Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Finnland will in die Nato – Woher kommt die Eile?
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Prozess gegen den Tankstellen-Schützen – Was verraten die Chat-Protokolle?
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Neuer Tellkamp-Roman – Was ist vom Turmfortsatz zu halten?
1. Finnland will in die Nato
Der Präsident und die Regierungschefin Finnlands haben sich heute für einen »unverzüglichen« Nato-Beitritt ausgesprochen. Das kommt einerseits nicht überraschend, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat und die Finnen fürchten, sie könnten die Nächsten sein. Andererseits ist es ein großer, ja, ein historischer Schritt nach fast 80 Jahren Neutralität.
Dass diese Neutralität nicht freiwillig war, sondern auf Druck Russlands zustande kam, wird schnell mal vergessen. Nachdem Finnland 1917 unabhängig wurde, entging es im Zweiten Weltkrieg nur durch erbitterten Widerstand einer Besetzung durch Stalins Truppen, eine nationale Nahtoderfahrung. Der Preis der Selbstständigkeit blieb jahrzehntelang eine eingeschränkte Souveränität und der Zwang zu engen Absprachen mit Moskau. »Wir sind nicht die Schweiz. Wir hatten damals schlicht keine Alternative«, sagte ein Abteilungsleiter im finnischen Verteidigungsministerium meinem Kollegen Jan Petter, der nach Helsinki und Imatra gereist ist, um zu recherchieren , wie die Bevölkerung zum westlichen Bündnis steht – und zu Russland. 76 Prozent der Finnen befürworten laut einer aktuellen Umfrage einen Nato-Beitritt, nur zwölf Prozent sind dagegen, berichtet Jan. »Noch vor fünf Jahren war die Stimmung fast umgekehrt.«
Er kam in ein Land, das immer vom Ernstfall ausgeht und »bestens auf den Krieg« vorbereitet scheint:
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Bis heute entscheiden sich 70 Prozent aller jungen Männer für den Wehrdienst, viele verbindet er fürs Leben.
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Anschließend werden Reservisten jahrelang weiter ausgebildet. Kurzfristig kann das Fünf-Millionen-Einwohner-Land 280.000 Männer und Frauen mobilisieren, langfristig mehr. »Das finnische Militär dürfte der Nato mindestens ebenso viel nutzen wie umgekehrt«, schätzt Jan.
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Im ganzen Land sind für größere Wohnhäuser Schutzräume verpflichtend. Das Zivilschutzamt hält zudem Bunkeranlagen in Schuss. Allein in der Hauptstadt Helsinki sollen so 900.000 Menschen Zuflucht finden können.
Der Betreiber eines Army-Shops sagte Jan: »Ich bin froh, dass wir nicht wie Deutschland geworden sind.« Er meint damit den gut gelaunten bis naiven Pazifismus der Deutschen. Jan empfand es als »bemerkenswert, wie konkret die Gesellschaft bis heute auf einen russischen Angriff vorbereitet ist. Hinter der vermeintlichen finnischen Friedfertigkeit steckt ein Land, das sich schon bald als Putins stärkster Nachbar entpuppen könnte.«
Russland reagierte umgehend auf die Ankündigung der finnischen Staatsspitze. Ein Kremlsprecher sprach von einer »eindeutigen« Bedrohung und kündigte eine »symmetrische Antwort« an. Alles hänge nun davon ab, wie sich die Nato-Erweiterung entwickele und welche militärische Infrastruktur an die Grenzen Russlands verlegt werde.
Immer deutlicher zeigt sich, was seit Kriegsbeginn zu sehen ist: Putin erreicht mit seinem Krieg das Gegenteil dessen, was er vorhatte.
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Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen: Wie Finnland im Eiltempo in die Nato strebt
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Der Buchstabe ›Z‹ ist das neue Hakenkreuz«: Marija Aljochina kämpft seit Jahren gegen das autoritäre Putin-Regime. Nun hat die Pussy-Riot-Aktivistin Russland heimlich verlassen, um eine Konzerttournee zu beginnen. Ein Gespräch über Krieg, Haft und Protest .
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»Russland wird sinken wie die ›Titanic‹«: Noch gibt es für viele Russen nur wenige Krisenzeichen: Der Rubel ist wieder stabiler, das Leben geht weiter. Der Moskauer Ökonom Nikolaj Kulbaka erklärt, woran das liegt – und wie die Sanktionen dennoch wirken.
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Meinungsmache aus Moskau: Der Kreml setzt im Ukrainekrieg auf massive Propaganda – und erreicht damit in Deutschland treue Fans. Wie die Putin-Ultras denken und was das mit Coronaleugnung zu tun hat, hören Sie im Podcast Stimmenfang.
