ica Rosenthal: >>Ein Sondervermogen allein fur die Bundeswehr greift viel zu kurz<< //
Mitte April sass ich im Wohnzimmer einer Studi-WG in meinem Bonner Wahlkreis, als der Satz fiel, der mir aus dem Herzen sprach: >>In diesem Moment ist fur mich eine ganze Welt zusammengebrochen.<< Das war sechs Wochen nach dem volkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, nach der >>Zeitenwende<<, die Olaf Scholz in einer Sonntagssitzung des Bundestages ausgerufen hatte, und nachdem alles einfach anders war. Fur eine Generation, die wie ich 1992 oder spater in Deutschland geboren wurde, bedeutet ein Angriffskrieg vor der Haustur, auf europaischem Boden, einen tiefen Einschnitt. Viele, die vom Krieg auf dem Balkan nicht direkt betroffen waren, haben an ihn nur eine vage Erinnerung. Frieden und Freiheit sind zu einer Selbstverstandlichkeit geworden. Krieg, das war immer woanders.
Dass allein diese Feststellung kaum auf die Vielen zutrifft, die ihre familiaren Wurzeln in anderen Landern haben, ist ein erster Teil der Erkenntnis. Ein zweiter Teil ist: Wir waren viel zu oft blind fur das, was wir nicht sehen wollten. Daher bedeutet Zeitenwende vor allem eins: Selbstkritik. Die deutsche Politik hat ihren ostlichen Partnerlandern nicht zugehort, die eindringlich vor der Gefahr warnten, die von Russland ausging. Die deutsche Politik, wir alle, haben den Krieg in Georgien und die Annexion der Krim nie als den Einschnitt bewertet, der es war. Und auch die Sozialdemokratie hat die Abhangigkeit von russischem Gas in den folgenden Jahren sogar noch gesteigert und Nord Stream 2 gegen die Wunsche unserer europaischen Partnerstaaten vorangetrieben. Wir stehen nun vor einem Scherbenhaufen. Wer es in Zukunft besser machen will, muss die Starke haben, diese Fehler zu korrigieren. Das gilt auch fur die SPD.
Es besser zu machen, bedeutet auch, der Ukraine zuzuhoren, die auch deshalb angegriffen wird, weil sie sich aufgemacht hat, Teil der EU zu sein. Den Kandidatenstatus der Ukraine jetzt nicht ausdrucklich voranzutreiben, zeigt: Man hat nichts gelernt. Ich erwarte von der deutschen Bundesregierung, dass sie diese ausgestreckte Hand jetzt ergreift.
Jessica Rosenthal, geboren 1992 im niedersachsischen Hameln, ist seit Januar 2021 Juso-Bundesvorsitzende. Die Sozialdemokratin ist Bundestagsabgeordnete und gehort dem Parteivorstand an.
Selbstkritik zu uben, das heisst in meinen Augen aber gerade nicht, die Fehler nur bei anderen zu suchen. Nicht ohne Grund habe ich das Gefuhl meines Gesprachspartners in der Studi-WG geteilt: Auch fur mich ist mit diesem Angriffskrieg zunachst ein Weltbild zusammengebrochen. Es war eine Welt ohne Waffen und die Bundeswehr ein notwendiges Ubel darin. Nichts davon war falsch. Es bleibt richtig eine Welt ohne Waffen, ohne Gewalt und in Frieden anzustreben. Es ist mittel- und langfristig sogar dringend notwendig im Sinne der Menschheit auf Szenarien der Abrustung hinzuarbeiten. Aber all diese Uberzeugungen haben nie ernsthaft die Moglichkeit in Betracht gezogen, dass Autokraten wie Putin Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen. Die Frage, wie wir darauf reagieren wurden, habe ich mir fruher nie gestellt. Das bleibt der Fehler. Gerade wenn die gesellschaftliche Linke eine bestandige Friedensordnung schaffen will, gehort die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Verteidigungsfahigkeit unserer Demokratien mitten ins Zentrum der inhaltlichen Arbeit. Daher lehne ich ein Sondervermogen fur die Bundeswehr auch nicht aus Prinzip ab, sondern weil die Umgehung der Schuldenbremse durch die Grundgesetzanderung fur das Militar eine zu kleine Losung fur ein viel grosseres Problem ist.
