Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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»Dritter Weltkrieg«: Wie glaubwürdig sind Russlands Drohungen?
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Vermisstenanzeige: Wo ist eigentlich Angela Merkel?
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Trotz Homeoffice: Warum steigen in Deutschland die Büromieten?
1. Putin schürt die Angst vorm Atomkrieg – mit leeren Drohungen
Mehr als 140.000 Menschen haben im Internet inzwischen den offenen Brief unterschrieben, in dem Alice Schwarzer, Martin Walser, Dieter Nuhr und weitere Prominente vor einem dritten Weltkrieg warnen. Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ebenfalls dabei sein: Ich respektiere Ihre Meinung. Aber ich teile sie nicht. Wer der Bundesregierung vorwirft, sie liefere Putin ein Motiv für eine Ausweitung des Krieges auf die Nato, sobald sie die Ukraine mit schweren Waffen unterstützt, macht sich zu Putins billigem Gehilfen. »Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr«, schreibt SPIEGEL-Gastkolumnist Wolfgang Müller. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, sei bemerkenswert. »Insbesondere, da es eine bedeutende Zahl tatsächlicher Vergewaltigungen in diesem Krieg gibt.«
Wie real ist die Gefahr, dass Putin aus Trotz, Frust oder Wahnsinn einen dritten Weltkrieg auslöst? Niemand kann in seinen Kopf sehen, aber es spricht fast nichts dafür, dass er seine Entscheidung davon abhängig macht, ob jetzt auch Deutschland schwere Waffen liefert. US-Amerikaner, Briten und viele andere haben ja längst gehandelt und die Ukraine mit Kriegsmaterial unterstützt. Sollte Putin einen Vorwand brauchen, um die Welt in Brand zu setzen, braucht er keinen Gepard-Panzer an der Front.
Dass Putin und seine Leute mit einer Eskalation drohen und auch den Einsatz von Atomwaffen bewusst offenlassen, liegt auf der Hand. Die Schauergeschichte vom dritten Weltkrieg gehört zur psychologischen Kriegsführung, ebenso wie die absurden Nazivergleiche des russischen Außenministers Sergej Lawrow (»Selenskyj ist Jude? Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut.«) Doch ist die Drohung glaubwürdig? Mein Kollege Jörg Römer hat mit Sicherheitsexperten über die Frage gesprochen, für wie wahrscheinlich sie den Einsatz von Atombomben halten. Ihre Antwort, kurz gefasst, lautet: Ein Grund zur Panik besteht nicht.
»Den Einsatz von strategischen Atomwaffen halten die meisten Sicherheitsforscherinnen und -forscher derzeit für nahezu ausgeschlossen«, schreibt Jörg. Sie dienten der Abschreckung: »Der potenzielle Gegner soll nur wissen, dass es sie gibt und Russland damit im Angriffsfall zurückschießen würde.« Mit taktischen Atomwaffen wiederum, etwa auch sogenannten Mini-Nukes, würde Putin riskieren, dass radioaktiver Niederschlag auch über Russland niedergeht. Zudem würde Putin noch stärker isoliert, schreibt Jörg, denn Atomwaffentote in der Ukraine könnten auch Indien oder China nicht ignorieren.
Alice Schwarzer hat ihren Brief damit verteidigt, dass es einen »Kompromiss« brauche, den »beide Seiten akzeptieren können«. Ich verstehe ihren Wunsch nach einer friedlichen Lösung. Aber mir ist rätselhaft, welcher »Kompromiss« ihr vorschwebt zwischen einem Vergewaltiger und seinem Opfer.
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Lesen Sie hier mehr: Schwarzer verteidigt offenen Brief an Scholz
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Wir werden unweigerlich schuldig: Wer nun so tut, als wäre Gewalt das ethisch einzig Richtige, der spielt schon Putins Spiel. Waffenlieferungen können nur die absolute Ausnahme sein – als barbarischer Rückfall in einen archaischen Zustand.
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»Habt ihr das alles bis zum Ende durchdacht?«: Der indische Autor Pankaj Mishra ist eine der wichtigsten Stimmen des globalen Südens. Hier sagt er, warum ihm die Strafmaßnahmen gegen Putin zu weit gehen – und die Falschen treffen.
