Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Wie krank kann man sein?
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Wie teuer wird es noch?
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Wie ist die Lage in der Ukraine?
1. Wie krank kann man sein?
Gerne nehme ich das »krank« sofort wieder zurück, es steht dort nur umständehalber, weil angesichts dessen, was wir den »Missbrauchskomplex Wermelskirchen« nennen, selbst Kölns Polizeipräsident Falk Schnabel »fassungslos« ist: »Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität und gefühlloser Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid von kleinen Kindern, ihren Schmerzen und Schreien und ihrer offensichtlichen Angst ist mir noch nicht begegnet«.
Die Rede ist von Ermittlungen gegen eine ganze Reihe von Verdächtigen, in deren Zentrum ein 44-Jähriger aus Wermelskirchen steht. Über mehrere Jahre hinweg soll er zehn Jungen und zwei Mädchen sexuelle Gewalt angetan und sein Treiben sowohl fotografiert als auch gefilmt haben. Seine jüngsten Opfer waren nur einen Monat, seine ältesten Opfer 14 Jahre alt. Die Hälfte der Betroffenen sei jünger als drei Jahre alt gewesen, auch Kinder mit Behinderungen sind darunter.
Die Durchsuchungen bei dem Verdächtigen dauerten 18 Tage. Auf nur einer Festplatte entdeckten die Ermittler etwa 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos. Genau. 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos. Aufgrund der Ermittlungen wurden bereits Verfahren gegen 70 Gleichgesinnte in 14 Bundesländern eingeleitet.
Als Gerichtsreporter habe ich bereits mehrere Prozesse gegen solche Täter beobachtet. Solche, die »nur« Bilder teilten als auch solche, die sich aktiv Zugang zu ihren wehrlosen Opfern verschafften. Man hockt dort, blickt in bleiche Gesichter und ist fassungslos. 3,5 Millionen Bild- und 1,5 Millionen Videodateien, der Besitz jeder einzelnen davon eine Straftat, werden nun gesichtet und für die Anklageschrift mit einer Art »Inhaltsangabe« versehen.
Von dieser Arbeit der Ermittler und der zuständigen Staatsanwaltschaft macht man sich keine Vorstellung. Einfach, weil es schlechterdings unvorstellbar ist. Und es hört und hört und hört einfach nicht auf. Vor den Gegenspielern dieser Verbrecher kann man sich nur verneigen, ganz unkritisch.
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Lesen Sie hier mehr: Ermittler sehen in Missbrauchskomplex Wermelskirchen eine neue Dimension »menschenverachtender Brutalität«
2. Wie teuer wird es noch?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ob Sie mit dem 9-Euro-Ticket fröhlich durch die Lande zockeln oder Ihre Erledigungen mit dem Fahrrad machen können. Ich jedenfalls habe heute für einen Liter Super 2,15 Euro bezahlt – und mich gefreut, dass der Tank meines Mopeds nicht gar so groß ist. Hin und wieder nehme ich auch E10, den Sprit mit Bioethanol, sozusagen die »American Spirit« unter den Treibstoffen, obwohl mein Motor dafür eigentlich zu alt ist. Wie könnten aber auch über Butter reden, Holz, Gas, ganz egal – denn alles wird teurer.
Die Inflation tut, was Inflationen allzu gerne tun: sie galoppiert. Waren und Dienstleistungen kosteten durchschnittlich 7,9 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, wie die statistischen Bundesämter in Wiesbaden mitteilten. Zuletzt sah es so übel aus, als Helmut Schmidt noch Kanzler war. Es handelt sich offenbar um einen »perfect storm«, was Engpässe bei der Lieferung betrifft, pandemie- oder kriegsbedingt. Ganz egal.
Was macht EZB-Präsidentin Christine Lagarde? Sie stellt in Aussicht, und zwar ein Ende der negativen Leitzinsen »bis zum Spätsommer«. Damit sollte der europaweiten Inflation ein wenig Einhalt geboten werden. Andere Notenbanken – wie etwa die US-Notenbank Fed – haben ihre Leitzinsen bereits erhöht, dort verbessert sich die Lage ein wenig. Trotzdem wird es, Experten zufolge, noch eine Weile dauern, bis auch die Menschen eine gewisse »Entspannung« verspüren.
Kurioserweise wird zwar alles, alles, alles teurer – nur Arbeit nicht. Der reale, preisbedingte Kaufkraftverlust wird durch einen Anstieg der Löhne keineswegs abgefedert. Warum das so ist? Da müsste man mal Marxisten fragen, vielleicht haben die eine Ahnung.
Lichtblick an der Tankstelle war, dass dort das Kartenlesegerät H5000 im Einsatz war. Und einfach nicht funktionierte, also eine Bezahlung auf elektronischem Wege nicht möglich war. Höchste Zeit, das Bargeld abzuschaffen.