Eine Mehrheit der Staaten hat den volkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilt. Das ist eine gute Nachricht. Doch die bittere Wahrheit ist, dass die Mehrheit der Weltbevolkerung nicht in Demokratien lebt. Umso wichtiger und entscheidender ist es, dass wir fahig sind, unsere Werte und unsere Freiheit verteidigen zu konnen – falls notig auch militarisch. Auch darum geht es bei dem Krieg, den Russland fuhrt. Die Autokraten dieser Welt haben vor nichts mehr Angst als vor der Idee der Freiheit, der Gleichheit aller Menschen und der Demokratie, weil nichts ihre Macht starker bedroht.
Wer Demokratie und Menschenrechte gegen Autokraten nach innen wie nach aussen verteidigen will, der kann und darf sich weder auf westliche Regionen noch auf den militarischen Bereich beschranken. Denn so sehr ich auf der einen Seite Grunduberzeugungen auf den Prufstand stelle, so sehr bin ich auf der anderen Seite fest davon uberzeugt, dass es noch nie wichtiger war, fur eine progressive Politik einzustehen: fur globale wie nationale Umverteilung, fur breite Investitionen in Deutschland, der EU und der Welt, fur einen entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel und die Bekampfung weltweiter Armut. Ein Sondervermogen allein fur die Bundeswehr greift dafur viel zu kurz.
Nie zuvor war ein europaisches Handeln so wichtig und nie zuvor war es so notwendig, dass Deutschland endlich eine fuhrende Rolle in der EU ubernimmt. Denn auch dem Letzten sollte klar geworden sein, dass die Starkung der europaischen Lieferketten eine Sicherheitsfrage ist. Schlusselindustrien durfen nicht allein den Markten preisgegeben werden, um dann in einer von China dominierten Wirtschaft zu erwachen. Es ist endlich Zeit fur eine europaische Investitionsoffensive und eine aktive Industriepolitik. Es gilt, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, Industrie anzusiedeln und vorhandene Wirtschaftszweige von fossilen Energietragern in autokratischer Hand unabhangig zu machen. Fur diese Unabhangigkeit gibt es nur eine einzige Antwort: erneuerbare Energien!
Die Entwicklung eines klimaneutralen Europaischen Wirtschaftsraums, der mithilfe von Kreislaufwirtschaft ressourcenschonend und damit moglichst autark bestehen kann, kostet Geld. Dieses Geld wird auch benotigt, wenn Europa fur afrikanische Staaten ein echter wirtschaftlicher Partner sein und den afrikanischen Kontinent nicht der Einflusssphare Chinas uberlassen will. Schliesslich werden der Wiederaufbau der Ukraine und die Bewaltigung der globalen Hungerkrise weitere Gelder notwendig machen. Doch anstatt diesen Herausforderungen entschlossen entgegenzutreten, feilschen wir um jeden zusatzlichen Euro fur die Entwicklungszusammenarbeit und wissen schon jetzt, dass das Geld nicht reichen wird. Ohne die Schuldenbremse, die uns in so vielen Bereichen dringend notwendige Investitionen unmoglich macht, brauchten wir kein Sondervermogen fur die Bundeswehr.
>>Unsere Demokratie ist auch nach innen verletzlich<<
Demokratie muss nach aussen, aber eben auch nach innen verteidigt werden. Unsere Demokratie ist auch nach innen verletzlich und Teile der Bevolkerung haben in sie immer weniger Vertrauen, das zeigt auch die historisch niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in NRW.
Die immer sichtbarer werdende Umverteilung von unten nach oben leistet unzweifelhaft einen entscheidenden Beitrag zu dieser Abwendung von der Demokratie. Die Belastungen durch steigende Energie- und Lebensmittelpreise treffen gerade die, die ohnehin schon wenig haben und die vom voranschreitenden Wandel in der Arbeitswelt, ob durch Digitalisierung oder Globalisierung, nichts Positives mehr erwarten. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, der das Fundament fur eine starke und wehrhafte Demokratie ist, erodiert so immer weiter.
Was sollen wir antworten, wenn Pflegekrafte fragen, warum 100 Milliarden Euro fur die Bundeswehr da sind, aber kein Geld fur bessere Bezahlung oder eine ausfinanzierte Krankenhausinfrastruktur. Es ist absolut nachvollziehbar, wenn Eltern danach fragen, warum ihre Kinder die Schultoilette nicht benutzen wollen, weil angeblich kein Geld fur die Sanierung da sei. Die ehrliche Antwort darauf ist: Geld ist da – bei denjenigen, die gar nicht mehr wissen, wohin damit und auch im Staatshaushalt. Wir aber halten lieber die Schuldenbremse ein, anstatt in unsere Gesellschaft zu investieren.
Gerade angesichts der zunehmenden Belastungen durch den Krieg in der Ukraine kann die Antwort doch nur sein: Wir sind gerade jetzt bereit, zusatzliches Geld auch auszugeben. Fur weitere Entlastungspakete, die unzweifelhaft notig sind, aber auch fur die vielen strukturellen Veranderungen, die wir endlich umsetzen mussen. Wer den Zusammenhalt langfristig starken und die Demokratie nach innen wehrhaft machen will, der kann und muss grosse Losungen wahlen. Die Abflachung der Steuerprogression gerade fur kleine und mittlere Einkommen, die Einfuhrung eines sozialen Klimageldes, kostenfreien Nahverkehrs, der Kindergrundsicherung: Politik muss zeigen, dass wir zu grossen Schritten bereit und dass wir handlungsfahig sind – fur die Bundeswehr, aber auch fur unsere Gesellschaft als Ganzes. Dafur braucht der Staat den finanziellen Handlungsspielraum, der mit einer Schuldenbremse nicht gegeben ist. Er braucht aber auch den Mut zur Umverteilung – zum Beispiel durch eine Erhohung der Erbschaftsteuer.
Wer >>Zeitenwende<< sagt, muss Zeitenwende meinen. Es darf kein Mantra sein, das nur die Bundeswehr, aber nicht die gesamte Wehrhaftigkeit der Demokratie nach aussen wie nach innen meint. Der 24. Februar hat mir und meiner Partei Selbstkritik abverlangt und eine Kurskorrektur. Der 24. Februar verlangt Gleiches von der FDP, aber auch von der Union. Das Sondervermogen wird geschaffen, weil die Bundeswehr in 16 Jahren unionsgefuhrtem Verteidigungsministerium kaputtgespart wurde und fur ihren Auftrag nicht einsatzfahig ist. Deshalb braucht die Bundeswehr naturlich nun viel Geld, um die Mangelverwaltung der vergangenen 16 Jahre aufzufangen und eine zeitgemasse Ausrustung herzustellen. Doch viele Milliarden allein werden die Einsatzfahigkeit der Bundeswehr nicht wiederherstellen konnen. Auch das Beschaffungswesen muss einer grundlichen Reform unterzogen werden, alles Geld verpufft sonst ohne den gewunschten Effekt, die Bundeswehr kunftig militarisch besser auszurusten. Vor allem aber mussen wir strategische Debatten wie um das Zwei-Prozent-Ziel und eine strategische Aufstellung der Bundeswehr endlich miteinander gesellschaftlich wie parlamentarisch fuhren. Nur so konnen wir gemeinsam tragfahige Antworten auf die Herausforderungen dieser Zeitenwende finden.
Wenn wir als Parlamentarier*innen unsere Demokratie wehrhaft aufstellen wollen, dann mussen wir alle auch den notwendigen Mut dafur aufbringen, Prinzipien, die wir einst fur richtig hielten, nach kritischer Prufung uber Bord zu werfen, wenn sie nicht mehr zeitgemass sind. Das gilt fur den Verteidigungsetat und die Ausstattung der Bundeswehr wie fur die Schuldenbremse. Ich bin nicht bereit, fur ein Sondervermogen Bundeswehr am Grundgesetz herumzudoktern, obwohl der Fehler an ganz anderer Stelle liegt. Ich bin nicht bereit, einer Grundgesetzanderung zuzustimmen, weil der Mut fur eine echte Reform unserer Haushaltspolitik fehlt. Zeitenwende ist grosser als das, Zeitenwende erfordert nie dagewesene Handlungsmacht und Handlungsspielraume fur eine wehrhafte Demokratie, die Verantwortung ubernimmt.