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Kiew entlarvt angeblich russischen Spion in ukrainischem Generalstab: Die Ukraine hat nach eigenen Angaben einen Spionagering in den eigenen Reihen ausgehoben. Demnach sollten die Agenten des Kreml ein Passagierflugzeug abschießen.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Wir vermissen Merkel – aber anders als gedacht
Erinnern Sie sich, wie bei Angela Merkels Abschied viele davon sprachen, man werde sie noch vermissen? Nun, so ist es tatsächlich gekommen, allerdings anders als damals geglaubt. Während sich die Sehnsucht nach Merkels Außen-, Sicherheits- oder Energiepolitik in überschaubaren Grenzen hält, fällt ihre Abwesenheit in der Debatte über Putins Ukrainekrieg unangenehm auf. »Die Altkanzlerin schuldet dem Land mehr als vornehmes Schweigen«, kommentiert heute mein Kollege Nikolaus Blome: »Auf ihre Art ist Merkel ein Ausfall wie Gerhard Schröder.«
Das ist natürlich ein drastischer Vergleich. Aber tatsächlich wüsste man von Merkel gern, wie es dazu kam, dass sich Deutschland unter ihrer Führung immer mehr in Abhängigkeit von russischem Erdgas begab. Warum sie die Bundeswehr in diesem Zustand hinterließ. Und was der Westen nun tun könnte, um Putin zu stoppen – immerhin hat Merkel vergleichsweise viel Zeit mit ihm verbracht.
Nikolaus schreibt, Merkels Nachbarn auf ihrem Flur in einem etwas abgelegenen Bundestagsgebäude sagten, sie komme regelmäßig in die Büros, doch sie rede nicht viel. Angeblich arbeite sie mit ihrer engsten Vertrauten an politischen Memoiren. »Wenn sie vorn anfängt, im Jahr 2005 also, dann wird es bis in die jüngere Gegenwart länger brauchen, als der Ukraine guttut«, so Nikolas.
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Lesen Sie hier die ganze Kolumne: Wir wollen Merkel sehen!
3. Homeoffice-Trend macht Büromieten billiger? Falsch gedacht
Seit sich die Deutschen wegen Corona ans digitale Arbeiten im Homeoffice gewöhnt habe, bleiben viele Büros tagelang leer, nicht nur beim SPIEGEL, wo man dem Vorsichtsprinzip folgend noch immer lieber so tut, als gäbe es einen Lockdown. Erstaunlicherweise sind die Mieten für Büroimmobilien in Deutschland im vergangenen Jahr aber nicht gesunken, sondern sogar gestiegen, und zwar um fünf Prozent. Die höchsten Zuwächse gab es mit einem Plus von 14,6 Prozent in Bremerhaven. Auch in Potsdam, Münster und Leipzig stiegen die Mieten überdurchschnittlich. Darüber informierten heute das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und der Projektentwickler Preig.
Hauptursache für die Entwicklung sei wohl, dass sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Bürobeschäftigten um eine Viertelmillion erhöht habe, heißt es in der Studie. Außerdem werde bei der Arbeitsplatzgestaltung auf größere Abstände geachtet
Für das laufende Jahr rechnen die Experten mit einer stabilen Entwicklung des Büromarktes. Die starke Steigerung der Energiepreise könne allerdings zu einer Spaltung des Marktes führen. Bei Gebäuden mit hoher Energieeffizienz dürften die Mieten steigen, bei unsanierten Gebäuden nicht.
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Lesen Sie hier mehr: Büromieten steigen trotz Homeoffice-Boom
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Israel verlangt Entschuldigung für Lawrows Nazivergleich: »Hitler hatte auch jüdisches Blut«: Eine Äußerung des russischen Außenministers mit Bezug zum Ukrainekrieg sorgt in Israel für Empörung – zumal er auch noch darüber fabulierte, wer angeblich die eifrigsten Antisemiten seien.
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»Diese Hitzewelle testet die Grenzen der menschlichen Überlebensfähigkeit«: Der indische Frühling ist so heiß wie nie seit Beginn der Aufzeichnung. Die Temperaturen bedrohen die Gesundheit vieler.
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Bericht über Sexisten-Ehrung – Premier Johnson unter Druck: Bei einer Weihnachtsfeier in Downing Street soll einem Bericht zufolge der »Sexist des Jahres« gekürt worden sein. Großbritanniens Opposition verlangt Antworten.
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Jean-Luc Mélenchon will Premierminister in Frankreich werden: Kurz vor den Parlamentswahlen in Frankreich haben sich Grüne und Linke verbündet. Mit Jean-Luc Mélenchon wollen sie den Premierminister stellen – brauchen dafür aber erst mal die Mehrheit im Parlament.
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Russen sollen Landmaschinen gestohlen haben – und an deren elektronischer Sperre scheitern: Nicht nur auf ukrainisches Getreide, sondern auch auf Mähdrescher und Traktoren haben es russische Invasoren einem CNN-Bericht zufolge abgesehen. Doch nun bekommen sie die Technik offenbar nicht zum Laufen.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Besser putzen mit Bakterien
An der Berliner Charité haben Reinigungskräfte ein Wunderputzmittel entdeckt: Bakterien. In jedem Milliliter einer neuartigen Reinigungsflüssigkeit tummelten sich etwa 50 Millionen Mikroben. Die Putzleute verteilten sie großzügig über Böden, Waschbecken und Türklinken. Mit einem verblüffenden Ergebnis, wie mein Kollege Jörg Blech aus dem Wissenschaftsressort recherchiert hat: Die Mikroben fraßen nicht nur den Schmutz weg. Sie wirkten auch besser gegen gefährliche Klinikkeime als herkömmliche Desinfektionsmittel.
