Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um eine abgesagte Bundespräsidentenreise, die immer noch für Ärger sorgt, um die amerikanische Reaktion auf die russischen Nukleardrohungen – und um die Folgen eines möglichen Ölembargos für Deutschland.
Ein Affront und seine Folgen
Das neue Bundeskabinett trifft sich von heute an für zwei Tage zu einer Klausur auf Schloss Meseberg bei Berlin. Wirklich entspannt dürfte es dabei nicht zugehen, die Lage ist zu ernst. Natürlich steht auch hier der Ukrainekrieg im Mittelpunkt.
Kanzler Scholz, Bundespräsident Steinmeier: »Ein bemerkenswerter Vorgang«
Foto: FILIP SINGER / EPA
Kurz vor der Klausur hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) in einem interessanten ZDF-Interview noch einmal seine Haltung zu dem Konflikt deutlich gemacht. »Unser Ziel ist, dass es sofort zum Ende der Kampfhandlungen kommt, dass Russland den Krieg beendet und seine Soldaten aus der Ukraine zurückzieht«, sagte Scholz. Eine Aufhebung der gegen Russland verhängten Sanktionen sei erst möglich, wenn Moskau einen Frieden mit der Ukraine schließe. Dies dürfe aber kein russischer Diktatfrieden sein.
Im Zusammenhang mit dem geplanten Besuch von Unionschef Friedrich Merz in Kiew sagte Scholz, er selbst habe nach wie vor keine konkreten Pläne für einen solchen Besuch. Scholz begründete dies mit der Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die ukrainische Regierung. Dies sei »ein bemerkenswerter Vorgang« gewesen. »Das steht der Sache im Weg«, so Scholz. Deutschland habe der Ukraine viel militärische und wirtschaftliche Hilfe geleistet. Da könne es nicht sein, dass in Kiew gesagt werde, »der Präsident kann aber nicht kommen«.
Das nennt man dann wohl hartnäckiges Beleidigtsein. Alles verständlich, alles nachvollziehbar. Die Frage ist nur, ob es für den Kanzler so klug ist, die verletzten Gefühle seines Parteifreundes Steinmeier auf Dauer zu einem Leitmotiv der deutschen Ukrainepolitik zu machen.
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Putin sollte Biden besser nicht unterschätzen
US-Präsident Joe Biden will heute im Bundesstaat Alabama eine Fabrik des Waffenherstellers Lockheed Martin besuchen. Dort werden die Panzerabwehrraketen Javelin hergestellt, mit deren Hilfe sich die Ukrainer derzeit gegen die russische Übermacht verteidigen. Interessant dürfte sein, was Biden bei dieser Gelegenheit zu den Kriegszielen und weiteren Plänen der USA in diesem Konflikt sagen wird. Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte in der vergangenen Woche erstmals öffentlich erklärt, es gehe den USA um eine dauerhafte Schwächung Russlands.
US-Präsident Joe Biden
Foto: Susan Walsh / AP
Biden hat diese Worte bislang nicht übernommen, auch wenn man annehmen darf, dass dies genau seiner Linie entspricht. Der US-Präsident macht aus seiner Verachtung für Wladimir Putin keinen Hehl. Zugleich will er aber eine weitere Eskalation des Konflikts auf jeden Fall vermeiden.
Dazu passt, dass sämtliche Drohungen aus Russland mit einem Nuklearschlag von der US-Regierung selten größer kommentiert werden. Auch hält sich Biden klugerweise mit eigenen Hinweisen auf das beträchtliche amerikanische Nuklearpotenzial zurück. Putin würde allerdings einen großen Fehler machen, wenn er glaubt, dass Biden sich nicht auf alle Szenarien vorbereitet – auch auf solche, die unterhalb der Schwelle eines thermonuklearen Weltkriegs liegen. Nur weil Biden – anders als Putin – nicht ständig mit dem Säbel rasselt, bedeutet das nicht, dass er schwach ist.
