Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um vier Ministerkonferenzen, um 300 Extremisten und um eine elektronische Akte.
Dein Tanzbereich, mein Tanzbereich
Der heutige Tag könnte der Lage-Leserschaft von gestern verdächtig bekannt vorkommen: Die G7-Außenministerinnen und -minister tagen noch immer am Ostseestrand. Die Umweltminister von Bund und Ländern sitzen noch immer in Wilhelmshaven zusammen. Nach Finnland wird nun auch die schwedische Politik zu einem möglichen Nato-Beitritt Stellung beziehen. Und im Bundestag wird weiter über die innenpolitischen Folgen des Krieges diskutiert, etwa über Pläne der Ampelkoalition zur Senkung der Energiesteuer auf Sprit.
Es ist aber wirklich ein neuer Tag, versprochen, was man daran merkt, dass ab heute auch die G7-Agrarministerinnen und -minister zusammentreffen, angeführt vom Grünen Cem Özdemir, und zufällig in dessen Heimat Stuttgart! Sowohl Özdemirs Runde wird sich mit der weltweiten Ernährungskrise infolge des Ukrainekriegs befassen, als auch die von Annalena Baerbock. Die Außenministerin hatte jüngst im SPIEGEL-Gespräch angekündigt: »Ein Schwerpunkt unseres G7-Vorsitzes ist, eine Allianz gegen diese Ernährungskrise zu schmieden.«
Treffen der Außenministerinnen und -minister
Foto: Pool / Getty Images
Beide sind für dieses Thema irgendwie zuständig, wobei ein Minister für Ernährung vielleicht noch einen Tick zuständiger erscheint, aber eine Außenministerin ist nun mal die mit der Strahlkraft. Gerne läse man die SMS, die sich die zwei grünen Minister dazu geschrieben haben dürften. Vielleicht hat auch Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) einen Dreier-Chat eröffnet? Deren gesamtes Ministerium ist schließlich dafür da, den weltweiten Hunger zu bekämpfen. Nach allem, was man hört, kam Baerbocks SPIEGEL-Ankündigung in Schulzes Haus nicht gut an.
Bundeskanzler Olaf Scholz wird in der ihm eigenen, besonnen Art beschlossen haben, in dieser Kompetenzfrage lieber nicht Kriegspartei zu werden. Er wird stattdessen heute im Verteidigungsausschuss über den Stand der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine berichten, später hält er dann eine Rede auf dem Richtfest einer neuen Medikamenten-Produktionsanlage von Bayer.
Für den Chemiekonzern unter der Führung von Werner Baumann sind es bange Tage: Ein Gasembargo hätte für die Chemieindustrie katastrophale Folgen, das haben mehrere Topmanager schon im März in einem Brief an Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck gewarnt. Das gestrige Dekret des russischen Autokraten Wladimir Putin, das einen Boykott von gut 30 europäischen Gasfirmen verhängt, dürfte bei Bayer die Freude über das Richtfest gehörig trüben. Man wird sich von Kanzler Scholz’ Rede extra viel Besonnenheit erhoffen.
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Wer Geld kann, kann auch Familie?
Es hilft alles nichts: An dieser Stelle ist der Hinweis notwendig, dass es heute noch eine weitere Ministerkonferenz gibt, nämlich die der Familien- und Jugendministerinnen und -minister aus Bund und Ländern. Mit dabei ist die neue Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), und sie muss immerhin nicht fürchten, dass andere Kabinettsmitglieder in ihr Ressort hineinfunken. Abgesehen vielleicht von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die mit ihrer Urlaubsreise im Regierungshelikopter eine ganz eigene familienpolitische Debatte angestoßen hat.
Paus, Nachfolgerin der zurückgetretenen Grünen Anne Spiegel, hat unserem SPIEGEL nun ihr erstes großes Interview gegeben. Darin stellt sie klar, woran sie den Erfolg ihrer Amtszeit messen lassen will: an einer Kindergrundsicherung, »die diesen Namen auch verdient«. Bei diesem Projekt sollen familienpolitische Leistungen wie das Kindergeld oder Hartz-IV-Gelder zu einem Garantiebetrag gebündelt werden, kombiniert mit einem einkommensabhängigen Zusatzbetrag. Es ist ein Mammutvorhaben, dessen Details noch unklar sind.
Lisa Paus
Foto: IMAGO/Frederic Kern / IMAGO/Future Image
Paus hat sich in ihrem vorherigen Leben als Finanzpolitikerin mit genau diesem Projekt befasst: »Ich bin eine Architektin der Kindergrundsicherung«, sagte die Grüne, und fordert, im Zuge der Reform auch die Leistungen für Kinder anzuheben. Dass die Ampelregierung die Steuermilliarden gerade in weniger familienfreundliche Projekte umleitet, ficht sie nicht an: Sie wage »keine Vorhersage«, sagt Paus, »ob wir die Schuldenbremse nächstes Jahr einhalten können.«
Heute steht im Bundestag übrigens noch ein Thema auf der Tagesordnung, das immerhin mit Familienplanung zu tun hat: das sogenannte »Werbeverbot« für Abtreibungen. Die Ampel will die Vorschrift im Strafgesetzbuch abschaffen, die Unionsfraktion ist dagegen.
