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heute geht es um Kanzler Olaf Scholz, dessen SPD in NRW eine Wahlniederlage erlitten hat – und dessen Ukrainepolitik in Europa für Misstrauen sorgt. Außerdem befassen wir uns mit dem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens sowie mit der grundmaroden Deutschen Bahn.
Heute geht es um Kanzler Olaf Scholz, dessen SPD in NRW eine Wahlniederlage erlitten hat – und dessen Ukrainepolitik in Europa für Misstrauen sorgt. Außerdem befassen wir uns mit dem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens sowie mit der grundmaroden Deutschen Bahn.
Die Kanzlerschaft von Olaf Scholz braucht einen Reboot
Natürlich ist das historisch schlechteste Ergebnis der SPD in Nordrhein-Westfalen seit dem Zweiten Weltkrieg auch die Niederlage von Bundeskanzler Olaf Scholz. Nicht zuletzt, weil der Regierungschef sich zusammen mit SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty groß auf Plakaten abbilden ließ und Wahlkampfveranstaltungen abhielt. Doch der Kanzler zog nicht. Die SPD verlor 4,5 Prozent und die Wahl.
Da lachten sie noch: SPD-Spitzenkandidat Kutschaty und Kanzler Scholz bei einem Wahlkampfauftritt am Freitag
Foto: IMAGO/RUEDIGER WOELK / IMAGO/Rüdiger Wölk
Was eine Woche zuvor schon in Schleswig-Holstein passiert war, wiederholte sich in NRW: Die Wählerinnen und Wähler haben von den Ampelparteien nur die Grünen belohnt, massiv sogar. SPD und FDP haben sie dagegen abgestraft. Die CDU mit Ministerpräsident Hendrik Wüst legt deutlich zu, sie ist in NRW die Gewinnerin. Die Karten halten nun aber die Grünen in der Hand. Schwarz-Grün ist die wahrscheinlichste Option, wenn auch nicht die einzige.
Ein Schluss drängt sich auf, wenn man diese SPD-Wahlergebnisse auf der einen Seite betrachtet und die Umfragewerte für den Kanzler auf der anderen: Olaf Scholz überzeugt eine Mehrheit der Deutschen bisher nicht. Da ist sein Regierungsstil, der darin besteht, zwar zu sprechen, dabei aber selten Klares zu sagen. Keine eindeutigen Entscheidungen zu treffen, sondern sich alle Optionen offenzuhalten, und dabei allzeit eine Selbstsicherheit zu demonstrieren, die an Arroganz grenzen kann.
Ukrainischer Präsident Selenskyj, Außenministerin Baerbock am 10. Mai in Kiew
Foto: Florian Gaertner / dpa
Andererseits ist da die inhaltliche Schwammigkeit: Dies war zwar eine Landtagswahl. Dennoch muss man konstatieren, dass in NRW jene Parteien gewonnen haben, die in ihrem Kurs in Bezug auf die Ukraine am klarsten waren – allen voran die Grünen, die von ihren landesweit beliebten Galionsfiguren Annalena Baerbock und Robert Habeck profitieren konnten. Den Grünen schadet ihre neue Positionierung zu Waffen offensichtlich gar nicht und sie können ihre Politik verständlich und empathisch kommunizieren.
Was folgt daraus? Die Kanzlerschaft von Olaf Scholz braucht gut fünf Monate nach dessen Amtsantritt einen Reboot. Aber kann und will der Mann wirklich umsteuern, der sich seit seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister im Stil stets treu geblieben ist?
Warum verweigert Olaf Scholz in Europa die Führungsrolle?
Man darf die politische Bedeutung des European Song Contest als europäische Öffentlichkeit sicher nicht überhöhen – und doch: Die Einmütigkeit mit der die Publika in ganz Europa am Samstag den ukrainischen Song »Stefania« des »Kalush Orchestra« mit einer Rekordstimmenzahl zum Sieger kürten, war eine Demonstration paneuropäischer Solidarität mit einem Land, das unprovoziert zum Ziel eines mörderischen russischen Angriffskriegs wurde. Und was ist das für ein Zeichen, wenn die Veranstaltung nächstes Jahr im freien Kiew stattfindet!
Die Sieger vom »Kalush Orchestra« jubeln nach ihrem Triumph beim European Song Contest in Turin
Foto: YARA NARDI / REUTERS
Die Tatsache, dass Deutschland null Punkte erhielt und auf dem letzten Platz landete, kann man sicher auch nicht in erster Linie politisch lesen. Denn das Lied war ganz eindeutig schlecht und im Rest Europas geschmacklich nicht zu vermitteln. Und doch kann man das Ergebnis – Ukraine Erster, Deutschland Letzter – auch symbolisch verstehen: Das Bild Deutschlands hat seit Kriegsbeginn in weiten Teilen Europas großen Schaden genommen, insbesondere in den neuen EU-Staaten Ost- und Mitteleuropas.
Das liegt an der zögerlichen Haltung von Olaf Scholz bei der Unterstützung der Ukraine. Diesem Balanceakt, immer genau so viel zu tun, dass die Verbündeten nicht offen verärgert reagieren, aber dennoch nicht genug: in Sachen Waffenlieferungen zu bremsen und störrisch die Reise nach Kiew zu verweigern. Ausgerechnet jene Nation verweigert in dieser Krise die europäische Führungsrolle, die besonders stark von billigen russischen Energielieferungen profitierte und deren politisches Establishment engste Bande nach Moskau pflegte. Stattdessen erweckt der Kanzler immer wieder den Eindruck, man warte nur darauf, die Beziehungen mit Russland irgendwann wieder normalisieren zu können.
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Das Vertrauen in Deutschland sinkt auf den Nullpunkt
Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks brachte am Wochenende auf einer Konferenz die ganze Frustration mit den Deutschen auf den Punkt: Die baltische Region sei enorm deutschlandfreundlich gewesen, doch seit dem Ukrainekrieg sei das Vertrauen in Deutschland »nahe null«. Berlin müsse seine Politik deutlich ändern, wenn es nicht wolle, dass daraus Misstrauen erwachse.
Demonstration für die Ukraine in Berlin am Samstag
Foto: IMAGO/Olaf Schuelke
Im Bundeskanzleramt scheint man diese Warnzeichen nicht zu hören – es drängt sich der Eindruck auf, man tue in Berlin, was man dort auch früher stets getan hat: gebannt auf Russland schauen, mal ängstlich, mal hoffnungsvoll, und bereits jetzt an künftige Verhandlungen denkend. Während die Alliierten in Ost- und Mitteleuropa sich darauf konzentrieren, die Ukraine so zu stärken, dass sie die russischen Truppen zurückdrängen und sich auch in Zukunft gegen sie verteidigen kann, hat Olaf Scholz bisher nie eindeutig gesagt, dass das auch sein Ziel ist.
Seine jüngste Äußerung nach einem Telefonat mit Wladimir Putin und Emmanuel Macron am Freitag, war die Forderung nach einem »sofortigen Waffenstillstand«. Doch ein sofortiger Waffenstillstand ohne vollständigen Rückzug russischer Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet wäre ein Sieg für Russland. Ist auf Berlin wirklich Verlass?
Die Nato-Norderweiterung
Wladimir Putins Angriffskrieg war eine gewaltige Fehlkalkulation, militärisch und politisch. Das zeigt sich nicht nur in der Ostukraine, wo seine völlig ausgelaugten Truppen die Kriegsziele laufend zurückfahren müssen und jetzt nur noch versuchen, einen kleinen Zipfel im östlichen Donbass um die Stadt Severodonezk einzukesseln.
Die finnische Premierministerin Sanna Marin und Präsident Sauli Niinistö verkünden gemeinsam den Beitrittswillen zur Nato
Foto: HEIKKI SAUKKOMAA / AFP
Sein Fehler zeigt sich noch im viel größeren Stil auf der geopolitischen Ebene: Finnland und Schweden, die bisher neutralen Staaten, stehen kurz davor, der Nato beizutreten. Der finnische Präsident Sauli Niinistö und Premierministerin Sanna Marin haben die Entscheidung ihres Landes am Sonntag bereits bekannt gegeben. Die regierenden schwedischen Sozialdemokraten haben sich ebenfalls dafür ausgesprochen (mit der Einschränkung, dass sie keine Nato-Basen oder Stationierung von Atomwaffen wollen). In beiden Staaten werden bald die Parlamente entscheiden. Sollten sie zustimmen, könnten Finnland und Schweden gleichzeitig ihren Aufnahmeantrag stellen – und die Nato würde höchstwahrscheinlich einstimmig zustimmen (auch wenn der türkische Präsident Erdoğan gerade noch versucht, dafür Zugeständnisse zu erringen).
Putin hat die beiden künftigen Neumitglieder der Nato vor dem Schritt gewarnt, ihnen aber längst selbst den überzeugendsten Beitrittsgrund geliefert. Wer seinen Nachbarn so deutlich zeigt, dass er jederzeit zu einer militärischen Aggression in der Lage ist, muss sich nicht wundern, wenn sich diese zusammenschließen und schützen wollen. Auch die mittel- und osteuropäischen Staaten, die ab 1998 der Nato beitraten, können sich nachträglich nur bestätigt fühlen. In Finnland und Schweden ist der Angriff auf die Ukraine viel stärker noch als in Deutschland auch als Angriff auf die eigene Sicherheit und das eigene Lebensmodell verstanden worden. Der Nato-Beitritt ist die Konsequenz daraus.
Erinnern Sie sich noch? Vor dem russischen Angriff geisterte kurzzeitig die Idee einer »Finnlandisierung der Ukraine« herum – stattdessen hat sich nun Finnland in Bezug auf Russland ukrainisiert. Zugleich zeichnet sich ab, dass die Ukraine bald den EU-Kandidatenstatus bekommen könnte. Putin treibt seine Nachbarn zuverlässig weg von sich.
Verlierer des Tages…
Chaos am Hamburger Hauptbahnhof nach Kabelbrand
Foto: Jonas Walzberg / dpa
…sind die Kundinnen und Kunden der Deutschen Bahn. Das vergangene Wochenende war wieder einmal eine Demonstration dafür, dass das System Bahn so marode ist, dass es in der jetzigen Form nicht zu retten ist – und dass es tiefgreifende Strukturreformen und massive Investitionen brauchen würde, um in Europa und gegen den Flugverkehr konkurrenzfähig zu sein.
Ein Kabelbrand am Freitagmorgen auf einer Bahnstrecke innerhalb Hamburgs führte noch das ganze Wochenende über zu massivem Chaos im nationalen Bahnverkehr, zu stundenlangen Verspätungen, Zugausfällen, Wut und Tränen – drei volle Tage lang. Das ist schwer nachzuvollziehen, wäre aber verzeihlich, wenn es ein Einzelfall wäre. Ist es aber nicht: Man muss als Bahnkunde stets damit rechnen, dass man nicht oder zu spät ankommt. Das ist viel zu lange schon selbstverständlicher Teil des deutschen Alltags, und das kann nicht so bleiben, wenn die Verkehrswende gelingen soll, wenn die Inlandsflüge reduziert werden sollen. Das 9-Euro-Ticket wird jedenfalls nicht reichen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Mathieu von Rohr