In den USA kursieren längst Überlegungen, was passieren könnte, wenn Russland begrenzt Nuklearwaffen oder chemische Kampfstoffe in der Ukraine einsetzt. Selbst bei der sonst eher zurückhaltenden »Washington Post« halten sie für diesen extremen Fall einen Kriegseintritt der USA und der Nato für unumgänglich.
Dort wird von Kolumnist Max Boot offen ausgesprochen, was viele in der amerikanischen Regierung wohl denken: »Ohne selbst zu Nuklearwaffen zu greifen, könnte die Nato-Luftschläge durchführen, mit der Russlands Schwarzmeer-Flotte und praktisch die gesamte russische Armee in der Gegend vernichtet würden.« Darauf sollte es Putin vielleicht besser nicht ankommen lassen.
Beim Ölembargo wird es »rumpelig«
Die Pläne der EU für ein Ölembargo kommen offenbar schneller voran als gedacht. Bereits heute könnte die EU-Kommission ihre Pläne dafür konkretisieren. Ein schneller Kompromiss wäre wohl möglich, wenn die Europäische Union für die besonders auf die Importe angewiesenen EU-Mitglieder Ungarn und Slowakei eine Ausnahme machen würde. Diese beiden Länder dürften dann zum Beispiel für eine längere Übergangszeit weiter russisches Öl einführen.
Hohe Benzinpreise in Deutschland: Was kommt nach dem Embargo?
Foto: Peter Kneffel / dpa
Härte will die EU auch beim Streit mit Russland über die Zahlung von Gaslieferungen zeigen. Nach Angaben der französischen Energieministerin Barbara Pompili sollen russische Gasliefer-Verträge, bei denen eine Bezahlung in Euro oder Dollar vereinbart wurde, auch weiter in diesen Währungen beglichen werden. Darüber seien sich alle EU-Länder einig und man werde einer einseitigen Änderung der Verträge nicht zustimmen, sagte Pompili auf einem Treffen der EU-Energieminister in Brüssel.
Was bedeutet das alles für die deutschen Verbraucher? Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist ehrlich: Bei einem Importstopp für das Öl aus Russland könne es »rumpelig« werden, so der Minister. Es werde hohe Preissprünge geben, in eine neue »Ölkrise« werde Deutschland aber nicht rutschen.
Verlierer des Tages…
Russischer Außenminister Sergej Lawrow
Foto: Russian Foreign Ministry / ITAR-TASS / IMAGO
…ist Sergej Lawrow. Offiziell ist er bekanntlich Außenminister Russlands. Doch in dieser Funktion betreibt er eigentlich keine ernst zu nehmende Diplomatie mehr, sondern betätigt sich nur noch als Propagandist für den Krieg seines Herrn Wladimir Putin in der Ukraine. Zu besichtigen ist die endgültige Selbstaufgabe eines Mannes, den manche Diplomaten im Westen vor nicht allzu langer Zeit noch als einigermaßen vernünftigen Gesprächspartner ansahen.
Auf die Spitze getrieben hat es Lawrow mit seinem irren Vergleich zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Adolf Hitler. Sinngemäß hatte Lawrow in einem italienischen TV-Interview gesagt, in der ukrainischen Regierung gebe es Neonazis, was möglich sei, obwohl Präsident Selenskyj selbst Jude ist. »Dass Selenskyj Jude ist, will nichts heißen. Ich könnte mich irren, aber Hitler hatte auch jüdisches Blut«, so Lawrows verquere Logik.
Weltweit, aber vor allem in Israel ist die Empörung groß. Zugleich stellt sich die Frage, wie lange das Land in diesem Konflikt noch an seiner zurückhaltenden Linie festhalten wird. Traditionell pflegt Israel sowohl zur Ukraine als auch zu Russland gute Beziehungen. Größere Waffenlieferungen für Kiew gab es von der Regierung in Tel Aviv bislang nicht. Es wäre eine gute Pointe, wenn nun ausgerechnet Lawrow unbeabsichtigt in Israel einen Sinneswandel einleiten würde.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Roland Nelles