Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die deutsche Sicherheitspolitik erst zögerlich, dann in rasantem Tempo an die veränderten Rahmenbedingungen der euro-atlantischen Sicherheitsordnung angepasst: Berlin hat im Rahmen der EU erhebliche Sanktionen gegen russische Einzelpersonen, Firmen und Branchen beschlossen. Die Bundesregierung hat sich in der Nato an der Rückversicherungspolitik für die osteuropäischen Verbündeten mit der Verlegung von Truppen und Material beteiligt. Schließlich hat sie mit der Ankündigung, schwere Waffen an Kiew zu liefern, einen für die deutsche Außenpolitik präzedenzlosen Schritt gewagt.
Und doch bleibt trotz dieser vordergründig beeindruckenden Bilanz ein Eindruck des Getriebenseins, ja fast der Desorientierung, den die deutsche Debatte nicht abstreifen kann. Er ist dafür verantwortlich, dass unter Deutschlands Verbündeten das Gefühl ausbleibt, Berlin übernehme kraftvoll und aus sich heraus sicherheitspolitische Verantwortung. Der Hauptgrund für diesen Eindruck – neben kommunikativen Pannen und innerkoalitionären Widersprüchen – ist, dass die Bundesregierung bislang ihre politischen Ziele, die mit ihrem Engagement in der Ukraine und insbesondere dessen militärischer Dimension verbunden sind, nicht öffentlich ausgeführt hat.
Die sicherheitspolitische Debatte in Berlin kreist vorwiegend um die Frage der Mittel: um die Quantität und Qualität der militärischen Hilfe für die Ukraine, um die mögliche Einrichtung einer Flugverbotszone in deren Luftraum, um das Ausmaß der Wirtschaftssanktionen gegen Russland und anderes mehr. Wenig wird dagegen darüber diskutiert, was eigentlich die strategischen Ziele der deutschen Politik sind oder sein sollten, die über das unmittelbare Ende der Kampfhandlungen hinaus reichen: zum Beispiel welche politischen oder territorialen Zugeständnisse Deutschland von beiden Seiten erwartet, um den Krieg zu beenden, oder ob ein Ende des Konflikts in deutscher Sicht durch einen Vertrag formalisiert oder einfach als Realität in Form eines weiteren »eingefrorenen Konflikts« akzeptiert werden müsste.
Diese Unschärfe rächt sich, je länger der Krieg dauert. Denn auch wenn Deutschland nicht direkt an den Kampfhandlungen teilnimmt, gilt gleichermaßen auch für Formen der mittelbaren militärischen Unterstützung, dass jeder Krieg ein Akt der Gewalt mit dem Zweck sei, »den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen« (Clausewitz). Der Zweck jedes militärischen Engagements, also der zu erfüllende Wille, muss dabei von der Politik bestimmt werden. Ohne diese klare Festlegung beziehungsweise Priorisierung drohen dem militärischen Engagement Maß und Richtung zu fehlen. Hinzu tritt eine weitere Wirkung: Was den politischen Entscheidern im politischen Alltag attraktiv erscheint, nämlich sich nicht eindeutig festzulegen und dadurch Handlungsspielräume zu erhalten, lässt langfristig die politische Zustimmung in der Öffentlichkeit erodieren.
Bundeskanzler Scholz hat jüngst sein Ziel des deutschen Engagements im russisch-ukrainischen Krieg benannt: »Russland darf nicht gewinnen, und die Ukraine darf nicht verlieren.« Dagegen wird niemand ernsthaft argumentieren wollen, aber es bleibt unscharf und lediglich ein Minimalziel. Denn was heißt das genau, und welche politischen und militärischen Schritte erwachsen daraus?
