Ein bisschen wie Woodstock
Vor vielen Jahren bin ich als Tourist in Tokio U-Bahn gefahren. Ich wurde zwar nicht von Männern in weißen Handschuhen in den Wagen gestopft, extrem eng war es trotzdem. Ich war froh, als es vorbei war.
Vielleicht stehen Sie gerade auch einquetscht auf irgendeinem Gleis in Deutschland, schnappen nach Luft und bereuen es schon, stolze Besitzerin, stolzer Besitzer eines Neun-Euro-Tickets zu sein. Vielleicht aber ist auch alles halb so schlimm.
U-Bahn-Drücker in Tokio (Archivbild)
Foto: Kim Kyung Hoon / REUTERS
Es ist vermutlich die größte Schnäppchenaktion Deutschlands und ein großes Experiment: Sieben Millionen Monatstickets zum Discounterpreis wurden bislang verkauft, hinzu kommen die Besitzer eines Zeitkartenabos, dessen Kosten automatisch für die nächsten drei Monate reduziert werden.
Insgesamt, so schätzen Experten, werden von Juni bis August 30 Millionen Deutsche zum Billigtarif quer durch Deutschland gondeln. Ein bisschen wie Woodstock, sagte kürzlich ein Bahnfunktionär. Vielleicht nicht ganz so verkifft.
Ich kann dieser Spontanaktion durchaus etwas abgewinnen: Sie entlastet die Menschen und macht ihnen womöglich Lust aufs Pendeln und Reisen in Bus und Bahn. Ich verstehe allerdings nicht, welches langfristige Ziel dahinterstehen soll. Geht es nur ums Geld? Ein kleines Bonbon für das immer teurer werdende Leben?
Oder geht es auch darum, mehr Menschen dauerhaft an den ÖPNV zu binden, damit Deutschland seine Klimaziele schneller erreicht? Das wäre sinnvoll, dann aber müsste es mehr geben als ein Strohfeuer, das drei Monate flackert: weitere Rabatte, eine schnellere Taktung, mehr Strecken, mehr Züge. Etwas, das dauerhaft lockt; etwas, das anhält.
Andernfalls könnte sich der Effekt ins Gegenteil des Gewünschten verkehren. Wer einmal wie eine Sardine an die Ostsee gereist ist, sagt sich vielleicht: Nie wieder – ab jetzt nur noch im SUV!
Doch statt zu überlegen, wie man die neu gewonnenen Kundinnen und Kunden bei Laune halten kann, wollen sich die Verkehrsminister von Bund und Ländern erst mal Zeit lassen. Es soll eine Marktforschung zum Neun-Euro-Ticket geben, eine Evaluation, einen Arbeitskreis. Am Ende soll ein neuer Mobilitätspakt zwischen Bund und Ländern herauskommen. Das klingt bürokratisch und langatmig. Wenn uns aber der Klimawandel eines gelehrt hat, dann dies: Wir haben keine Zeit.
Welche Erlebnisse hatten Sie heute mit dem Neun-Euro-Ticket? Welche Erfahrung haben Sie generell mit dem Bahnfahren? Schreiben Sie mir gern: martin.knobbe@spiegel.de . Die Auswertung gibt es morgen an dieser Stelle.
Deutschland einig Prepperland
Ich gestehe, dass ich bis heute die Empfehlung des Innenministeriums ignoriere, sich daheim für zehn Tage mit Essen und Trinken einzudecken. Als Gelegenheiten, in denen das sinnvoll sein könnte, werden genannt: ein massiver Stromausfall, eine neue Pandemie, ein extremes Unwetter. Szenarien, die wir vor wenigen Jahren für fast undenkbar gehalten haben und die heute zur Wirklichkeit gehören.
Das Wort Katastrophe hat eine neue Qualität bekommen. Unser Blick auf all jene, die sich mit Krisenszenarien beschäftigen, hat sich verändert. Die Krisen der jüngeren Vergangenheit, die Pandemie, das Hochwasser, der nahe Krieg, haben offenbart, wie schlecht der deutsche Föderalismus auf den Ernstfall vorbereitet ist.
Vorratsbeispiel – reicht für zehn Tage
Foto: Jochen Tack / imago images/Jochen Tack
Heute treffen sich die Innenministerinnen und Innenminister von Bund und Ländern in Würzburg und wollen unter anderem ein »Gemeinsames Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz« gründen. Hier sollen die Verantwortlichen auf unterschiedlichsten Ebenen besser zusammenarbeiten.
Die Federführung könnte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe innehaben, das dieser Tage einen neuen Chef bekommen soll: Ralph Tiesler, bislang Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft.
Auf den Dächern sollen außerdem wieder Alarmsirenen installiert und allerorten Bunker instandgesetzt werden. Das Kriegsszenario ist real geworden.
All das wird Geld kosten. Wie mein Kollege Wolf Wiedmann-Schmidt herausgefunden hat, fordert der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius in einem Beschlussvorschlag für das Treffen im Namen der SPD-regierten Länder 10 Milliarden Euro für den Aufbau einer Katastropheninfrastruktur, unter anderem für eine »Nationale Reserve Notstrom«.
Die CDU-regierten Länder fordern vom Bund die gleiche Summe, etwa für eine »Präventionskampagne zur Stärkung des Gefahrenbewusstseins und zur Selbsthilfetätigkeit der Bevölkerung«. Damit auch Menschen wie ich endlich die Vorratskammer auffüllen.
Chance auf Befreiungsschlag
Welche Rede von Olaf Scholz ist Ihnen in Erinnerung?
Die zur Zeitenwende, klar. Die Bazooka in der Pandemie, der Wumms. Und dann?
Der Kanzler pflegt eine sehr eigenwillige Sprache. Nur manchmal gelingt es ihm, sie so zu bündeln und zu pointieren, dass seine Worte am Ende massentauglich sind und in Erinnerung bleiben.
Kanzler Scholz in Brüssel
Foto: JOHN THYS / AFP
Heute hält Scholz wieder eine Rede. Im Bundestag findet die traditionelle Generalaussprache zum Haushalt statt. Man darf davon ausgehen, dass es in der vierstündigen Debatte zu einem großen Teil um schwere Waffen geht, den aktuellen Symbolbegriff zum Krieg.
Der Kanzler wird vermutlich versuchen, das Narrativ seiner Kritiker, wonach er viel verspreche, aber nichts liefere, zu kontern. Er wird auf bereits Geliefertes verweisen und womöglich neue Lieferungen ankündigen. Er wird, wenn er es vermag, eine Rede halten, an die man sich erinnert.
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Gewinnerin des Tages…
Merkel, Hoffmann (2016)
Foto: Maurizio Gambarini / dpa
… ist Angela Merkel, die sich seit ihrem Amtsende im selbst gewählten Nirwana befindet. Keiner weiß so recht, was sie macht. Sie arbeitet angeblich an ihren Memoiren und liebäugelt, so raunt man, mit einer Gastprofessur im Ausland, am liebsten an einer amerikanischen Eliteuni. Merkel hat den Begriff des Abklingbeckens nach einer politischen Amtszeit idealtypisch definiert.
Heute aber absolviert Merkel eine Premiere: Sie tritt auf – und hält eine Abschiedsrede für den scheidenden DGB-Chef Reiner Hoffmann. Als Generalprobe sozusagen, denn in den kommenden Wochen ist noch der eine oder andere Auftritt Merkels angedacht.
Wann sie wohl das erste Mal »Russland« in den Mund nimmt?
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Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Mittwoch!
Ihr Martin Knobbe