzer Zeit zu Ende sein.« Möglicherweise wäre er ja in kurzer Zeit zu Ende, und zwar zugunsten der Aggressoren, lieferten wir diese Waffen gerade nicht. Es ist kompliziert. Oder eben gerade nicht?
Sachen, die weit werfen, liefern auch die USA, und zwar einen – sieh an! – Mehrfachraketenwerfer mit einstellbaren Reichweiten von 32 bis 300 Kilometern. Bedingung für die Lieferung sei laut Pentagon eine Zusage der Ukraine gewesen, damit keine Ziele auf russischem Territorium anzugreifen. Auch der Kanzler hob diese Zusage in seiner Haushaltsrede hervor. Es haben also, weiteren und schweren Waffen zum Trotz, russische Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin keinen Grund zur Sorge.
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Neben versprochenem Luftabwehrsystem: Deutschland will auch Mehrfachraketenwerfer in die Ukraine schicken
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Sie zielen auf einen einzelnen Gegner – und zerstören ganze Straßenzüge: Das Feuer der russischen Artillerie war offenbar zu stark: Die ukrainische Armee hat die Stadt Sjewjerodonezk im Osten weitgehend aufgegeben. Was bedeutet der Geländegewinn für Putin?
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Estlands Regierungschefin berichtet von »hitziger Debatte« über Putin-Anrufe: Kanzler Scholz will ein rasches Ende des Ukrainekrieges – am besten mit diplomatischen Mitteln. Doch beim EU-Gipfel hat die estnische Premierministerin Kallas den Sinn von Telefonaten mit Putin erneut infrage gestellt.
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Das Ende des Ostblocks: Der Streit über das europäische Ölembargo hat die Gegensätze zwischen den östlichen EU-Ländern deutlich gemacht: Besonders die alten Partner Ungarn und Polen sind immer öfter unterschiedlicher Meinung .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
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Was heute sonst noch wichtig ist
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US-Präsident Biden bittet Neuseelands Regierungschefin Ardern um Rat: Nach dem Massaker von Uvalde will US-Präsident Joe Biden dringend halb automatische Sturmgewehre verbieten lassen, scheitert aber bisher. Hilfe sucht er jetzt bei der neuseeländischen Regierung.
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Australien erlebt schwere Grippewelle nach Coronalockerungen: Auf der Südhalbkugel bricht der Winter herein: Während die Grippewelle in den vergangenen zwei Jahren ausgefallen ist, steigen die Influenzafälle in Australien stark an. Das könnte auch auf Europa zukommen.
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Gesuchte Impfgegner melden sich per Videobotschaft: Die Impfgegner, die ihre Kinder aus früheren Beziehungen heimlich nach Paraguay mitnahmen, haben nun nach Monaten ein erstes Lebenszeichen gesendet: In einem Video fordern sie, dass die Suche nach ihnen eingestellt wird.
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Flughäfen in Paris und Hamburg melden Verzögerungen: Chaos schon vor Pfingsten: Am Hamburger Flughafen bleiben Flieger am Boden – wegen polizeilicher Ermittlungen. In Paris gibt es Softwareprobleme, auch die Eurostar-Betreiber melden Verzögerungen.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
…hat mit dem jüngsten Massaker an einer US-Schule zu tun. Zwar hat so manches Land seine ganz eigenen Splitter im Auge (lookin’ at you, Deutschland, mit deiner »freien Fahrt für freie Bürger«), aber der Balken im Auge der Vereinigten Staaten ist eindeutig das Waffenrecht. Der dafür verantwortliche zweite Zusatzartikel der Verfassung (»Second Amendment«) stammt aus einer Zeit, als man noch fünf Minuten zum Nachladen irgendwelcher Flinten brauchte.
Wenn Bürgerinnen und Bürger der USA sich das Recht auf hochmoderne Sturmgewehre höchstens »out of my cold dead hands« (Charlton Heston) nehmen lassen, ist das auch der Lobbyarbeit der National Rifle Association (NRA) zu verdanken. Die trat nun, nach Uvalde, erneut zu einem Kongress zusammen. Geredet hat dabei auch ein Mann, dessen Einlassungen bereits millionenfach im Internet angeschaut wurden.
»Ich will sagen, dass mich die linken Medien krank machen«, hob er an und fuhr fort: »Vielleicht würden diese Schießereien aufhören, wenn wir alle etwas mehr denken würden. Und wir alle etwas mehr beten würden.« Und: »Ich rufe euch alle auf zu denken. Zu beten. Gebt eure Gedanken und Gebete. Und eure Gedanken und Gebete. Und eure Gebete und Gedanken«.