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»Vergessen wir die sowjetischen Systeme, das ist vorbei«: Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba ist auf Deutschlandbesuch – und fordert mit markigen Worten neue Waffen. Die Bundesregierung lobt und kritisiert er zugleich.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Die Chats des Schützen
Jetzt hat sich also auch Bill Gates das Coronavirus eingefangen. Ein guter Gag-Schreiber müsste daraus eigentlich eine absurd-komische Verschwörungstheorie machen können.
Leider ist es oft gar nicht lustig, was in einschlägigen Chat-Gruppen fabuliert und fantasiert wird, was da an Hass und Hetze hochkocht, wie der Bericht meiner Kollegin Julia Jüttner zeigt. Sie beobachtet den Prozess gegen den Softwareentwickler Mario N., 50, der sich wegen Mordes aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen vor Gericht verantworten muss. Am Abend des 18. September vergangenen Jahres hatte er den Kassierer einer Tankstelle in Idar-Oberstein erschossen: Alexander W., 20 Jahre alt. Der junge Mann hatte Mario N. aufgefordert, eine Maske zu tragen – nur so erhalte er zwei Sixpacks Bier.
»Der Prozess dokumentiert die Radikalisierung des Mario N.«, berichtet Julia. Die Ermittler sicherten auf elf Geräten, die N. gehört haben sollen, mehrere Terabyte Daten. Darunter einen intensiven Austausch zwischen Mario N. und seinem Schwager in den USA – seit Jahren schicken die beiden Männer einander regelmäßig ausschweifende Videobotschaften und Chatnachrichten. Es klingt wie ein Worst-Of der Verschwörer-Szene:
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Die globale Erderwärmung sei ein »verdammter Schwindel«
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Er pöbelt gegen Greta Thunberg (»geistig zurückgeblieben«) und Carola Rackete, die Kapitänin, die Geflüchtete aus Seenot rettet (»Bitch«).
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Er hetzt gegen »diese Araber« und »die verdammte Merkel«.
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»Ich sehe keine Lösung mehr, in der keine Gewalt vorkommt.«
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»Ich lande dieses Jahr noch wegen Mord oder Totschlag im Knast.«
Die Tat hat N. vor dem Landgericht Bad Kreuznach eingeräumt.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Was Chats über den Schützen verraten
3. Tellkamps Turmfortsatz
Die Fortsetzung von »Der Turm« ist erschienen? Da denke ich mit meinem West-Berliner Abitur an Stephen King. Es geht aber um Uwe Tellkamp – und der ist selbst mir ein Begriff. Wahrscheinlich, weil unsere Nachnamen ähnlich klingen und aussehen. Ich möchte nicht ausschließen, dass mein flüchtiger Blick im Buchladen bei Tellkamp hängen blieb, weil ich fürchtete, ein Verwandter könnte etwas veröffentlicht haben.
Uwe Tellkamp hat also nach 14 Jahren eine Fortsetzung seines Wenderomans geschrieben, nein, eine »Fortschreibung«, wie er es nennt. Sie heißt »Der Schlaf in den Uhren. Archipelagus I.«, was die Verwechslung mit Stephen King unwahrscheinlich macht. Mein Kollege Xaver von Cranach aus unserem Kulturressort hat sich intensiv mit Tellkamp beschäftigt. Er zeichnet nach, wie der Autor sich in der Flüchtlingsdiskussion um Kopf und Kragen redete und wie er sich in seiner Opferrolle suhlte. Xaver hat sich auch noch einmal den Ingeborg-Bachmann-Preis von 2004 angesehen, bei dem Tellkamp gelesen hatte. Die Aufzeichnung des Klagenfurter Literaturwettbewerbs war nicht bei YouTube zu finden; die offenbar unbeschrifteten Filmrollen lagerten beim ORF. Eine Mitarbeiterin musste »physisch in den Keller gehen und nachsehen, ob da was ist«, sagten sie Xaver am Telefon. Schließlich ließ der ORF die Bänder freundlicherweise für 39,58 Euro digitalisieren und stellte sie zur Verfügung. »2004 ist schon länger her, als man vermutet hätte«, sagt Xaver. Auf den Bändern ist zu sehen, wie die Juryvorsitzende den Text Tellkamps preist: Es gebe kein Interesse neben dem Schwelgerischen, »kein Hass, kein Ekel, keine Abrechnung, keine Moral.«
Über den neuen Roman schreibt Xaver: »Es gibt kein Interesse neben dem Politischen. So viel Hass, Ekel, Abrechnung, Moral.« Kurz: Xaver empfindet das Buch als »eine intellektuelle und ästhetische Zumutung«. Das Positivste, was er an dem Roman entdecken kann: »veröffentlichungstauglich in dem Sinne, dass darin nichts Verfassungsfeindliches steht«. Ansonsten: »unlesbar«. Bei der Lektüre, so erzählt Xaver, habe er sich gefragt, ob er selbst vielleicht zu blöd sei, um das Buch zu verstehen. Eine Frage, die mir bekannt vorkommt aus den Momenten, in denen ich das Feuilleton doch mal lese. Aber Xaver hat gar kein West-Berliner Abitur. Und auch in der »Zeit« heißt es in einer Rezension: »Man schiebt es auf das eigene Unvermögen, dass man anfangs nichts versteht.« Wer das Buch nach 50 Seiten weiterlese, sei tapfer. »Wer es nach 200 noch in der Hand hält, ist verrückt. Wer 900 Seiten davon liest, ist vermutlich ein Rezensent.« Xaver findet: Tellkamp habe vor sich selbst kapituliert.