Nancy Faeser überbringt schlechte Nachrichten
Es ist die Woche der unangenehmen Berichte. Nachdem zum Beispiel Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Dienstag schon die traurigen Rekorde in der Statistik zur politischen Kriminalität vorstellen musste, stellt sie heute das ebenso unerfreuliche Lagebild Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vor. Neben ihr wird Thomas Haldenwang sitzen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das den Bericht erstellt hat.
Wolf Wiedmann-Schmidt und Ansgar Siemens aus unserer Redaktion konnten das 140 Seiten lange Dokument vorab auswerten, das alle der Behörde bekannten Fälle von Anfang Juli 2018 bis Ende Juni 2021 umfasst. Die Verfassungsschützer zählten insgesamt über 300 Fälle von mutmaßlichen oder erwiesenen Extremisten in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern. In weiteren 533 Prüffällen erhärtete sich der Verdacht nicht.
Bundesamt für Verfassungsschutz
Foto: Oliver Berg/ dpa
Die im Bericht zitierten Beispiele haben es in sich: »Sieg Heil!«-Rufe oder das Zeigen des Hitlergrußes, das Mitmischen in antisemitischen Chatgruppen, rassistische Beleidigungen und Kontakte zu rechtsextremen Parteien. In 60 Fällen wurden Beamte schon entlassen, oder sollen es demnächst werden.
Es gibt diesen Bericht erst seit kurzer Zeit, Ex-Innenminister Horst Seehofer präsentierte ihn erstmals im Jahr 2020. Es ist eine der Traditionen, von denen man sich wünscht, dass sie nicht alt werden.
Gewinner des Tages…
Ralf Kleindiek (2015)
Foto: Uli Deck/ dpa
… ist Ralf Kleindiek, Chief Digital Officer des Berliner Senats, also der Mann, der qua Amts die Berliner Verwaltung digitalisieren soll – ein Projekt, das auf fünf Jahre kontinuierliches Verlieren angelegt ist. Doch nun hat Kleindiek einen kleinen, aber wichtigen Sieg eingefahren.
Der wird streng genommen zwar erst am Montag gefeiert, wir sind also etwas früh dran, aber Kleindieks Thema hat ja auch mit Zukunft zu tun: Am Montag wird in Berlin-Mitte, dem ersten von zwölf Bezirken, die erste elektronische Akte eingeführt.
Kleindiek, ein SPD-Mann, hat Jahrzehnte im öffentlichen Dienst hinter sich, war schon Staatsrat in Hamburg, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium und zuletzt Partner einer großen Unternehmensberatung. Seine Rückkehr in die Berliner Senatsverwaltung beweist insofern eine erhebliche Leidensfähigkeit, fachlich wie finanziell.
Ziel der Berliner Regierung ist eines fernen Tages die »medienbruchlose Verwaltung«. Wir lassen das hier einfach stehen, so lange wie es SPIEGEL.de oder das Internet gibt, danach kommt das Thema auf Wiedervorlage.
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Christliche Studentin in Nigeria gesteinigt und verbrannt: Ein Eintrag bei WhatsApp wurde ihr als Verunglimpfung des Propheten Mohammed ausgelegt: In Nigeria hat ein Mob eine junge Frau brutal ermordet. Die Tat wurde gefilmt, es gibt erste Festnahmen.
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Portugiesische Polizei erschießt Geiselnehmer: Eine Geisel und ein Polizist wurden verletzt: Nahe der portugiesischen Hauptstadt Lissabon hat die Polizei einen Geiselnehmer erschossen. Medienberichten zufolge war der Mann ein Tourist aus Deutschland.
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Nordkorea meldet ersten Coronatoten – und rund 350.000 Infizierte mit einem »unbekannten Fieber«: Die Fiebererkrankung habe sich »explosionsartig im ganzen Land ausgebreitet«: Nordkorea gibt offiziell das erste Todesopfer durch Covid bekannt. Unklar ist, wie viele der Erkrankten auf das Virus getestet wurden.
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Warum ich nicht einfach zurück in die Normalität kann: Allein im WG-Zimmer statt pralles Unileben: Während der Coronapandemie habe ich mich an das Leben in Einsamkeit gewöhnt. Nun muss ich mir das Label »Höhlenmensch« aufdrücken lassen. Das ist nicht fair.
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Stoppt die Einhornisierung der Kinderzimmer!: Es hat ein Horn, große Augen und es ist überall: Einhörner auf Shirts, Büchern und Haarspangen. Wo kommt das her? Und viel wichtiger: Geht das wieder weg?
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann