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Scholz und der Ukraine-Krieg: “Es darf keinen Atomkrieg geben” //

>>Was noch verfugbar gemacht werden kann, liefern wir auf jeden Fall<<: Im SPIEGEL-Interview verspricht Bundeskanzler Scholz weitere Waffen fur die Ukraine. Er sagt auch, warum er in dieser Krise zogerlich agiert und welche Fehler die SPD in ihrer Russlandpolitik gemacht hat.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, sind Sie ein Pazifist?

Scholz: Nein.

SPIEGEL: Warum nicht?

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Scholz: In der Welt, in der wir leben, ist es notwendig, die eigene Sicherheit auch mit einer ausreichenden Verteidigungsfahigkeit zu gewahrleisten. Als Abgeordneter und als Regierungsmitglied habe ich viele Male Einsatzen der Bundeswehr im Ausland zugestimmt. Das hatte ich als Pazifist nicht machen konnen.

SPIEGEL: Ist die SPD eine pazifistische Partei?

Scholz: Die SPD ist eine Friedenspartei, aber sie war nie pazifistisch. Die beiden grossen sozialdemokratischen Nachkriegskanzler, Willy Brandt und Helmut Schmidt, haben die Sicherheitslage in Europa und die Verteidigungsfahigkeit Deutschlands zu ihren Lebensthemen gemacht. Ihre Entspannungspolitik basierte auf der Einbindung in die Nato.

SPIEGEL: Joschka Fischer, der ehemalige grune Aussenminister, sagt, die deutsche Gesellschaft musse ihren instinktiven Pazifismus uberdenken. Liegt er da richtig?

Scholz: Zur Tradition unseres Landes gehort das Wissen um die dramatischen Konsequenzen zweier von Deutschland ausgehender Weltkriege, das den Rahmen unserer Politik bildet. Aber instinktiven Pazifismus kann ich nicht erkennen. Wie hatte sonst die Regierung von Gerhard Schroder den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr unterstutzen konnen? Wie hatte es nach 9/11 das Afghanistan-Engagement der Bundeswehr geben konnen? Uber beides gab es heftige Debatten, aber da war grosser Ruckhalt.

Kniefall von Willy Brandt in Warschau


Foto: Sven Simon

SPIEGEL: Wir halten also fest: Weder Sie, noch die SPD oder die Deutschen sind pazifistisch gepragt. Warum tun Sie dann nicht alles, was in Ihrer Macht steht, um der Ukraine militarisch gegen Russland beizustehen?

Scholz: Wir tun genau das.

SPIEGEL: Seit Tagen drangen Kiew, die Bundnispartner und Politiker Ihrer Koalition, bis hin zur Aussenministerin, auf die Lieferung schwerer Waffen. Warum tun Sie das nicht?

Scholz: Dann lassen Sie uns erst mal daruber reden, was wir tun. Wir haben aus den Bestanden der Bundeswehr Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrgerate, Munition, Fahrzeuge und viel Material geliefert, das der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf unmittelbar geholfen hat – genauso wie Dutzende Verbundete. Das sehen wir an den militarischen Erfolgen der ukrainischen Armee.

SPIEGEL: Die Ukrainer haben vor Wochen eine Liste der Waffen geschickt, die sie dringend brauchen. Was spricht dagegen, diese schnellstmoglich abzuarbeiten?

Scholz: Die Moglichkeiten der Bundeswehr, aus ihrem Arsenal weitere Waffen zu liefern, sind weitgehend erschopft. Was noch verfugbar gemacht werden kann, liefern wir aber auf jeden Fall noch – Panzerabwehrwaffen, Panzerrichtminen und Artilleriemunition. Deshalb haben wir im Gesprach mit der deutschen Industrie eine Liste von militarischer Ausrustung erstellt, die rasch lieferbar ist, und sie mit dem ukrainischen Verteidigungsministerium besprochen. Wie bisher also Verteidigungswaffen und Morser fur Artilleriegefechte. Diese Waffenlieferungen bezahlen wir. Insgesamt stellt Deutschland zwei Milliarden Euro zur Verfugung, ein grosser Teil davon kommt direkt der Ukraine zugute.

SPIEGEL: Andere liefern schweres Kriegsgerat, Deutschland zuckt das Scheckbuch. Ist das die Rollenverteilung in diesem Krieg?

Scholz: Falsch! In enger Abstimmung mit den USA, Frankreich, Italien, Grossbritannien und Kanada haben wir Waffen geliefert fur die anstehenden Gefechte in der Ostukraine. Truppentransporter und Artillerie sind schnell einsetzbar. Deshalb sind wir bereit, unseren Verbundeten beim Schnell-Training auf diesen Geraten zu helfen und schauen, ob sich geeignetes Gerat unsererseits noch beschaffen lasst. Das militarische Gerat muss ohne langwierige Ausbildung, ohne weitere Logistik, ohne Soldaten aus unseren Landern eingesetzt werden konnen. Das geht am schnellsten mit Waffen aus ehemaligen sowjetischen Bestanden, mit denen die Ukrainer gut vertraut sind. Deshalb ist es kein Zufall, dass mehrere osteuropaische Nato-Partner jetzt solche Waffen liefern und bisher kein Bundnispartner westliche Kampfpanzer. Die Lucken, die durch diese Lieferungen bei den Partnern entstehen, konnen wir sukzessive mit Ersatz aus Deutschland fullen, wie wir es gerade im Fall Slowenien besprochen haben. Mittelfristig werden wir der Ukraine dabei helfen, ihre Verteidigungsfahigkeit auszubauen, auch mit westlichen Waffen.