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Lesen Sie hier mehr: Inflation im Mai erreicht 7,9 Prozent
3. Wie ist die Lage in der Ukraine?
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten: Aus der Ukraine wird endlich wieder Getreide geliefert. Wenn auch nur in der von Russland besetzten Region Cherson, wenn auch nur nach Russland. Aber immerhin! Im Krieg stirbt, neben der Wahrheit, nicht nur der Mensch in unbekannter Zahl. Es verwischt sich auch die Grenze zwischen Sarkasmus und Zynismus.
Eindeutig zynisch war die Einschätzung des russischen Außenministers ganz zu Beginn der Kampfhandlungen, »der Westen« werde sich schon noch an die neue Realität gewöhnen. Davon kann keine Rede sein, auch wenn das allgemeine Interesse tatsächlich allmählich zu erlahmen beginnt. Was gibt’s Neues? Nun, sie kämpfen noch immer.
Im Osten rücken russische Truppen auf das weitgehend zerstörte Zentrum der weitgehend zerstörten Stadt Sewerodonezk vor. Vor dem Krieg lebten dort 100.000 Menschen, jetzt sind es noch geschätzte 15.000. Im Süden unternimmt die ukrainische Armee weiter Versuche, die Invasoren wieder zurückzudrängen. Wie man hört, nicht ohne Erfolg. Der Druck gilt der Region um Cherson. Das ist dort, wo das Getreide wächst.
Unterdessen wird bei einem EU-Sondergipfel weiter um ein Öl-Embargo gegen Russland gerungen. Genauer: Alle ringen, Ungarn verschränkt die Arme. Ein Kompromiss könnte sein, dass eine Pipeline vom Embargo ausgeschlossen sein könnte. Diese Pipeline heißt, weil Pipeline ja klangvolle Namen haben, »Druschba«. Freundschaft. Ist das zynisch? Oder sarkastisch? Beides?
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Lesen Sie hier mehr: Ungarn blockiert europäisches Öl-Embargo
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Kampf gegen einen gemeinsamen Feind: Kolumbianische Ex-Soldaten zieht es zum Einsatz in die Ukraine. Es ist offenbar nicht Geld, was sie antreibt – sondern die Sorge, dass ein erstarkendes Russland auch Folgen für ihre Heimat haben könnte .
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»Eine ukrainische Niederlage wäre eine globale Katastrophe für die Demokratie«: Macht man einem Diktator Zugeständnisse oder tritt ihm entschlossen entgegen? US-Historiker Benjamin Carter Hett sieht im Ukrainekrieg historische Parallelen zum Zweiten Weltkrieg und warnt vor Appeasement-Politik .
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Als die Luft noch nicht nach Krieg roch: Überall Normalität – auf Spielplätzen, Picknickwiesen, an Badeseen: Die Bilder einer ukrainischen Fotografin erzählen, was ihrem Land genommen wurde.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Deutsche trinken so wenig Kuhmilch wie noch nie seit Statistikbeginn: Milch kommt bei deutschen Verbrauchern immer mehr aus der Mode. Das liegt nicht zuletzt an den Alternativen.
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Wrack von vermisstem Passagierflugzeug in Nepal gefunden: Such- und Rettungskräfte sind in Nepal auf die Trümmer einer bislang vermissten Passagiermaschine gestoßen. Sie fanden mindestens 20 der 22 Insassen tot auf. An Bord waren auch zwei Deutsche.
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Bundespolitiker rechnen mit schneller Verankerung des Sondervermögens im Grundgesetz: Nach der Verständigung auf das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr zeigen sich Regierungspolitiker wie Oppositionelle zufrieden. Einzig die Linke kündigt Widerstand gegen die Finanzspritze an.
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Sklavenfarm in Brasilien – Ermittlungen gegen VW: Volkswagen hat in den Siebzigerjahren in Brasilien eine Rinderfarm aufgebaut. Die Art, wie der Konzern dort Arbeiter misshandelt hat, interessiert nun die Staatsanwaltschaft. Der Konzern schweigt – noch.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
… ist die Liebesgeschichte von Christine und Klaus-Michael Kühne im aktuellen Heft. Autofahrer kennen Kühne vom »Kühne + Nagel« -Schriftzug auf einem Lkw seiner Speditionsflotte. Branchenexperten kennen ihn als Großaktionär der Reederei Hapag-Lloyd oder der Flugreederei Lufthansa. Sogar angehende Literatinnen kennen Klaus-Michael Kühne, weil er den mit 10.000 Euro dotieren Klaus-Michael-Kühne-Preis für das beste deutschsprachige Romandebüt des Jahres ausgelobt hat. Fußballfreunde kennen ihn, weil er dem HSV immer mal wieder aus der Patsche hilft. Und Musikfreunde in ganz Hamburg sollen ihn nun kennenlernen, weil der 84-Jährige der Stadt eine neue Oper zu spendieren gedenkt; die alte Oper gefällt ihm nicht.