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Lesen Sie hier den ganzen Verriss: Was hat ihn nur so ruiniert?
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Steuereinnahmen in diesem Jahr um 40 Milliarden Euro höher als erwartet: Trotz des Ukrainekriegs und der Coronapandemie können Bund, Länder und Kommunen in diesem Jahr mit deutlich mehr Steuereinnahmen rechnen als noch im November erwartet. Finanzminister Lindner sieht dennoch wenig finanziellen Spielraum.
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Kosovo drängt in den Europarat: Das Kosovo will in den Europarat aufgenommen werden. Einen Antrag hat die Balkanrepublik nun offiziell gestellt. Serbiens Präsident hatte für diesen Fall mit ernsthaften Konsequenzen gedroht.
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Ermittlungen gegen Essener Schüler wegen Terrorverdachts: Ein 16-Jähriger soll Straftaten an zwei Schulen in Essen geplant haben. Nun wird wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat ermittelt. Die Polizei fand bei ihm Material für eine Bombe.
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Warum im Süden doppelt so viele E-Autos wie im Osten zugelassen werden: Elektroautos werden vor allem in Bayern und Baden-Württemberg gekauft. Laut der Umweltorganisation ICCT hängt das nicht nur mit dem Einkommen zusammen.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Blick ins Herz der Milchstraße: Erstmals präsentieren Astronomen ein Bild des schwarzen Lochs in unserer Heimatgalaxie. Es ist erst die zweite Aufnahme dieser Art – und das Ergebnis eines wissenschaftlichen Megaprojekts .
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»Es braut sich etwas zusammen in der Gesellschaft« Höchststand bei der politisch motivierten Kriminalität: Die meisten Delikte begehen Rechtsaußen, aber die Zahl nicht zuzuordnender Straftaten steigt stark. FDP-Vizefraktionschef Kuhle sieht darin eine besondere Bedrohung.
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Mann kann’s nicht mehr hören: Wir haben das gemeinsam entschieden. Sie kann das besser als ich. Ich mache doch schon mehr als jeder andere: So erklären Väter, warum sie sich nicht gleichberechtigt um die Kinder kümmern. Was steckt dahinter?
Was heute weniger wichtig ist
Alleinherrscher: Bundeskanzler Olaf Scholz, 63, ist offenbar schwer zu doublen. Eine Doppelgänger-Agentur aus Mülheim an der Ruhr sucht seit der Bundestagswahl nach Männern, die dem Sozialdemokraten ähnlich sehen – und findet einfach keine, wie der Geschäftsführer sagt. Mehr als 50 Bewerbungen habe er bekommen, niemand genüge seinen Ansprüchen: »V-förmige Augenbrauen, der Kopf geht hinten etwas nach oben und der verschmitzte Blick«. Zumindest ein Foto ließ hoffen, doch dann habe sich herausgestellt, dass der Mann 15 Zentimeter größer und 30 Kilogramm schwerer gewesen sei. Der Agent sagt: »Das kann ich nicht machen.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Magenta TV zeigt ebenfalls alle Begegenungen der DEB-Auswahl sowie alle K.o.-Spiele.
Cartoon des Tages: Nato-Marketing
Foto:
Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie im Keller, auf dem Dachboden, in den hinteren Ecken Ihrer Schreibtischschubladen nachschauen, ob noch irgendwo ein Tamagotchi rumfliegt. Vor 25 Jahren kamen die Dinger nach Deutschland, dürften also verkümmert sein (hier mehr dazu) – ich bezweifle, dass irgendjemand ein Vierteljahrhundert Pflege durchgehalten hat. Die Suche wäre allerdings genauso sinnlos wie das Füttern der Eletro-Viecher selbst.
Aber wenn Sie Glück haben, finden Sie dabei einen alten iPod, so wie mein Kollege Matthias Kremp und ich in den vergangenen Tagen. Wir nahmen die Meldung, dass Apple seinen Musikspieler nicht mehr länger produzieren will, zum Anlass, unsere ersten iPods rauszukramen. Matthias hat darüber sogar geschrieben, nämlich den »Netzteil-Newsletter«, den Sie hier abonnieren können. Manchmal macht es ja Spaß, sich durch alte Playlists zu hören, manchmal errötet man vor Scham, wenn das Click Wheel bei etwas Bonjovieskem oder U2igem stehenbleibt.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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