Die Ärztin Petra Gastmeier, die das Institut für Hygiene und Umweltmedizin an der Charité leitet, hat Jörg erklärt, wie das Putzwunder funktioniert: »Wir verwenden gute Bakterien gegen schlechte Bakterien«, sagte sie ihm. »Die guten Bakterien besetzen nicht nur die Fläche, sondern sie konkurrieren mit den pathogenen Erregern auch um die Nahrungsbestandteile, die da eventuell vorhanden sind.«
In weiteren Experimenten wollen die Forschenden aus Berlin und Jena demnächst herausfinden, ob der neue Putzplan die Zahl der Krankenhausinfektionen tatsächlich verringern kann. Dann wäre sogar ein Einsatz im Operationssaal denkbar.
Jörg schreibt, dass der Chef der Putzkolonne die Bakterienlösung auch bei sich zu Hause ausprobiert habe. Mit Erfolg: Fugen, Rillen und Fliesen seien sehr schön sauber geworden.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Bakterien als Desinfektionsmittel im Krankenhaus
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wie die Kaufprämie am Elektroauto-Ziel vorbeiführt: Beim Klimaschutz setzt die Ampelkoalition voll auf Elektroautos. Es fließen üppige Subventionen, so viele Fahrer wie nie möchten umsteigen – doch Autos sind kaum zu bekommen. Die Planung führt offenbar in die Irre.
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Auf einmal wird der Kanzler laut: Interviews, ein Gastbeitrag, kämpferische Reden: Olaf Scholz hat seine Kommunikation zum Krieg in der Ukraine geändert. Was bedeutet der neue Stil?
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Das Social-Media-Wunder mit den spektakulären Dunks: Die NBA ist die weltweit erfolgreichste Liga in den sozialen Netzwerken. Auch dank Typen wie Ja Morant, bei dem sogar missglückte Aktionen viral gehen. Wer ist dieser Mann?
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Das fehlende Puzzleteil finden: Wer Erfüllung finden möchte, muss zunächst herausfinden, was überhaupt Sinn ins Leben bringt. Eine Übung hilft, hier mehr Klarheit zu bekommen.
Was heute weniger wichtig ist
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Prinzessin Zahnlücke: Die britische Prinzessin Charlotte ist heute sieben Jahre alt geworden. Zur Feier des Tages veröffentlichte das Königshaus zwei Fotos, die ihre Mutter, Herzogin Kate, geschossen haben soll. Auf den Bildern sitzt Charlotte zwischen Glockenblumen. Sie hält den schwarzen Cockerspaniel der Familie im Arm und zeigt gut gelaunt eine alterstypische Zahnlücke. »Alles Gute zum siebten Geburtstag!« twitterte der offizielle Account der Königsfamilie zu ihrem Ehrentag. Charlotte ist das mittlere der drei Kinder von Prinz William und Herzogin Kate – ihr Sohn George ist acht Jahre alt, Prinz Louis vier.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Nun regiert der Streamingservice auf die schlechten Zahlen mit Sparmaßnahmen, die auch Projekte mit sehr prominenten Beteiligten betreffen.«
Cartoon des Tages: Deutschland im Gespräch
Foto:
Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Meine unerschrockenen Kollegen von SPIEGEL TV waren wieder im Rockermilieu unterwegs. Sie trafen Kassra Zargaran, Spitzname »der Perser«, der nach einem Mord bei den »Hells Angels« ausstieg und sich der Polizei als Kronzeuge anbot. Sie brachten Ermittler dazu, erstmals vor laufender Kamera über ihre Ermittlungen gegen kriminelle Rocker zu berichten. Und sie bekamen Zugriff auf bislang unbekannte Videoaufnahmen und Telefonmitschnitte. Das Ergebnis ihrer Recherchen ist eine zweiteilige Dokumentation mit intimen Einblicken in eine Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln und kaum fassbarer Brutalität. Teil eins können Sie heute Abend bei SPIEGEL TV im Fernsehen sehen, ab 23.35 Uhr auf RTL.
Schreiben Sie mir gern, wenn Ihnen an dieser Abendlage etwas aufgefallen sein sollte; ich freue mich auf Ihr Feedback: alexander.neubacher@spiegel.de
Ich wünsche Ihnen einen spannenden Abend.
Herzlich Alexander Neubacher
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.