Im Porträt von Alexander Kühn und Alexander Jung nun lernen wir den milliardenschweren Patriarchen von einer anderen, menschlichen Seite kennen – und auch seine bessere Hälfte, Ehefrau Christine, der Klaus-Michael seit Jahrzehnten ganz bezaubernde Gedichte widmet. Wir lernen, dass Kühne keine Bärte mag und bisweilen sogar Kapitäne, die seine Jacht steuern, sich vorher rasieren müssten. Überdies bevorzugt er Krawatten und rechtsbündige Texte.
In diesem Text kommen wir so nah an den Mann ran wie sonst nur Erbschleicher oder Wirtschaftsspione. Klaus-Michael Kühne, ein Kapitalist wie Du und ich. Aber auch ein Realist! Kühn und Jung schreiben: »Dass er die Fertigstellung seiner Oper, so sie denn gebaut wird, nicht mehr erleben könnte, ist ihm bewusst«.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Der Milliardär, der Gedichte schreibt – und nicht aufhören kann zu arbeiten
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Warum die USA zum Krisengewinner werden: Die amerikanische Wirtschaft erweist sich ein weiteres Mal als widerstandsfähiger als die meisten anderen Ökonomien: Die langfristigen Schwachpunkte des Landes erweisen sich derzeit als Stärken .
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Unserem Planeten geht fruchtbarer Boden aus – und wir sind schuld: Unbemerkt vollzieht sich im Erdreich ein Desaster: Böden werden vergiftet, überdüngt oder versalzen, die Nahrungsmittelversorgung der Menschheit steht auf dem Spiel. Ist die Vielfalt unter unseren Füßen noch zu retten?
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Abtreibungspille zum Selbermachen: Schwangerschaftsabbrüche könnten in den USA bald drastisch eingeschränkt werden. Aktivisten setzen deshalb verstärkt auf die Abtreibungspille. Online verschrieben, per Post verschickt – oder im Notfall sogar selbst gemacht .
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Sie nannten ihn Jesus: Lester Piggott hat im Galoppsport alles gewonnen. Die meisten seiner Trophäen ließ er einst versteigern, angeblich weil er keinen Platz mehr dafür hatte. Auf seinen Pferden schien er zu schweben, im Umgang mit Menschen tat er sich schwer.
Was heute weniger wichtig ist
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Rut Larsson, 103, hat einen Weltrekord aufgestellt. Sie ist die älteste Frau, die jemals einen Fallschirmsprung absolviert hat. Es ist bereits ihr zweiter Tandemsprung. Bereits 2019 hatte die Greisin sozusagen Blut geleckt, Geschmack gefunden am tolldreisten und wenig altersgerechten Abenteuer. Diesmal war ihr Sprung dem staatlichen Rundfunk sogar eine Live-Übertragung wert. Am Boden wartet der Rollator auf Larsson, die ihre Eindrücke mit den Worten »Schön dort oben« zusammenfasste. Ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde steht nun bevor, weil Larsson ein paar Tage älter ist als die bisherige Rekordhalterin, die US-Amerikanerin Kathryn Hodges. Sorgen habe sie sich keine gemacht: »Runter komme ich immer«, so Larsson. Wobei es tatsächlich bedeutend mühsamer ist, hoch- statt runterzukommen. Der älteste Mensch, der jemals den Mount Everest bezwang, ist ein 80-jähriger Japaner.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Trainerkandidat beim Fußball-Bundesligsten Hertha BSC«
Cartoon des Tages: Bundeswehr-Sondervermögen
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Nun ist genug Gras über die kundige Besprechung meines Kollegen Oliver Kaever gewachsen, der der vierten Staffel von »Stranger Things« den »Geruch des Vorgestrigen« bescheinigte . Aber Oliver muss nicht mitbekommen, dass man sich trotzdem anschaut, wie ein paar Teenager erneut die Welt vor einem neuen Monster retten. Und war nicht auch die erste Staffel mit ihrem Retro-Charme der Achtzigerjahre bereits vorgestrig? Immerhin kommt nun Kate Bush mit »Running Up That Hill« zur Geltung, und das ist eine deutliche Steigerung – ganz egal, was da vorher gelaufen sein mag.
Überhaupt ist das von Stephen King mit Büchern wie »Es« oder »Stand By Me« aus der Taufe gehobene Genre (Kinder treffen auf das Grauen und bewältigen es) immer gut für einen Abend mit Chips und … und … was war das Modegetränk der Achtziger? Egal. Jedenfalls ist fiktiver Grusel pure Entspannung, besser jedenfalls als der hochgelobte »Körperhorror« eines Cronenberg – oder der reale Grusel der Welt.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank
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