Der Sprecher war der Comedian Jason Selvig, der damit das landestypische Wegbeten von Knochensplittern und Blutspritzern aufs Korn nehmen wollte. Das Video ist deshalb sehenswert, weil hier die maximale Reichweite satirischer Interventionen deutlich wird. Der Mann schichtet Unsinn auf Unsinn, erntet aber unter den ansonsten leicht entflammbaren Waffenfreunden keinerlei Protest. Einfach, weil ihnen Gedanken und Gebete sehr vertraut zu sein scheinen.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: US-Comedian schleicht sich auf NRA-Kongress – und führt Waffenlobbyisten mit satirischer Rede vor
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Cheers! Ein Land steht kopf. Das Vereinigte Königreich feiert zu Ehren von Elizabeth II. die Mutter aller Partys. Aber bei allem Jubel – über dem viertägigen Fest schwebt auch ein Hauch von Abschied .
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So macht die Mineralölindustrie Kasse: Die Steuersenkung auf Sprit ist da – aber zuvor sind die Preise für Benzin und Diesel noch mal kräftig gestiegen. Eine Datenanalyse zeigt: Die Gewinnmargen der Mineralölwirtschaft schießen bereits seit März in die Höhe .
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Typisch Deutsche Bank: Seit Monaten türmen sich die Vorwürfe gegen den Chef der Fondsgesellschaft DWS. Dass die Deutsche Bank ihn erst jetzt austauscht, zeigt, wie unbelehrbar sie ist.
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Der Sound der E-Gitarre schallt mal wieder durch Paris: Viele sahen in Novak Djoković den Favoriten, selbst gegen den Seriensieger der French Open Rafael Nadal. Der nahm die Außenseiterrolle an und triumphierte. Nur: Wie lange macht der Fuß noch mit?
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Von »Scheißfragen« und »Drecksfragen«: Im Podcast mit seinem Bruder Felix spricht Toni Kroos über den Gewinn der Champions League mit Real Madrid und ist immer noch verstimmt über ZDF-Interviewer Nils Kaben – auch über dessen SPIEGEL-Interview .
Was heute weniger wichtig ist
Steht unter Druck – und am Wickeltisch: Der dem Feiern nicht abgeneigte britische Premier Boris Johnson, 57, hat sich zu seinen elterlichen Qualitäten geäußert. Als mehrfacher Vater könne er zügig wickeln. »Ich kann Ihnen sagen, dass ich in letzter Zeit sehr viele Windeln gewechselt habe«, sagte Johnson am Mittwoch bei einer Fragerunde des Mütterportals »Mumsnet« : »Ich bin übrigens sehr schnell darin.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »›Das ist sehr emotional für mich‹, sagte der Nadal nach Spiel.«
Cartoon des Tages: undicht
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Es böte sich für jene, die dafür ein Ohr haben, so etwas wie ein musikalischer Museumsbesuch auf Arte an. Die Dokumentation »Traumwandler des Pop« erzählt von einem Duo, das zwar weltberühmt, leider aber auch leicht unterbewertet ist: Simon & Garfunkel. Ja ja, genau die Simon & Garfunkel, deren Lieder früher gern zu Räucherstäbchen, Teelicht und grünem Tee gehört wurden. Oder war das Leonard Cohen?
Jedenfalls haben ihre Lieder mühelos den »Test der Zeit« bestanden und wirken auch nach über einem halben Jahrhundert so frisch, als wären sie gerade von Neohippies erfunden worden. Über die Gründe dafür referieren nicht nur Paul Simon und Art Garfunkel höchstpersönlich. Es erklärt auch ihr Produzent Roy Halee, wo er für »The Boxer« den hallenden Chorgesang (St. Paul’s Chapel in Manhattan) oder den wuchtigen Schlagzeugsound hat aufnehmen lassen (im Gebäude der Plattenfirma Columbia, auf dem Gang vor den Fahrstühlen).
Es geht um den rhythmischen Loop in »Cecilia«, die Brücke über aufgewühlte Wasser, Johann Sebastian Bach und die Freundschaft zwischen zwei Musikern – für deren legendär zauberhafte Zweistimmigkeit es ebenfalls eine studiotricktechnische Erklärung gibt.
Wen das Hin und Her zwischen grobkörnigen Archivaufnahmen der beiden »Only Living Boys in New York« (hach!) und aktuellen Interviews mit den gealterten (huch!) Heroen nicht sentimental stimmt, kann mit Folk vermutlich ohnehin nichts anfangen – und wird auf eine Motörhead- oder Sex-Pistols-Doku warten müssen.
So long, Frank Lloyd Wright, und einen schönen Abend wünscht
Ihr Arno Frank
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