Das erste Ziel, das die deutsche Politik angeben müsste, betrifft den anzustrebenden territorialen Endzustand: Unterstützt die Regierung Scholz die Ukraine darin, alle Gebiete, die sie seit dem 24. Februar verloren hat, zurückzugewinnen? Oder wird sie verlangen, dass sich die russischen Streitkräfte auch vollständig aus dem Donbass und der Krim zurückziehen, was die völkerrechtliche Position Deutschlands widerspiegelte. Hieße dies aber nicht angesichts der russischen Annexion der Krim, den Konflikt mit Russland weiter zu eskalieren?
Die zweite Ordnungsvorstellung betrifft die zukünftige innere Verfasstheit der Ukraine: Unterstützt die Bundesregierung in einer Variation der Minsker Vereinbarungen einen verhandelten Autonomiestatus einzelner Gebiete innerhalb der Ukraine und eine mögliche Stärkung von Minderheitenrechten? Und welche Rolle sollen die Vereinten Nationen und die OSZE bei der Überwachung eines angestrebten Waffenstillstandes und als Rahmen für folgende politische Verhandlungen spielen?
Das dritte zu reflektierende Ziel, ist die zukünftige äußere Verfasstheit der Ukraine: Präsident Selenskyj hat erklärt, dass die Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft mehr anstreben wird. Gleichzeitig bleibt sie ein exponiertes Partnerland der Allianz. Setzt sich die Bundesregierung für gemeinsame Militärübungen mit Kiew, die Lagerung militärischen Materials im Land und eine Aufwertung der Nato-Ukraine-Kommission ein, oder hält sie dies für eine unnötige Provokation Moskaus? Und was genau versteht sie unter den deutschen Sicherheitsgarantien für das Land, die Außenministerin Baerbock in Aussicht gestellt hat?
Schließlich bleibt viertens die Rolle Russlands: Auch in der aktuellen Situation ist es wichtig zu berücksichtigen, dass auch Moskau eine Stimme hat. Gerade weil Präsident Putin diesen Krieg begonnen hat, wird es ihn brauchen, um ihn zu beenden. Damit stellt sich der deutschen Politik dann auch jene Frage, die zurzeit noch im Hintergrund schwebt: Welche Rolle sieht die deutsche Politik für Russland in einer europäischen Nachkriegsordnung vor – Partner, Rivale, Gegner? Eine Antwort auf diese Frage sollte es der deutschen Politik auch leichter machen, sich zum jüngst verkündeten, neuen Kriegsziel der USA zu verhalten: »Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat«, sagte der amerikanische Verteidigungsminister Austin erst vor wenigen Tagen. Teilt die Bundesregierung dieses Ziel, und was würde sich daraus für Deutschland und Europa ableiten?
Die politischen Ziele Deutschlands in diesem Konflikt werden unweigerlich von den politischen und militärischen Entwicklungen innerhalb der Ukraine beeinflusst werden, aber diese sollten die deutschen Ziele nicht allein bestimmen; vielmehr sollten umgekehrt die politischen Ziele diejenigen Schritte anleiten, die Deutschland in und gegenüber der Ukraine geht. Natürlich kommt vor allen der Ukraine das Recht zu, ihre Kriegsziele zu definieren, und es bleibt das Privileg der Ukrainerinnen und Ukrainer, über ihre politische Zukunft zu entscheiden.
Aber das gilt umgekehrt auch für Deutschland. Obwohl sich die Interessen der Bundesrepublik mit denen der Ukraine überschneiden, sind Deutschlands Interessen als Führungsnation Europas und Schlüsselpartner der USA komplexer, unterliegen anderen Beschränkungen und erfordern andere Rücksichtnahmen. Deutschland muss mithin auch den Widerspruch auflösen, nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg zu entscheiden, aber gleichzeitig seine eigene sicherheitspolitische Souveränität auszuüben. Entsprechende bilaterale Konsultationen bereits jetzt sind daher unerlässlich, um zu verhindern, dass sich auf Dauer zwischen der Ukraine und Deutschland größere Bruchlinien auftun.