Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um den Sieg Emmanuel Macrons in Frankreich und seine Folgen für Europa sowie den Kampf gegen Putin. Außerdem fragen wir uns, warum die SPD sich mit historischen Fehlern so schwertut, weshalb wir am Ende bei Gerhard Schröder landen.
Macron gewinnt, was macht Scholz?
Es ist nicht so knapp ausgegangen, wie befürchtet. Aber der Abstand ist dennoch beängstigend gering. Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahl gegen Marine Le Pen gewonnen, mit rund 60 zu 40 Prozent, bei historisch geringer Wahlbeteiligung.
Wahlsieger Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte Macron
Foto: Aurelien Meunier / Getty Images
Aber 40 Prozent für Le Pen – das bedeutet, dass gut 14 Millionen Französinnen und Franzosen ihre Stimme einer Rechtsradikalen gegeben haben, einer Anhängerin des russischen Kriegstreibers, einer Anti-Europäerin.
Hätte Le Pen gewonnen, wäre das der größte Sieg Putins gewesen, ganz ohne Blutvergießen. Die EU wäre am Ende, Deutschland ohne seinen wichtigsten Partner, die Atomwaffen in der Hand einer Putinista und Nationalistin.
Europa hat in Macron jetzt einen eindeutigen Anführer. Der deutsche Kanzler hat ja in den Wochen seit dem russischen Überfall deutlich gemacht, dass er diese Rolle nicht übernehmen möchte.
Verbündete Le Pen, Putin, im März 2017 in Moskau
Foto: ITAR-TASS / IMAGO
Heißt auch: Scholz muss Macron künftig mit aller Macht stützen, muss ihn führen lassen. Er darf Macron, anders als seine Vorgängerin Angela Merkel, keine Steine in den Weg legen. Macron will es offenbar noch einmal versuchen, nach seinem Sieg hat er Beethovens »Ode an die Freude« spielen lassen – wie bei seinem ersten Anlauf auf die Führungsrolle in Europa vor fünf Jahren.
Diesmal gilt es. Macron und sein Juniorpartner Scholz haben nur zwei Jahre Zeit, um aus der EU einen Staatenverbund zu machen, der auch auf sich allein gestellt seinen Platz und seine Rolle in der Welt verteidigen kann.
Denn in zwei Jahren sind Präsidentschaftswahlen in den USA. Gewinnt dort ein Putin-Freund aus den Reihen der Republikaner, ist Amerika ausgeschaltet. Auf dieses Worst-Case-Szenario gilt es sich jetzt vorzubereiten.
Lage der Ampel
Der Großteil des Personals der rot-grün-gelben Regierung hat noch nicht geliefert, wie man so schön sagt.
Die Verteidigungsministerin Lambrecht fremdelt mit ihrem Job, der Gesundheitsminister Lauterbach handelt anders als er redet, die Minister Wissing und Buschmann sind vor allem FDP-Minister und lassen weder auf der Autobahn noch im Kampf gegen Corona Einschränkungen zu. Und der Kanzler? Schweigt, wo er führen sollte.
Nur bei den Grünen alles tutti? Wirtschaftsminister Habeck wirkt schließlich in seiner zerknitterten Redemächtigkeit wie der Reservekanzler, Außenministerin Baerbock macht international deutlich, dass sie anders würde, wenn sie nur dürfte (Stichwort schwere Waffen).
Künftige Familienministerin Paus
Foto: CLEMENS BILAN / POOL / EPA
Doch ach, den ersten Rücktritt hat dennoch die grüne Regierungsmannschaft verbucht.
Am Nachmittag erhält Anne Spiegel ihre Entlassungsurkunde als Familienministerin vom Bundespräsidenten, Nachfolgerin Lisa Paus bekommt entsprechend die Ernennungsurkunde.
Lage der SPD
Die deutsche Sozialdemokratie weiß gerade selbst nicht, wie ihr geschieht. Da ist einerseits die noch immer überraschende, fulminante Rückkehr ins Kanzleramt nach 16 gefühlten Doom-Jahren. Mehr noch: Heute übernimmt im Saarland die bei der Wahl im März auf rund 44 Prozent aufgepumpte SPD die Alleinregierung. Am Vormittag soll die Sozialdemokratin Anke Rehlinger zur Ministerpräsidentin gewählt werden.
Künftige Ministerpräsidentin Rehlinger
Foto: Thomas Lohnes / Getty Images
Andererseits steht die SPD wie keine andere demokratische Partei seit Wochen wegen ihrer Putin-Nähe der vergangenen beiden Jahrzehnten im Feuer. Die älteste deutsche Partei steckt in einer Sinnkrise. Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Rolf Mützenich, auch Olaf Scholz: Sie alle waren in der Vergangenheit davon überzeugt, dass man in Putin einen Partner statt eines Feindes haben könne, wenn man nur Dialog führe und Handel treibe.
Das war eine Fehlannahme mit bitteren Konsequenzen. Und nun? Aufarbeiten will die SPD ihre Fehler jedenfalls nicht wirklich.
»Wir werden uns mit diesen Dingen auseinandersetzen, aber nicht allein als Partei. Denn das ist keine reine Angelegenheit der SPD«, erläuterte Parteichefin Saskia Esken gerade meinem Kollegen Kevin Hagen.
Und der Kanzler? Der reagierte während eines SPIEGEL-Gesprächs in der vergangenen Woche (das Sie hier lesen können) deutlich genervt auf die Frage nach der Aufarbeitung. »Die Sozialdemokratische Partei«, sagte Scholz, »ist eine fest in das transatlantische Bündnis und den Westen eingebundene Partei, die die Vorwürfe, die da erhoben werden, nicht akzeptieren muss«.
Er sprach von »verfälschenden und verleumderischen Darstellungen«. Die These von sozialdemokratischen Verfehlungen sei nicht mehr als eine Kampagne.
Kanzler Scholz
Foto: LISI NIESNER / AFP
Scholz und Co. verweisen zudem auf Angela Merkel. Sie sei Kanzlerin gewesen, sie habe ebenso den Dialog mit Putin gesucht und etwa Nord Stream 2 vorangetrieben. Das stimmt. Aber entschuldigt das die jahrzehntelange Putin-Nähe der SPD?
Das Problem liegt wohl tiefer: Vielleicht ist die SPD zur Aufarbeitung eigener Fehler einfach nicht gut gerüstet. Schließlich ist das Selbstbild dieser über 150 Jahre alten Partei vor allem dieses: Auch in den furchtbaren Zeiten der deutschen Geschichte hat sie auf der richtigen Seite gestanden. Das kann wahrlich keine andere Parteienfamilie von sich behaupten, nicht die Liberalen, nicht die Christlichen, nicht die Konservativen.
Doch auch die SPD mit der weißen Weste hat historisch Fehler gemacht und ist vor historischen Fehlern – siehe Putin – nicht gefeit. Es passt eben nicht zum Selbstbild, deshalb ist die Sache mit der Aufarbeitung womöglich so kompliziert.
So brauchte die Partei 100 Jahre für die Erkenntnis, dass der Sozialdemokrat Gustav Noske »wahrscheinlich« bei der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts während der Revolution 1918/19 »seine Hände im Spiel hatte« (damalige SPD-Chefin Andrea Nahles). Friedrich Ebert hingegen, der das Bündnis mit den alten Eliten gesucht hatte, statt die bürgerlich-sozialdemokratische Revolution durchzuziehen und Deutschland dauerhaft stabil im Westen zu verankern, gilt noch heute vielen Sozialdemokraten als Partei-Ikone.
Ende eines Altkanzlers
Eine tragische Figur der Parteigeschichte ist auch Gerhard Schröder. Der Mann, der dem Land als Kanzler einen großen Dienst erwiesen hat, hat es als Altkanzer verraten.
Sein Bündnis mit und seine Arbeit für Putin, den Kriegsverbrecher, verschattet seine Amtszeit. Oder, wie es Schröder jetzt in Gesprächen mit der »New York Times« zum Ausdruck gebracht hat: Er besitze noch das Vertrauen von Russland, nicht aber von Deutschland.
Gaslobbyist Schröder
Foto:
Jens Schicke / IMAGO
Kanzler Scholz, sein einstiger Generalsekretär, sowie Parteichef Lars Klingbeil, sein einstiger Mitarbeiter, haben Schröder zum Rückzug von seinen russischen Posten aufgefordert. Schröder ignoriert all das, richtet sich ein in politischer Sturheit: »Ich mache jetzt nicht einen auf Mea culpa«, sagte er der »New York Times«: »Das ist nicht mein Ding.«
Selbst die russischen Kriegsverbrechen scheinen ihn von seinem Kurs ins Aus nicht abzubringen. Das Massaker im Kiewer Vorort Butscha müsse untersucht werden. Er glaube aber nicht, dass die Befehle von Putin gekommen seien, sondern von niedrigeren Stellen.
Dabei hat der Kreml-Herrscher Schröders Wenn-das-der-Putin-wüsste-Rhetorik längst selbst entlarvt. Vor gut einer Woche zeichnete er die 64. Motorisierte Infanteriebrigade mit dem Ehrentitel einer »Garde« aus. Es ist jene Brigade, die in Butscha wütete. Die Auszeichnung wird mit »Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut« der Mitglieder begründet.
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