Scholz im SPIEGEL-Gesprach: >>Man muss schon genau hinsehen, wie einsatzfahig welches Material wirklich ist – und wann<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Wenn der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk deutsche Marder-Panzer fordert, hat er also nicht begriffen, dass seine Armee sie nicht bedienen kann?

Scholz: Noch mal: Wir helfen der ukrainischen Regierung jetzt dabei, Rustungsguter zu beschaffen, die dem vereinbarten Rahmen unserer Bundnispartner entsprechen. Und das so schnell wie moglich, um die massive Offensive Russlands im Osten aufzuhalten. Wenn ich mich in der Welt umschaue, sehe ich, dass alle Partner sich wie wir im Rahmen unserer Vereinbarungen bewegen.

SPIEGEL: Kanada, die USA, die Niederlande wollen sehr schnell schweres Gerat an die Ukraine liefern. Warum fallen wir zuruck?

Scholz: Liefern kann man nur, was man hat und hergeben kann. Man muss schon genau hinsehen, wie einsatzfahig welches Material wirklich ist – und wann. Wenn ich ein Fahrzeug liefere, das von jedem Maschinengewehr durchschossen werden kann, hilft das den ukrainischen Truppen wenig.

SPIEGEL: Kiew schlagt vor, dass Deutschland kontinuierlich sein einsatzfahiges Gerat aus der Bundeswehr liefert und es dann nach und nach ersetzt. Was spricht dagegen?

Scholz: Die Notwendigkeit, das Bundnisgebiet jederzeit verteidigen zu konnen. Das ist eine schwierige Abwagung, die wir gemeinsam mit unseren Partnern standig treffen mussen. Denn die Bedrohung des Nato-Gebiets durch Russland besteht ja fort. Das horen wir ja insbesondere von unseren baltischen Partnern, die uns deshalb um eine verstarkte Bundeswehrprasenz bitten. Wir sind deshalb unter anderem in der Slowakei und Litauen mit Verbanden stark engagiert. Die Nato hat das Ziel ausgegeben, dass wir bei einem konventionellen Angriff zwolf Tage mit unserer Munition und unserer Ausrustung standhalten mussen. Gerade in der jetzigen Bedrohungslage werde ich alles daransetzen, diese Verpflichtung nicht zu vergessen.

SPIEGEL: Die US-Regierung sagt, von Joe Bidens Unterschrift bis zur Lieferung der Waffen in die Ukraine vergingen nur 48 Stunden. Bei uns dauert es eher 48 Tage.

Scholz: Das habe ich auch gelesen. Bei Lieferungen aus unseren Bestanden ging es auch zugig. Das US-Militar hat deutlich grossere Bestande. Die Sparpolitik bei der Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten hat ihre Spuren hinterlassen. Das andern wir gerade.

SPIEGEL: Ihre Kritiker, die Lieferungen schwerer Waffen fordern, haben Sie als >>Jungs und Madels<< abqualifiziert, die sich ihr Wissen zusammengegoogelt hatten. Warum diese Arroganz?

Scholz: Man merkt, wie angespannt die Lage ist, wenn ein Spruch in einem Radiointerview gleich als Beleidigung aufgefasst wird. Naturlich gibt es bei einer so aufwuhlenden Frage wie Waffenlieferungen viele, die eine andere Meinung haben als ich, und das auch offentlich sagen. Das gehort in einer guten Demokratie dazu.

SPIEGEL: In Ihren Argumenten gegen die Lieferung schwerer Waffen schlagen Sie standig Haken: Mal sind die Ukrainer nicht gut genug ausgebildet, mal sind die Waffen nicht startklar, mal konnen wir selbst nichts mehr abgeben. Merken Sie nicht, wie verwirrend diese wechselnden Botschaften sind?

Scholz: Fur Deutschland war es ein tiefgreifender Kurswechsel, als ich angekundigt habe, Waffen in dieses Kriegsgebiet zu liefern. Das mochte ich festhalten. Viele, die diesen Schritt fruher kategorisch abgelehnt haben, uberbieten sich jetzt mit Forderungen, noch viel mehr zu liefern – ohne die genaue Sachlage zu kennen. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber in dieser Lage braucht es einen kuhlen Kopf und gut abgewogene Entscheidungen, denn unser Land tragt Verantwortung fur Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Ich halte es nicht fur gerechtfertigt, dass Deutschland und die Nato Kriegsparteien in der Ukraine werden.

Trauernde Ukrainerin in Mariupol: >>Wir treten dem furchtbaren Leid, das Russland anrichtet, mit allen Mitteln entgegen<<


Foto: Alexander Ermochenko / REUTERS

SPIEGEL: Das fordert Kiew gar nicht, man bittet verzweifelt um Waffen. Wovor haben Sie Angst?

Scholz: Noch mal: Wir liefern Waffen, und viele unserer Verbundeten tun es auch. Es geht doch nicht um Angst, sondern um politische Verantwortung. Eine Flugverbotszone einzufuhren, wie gefordert wurde, hatte die Nato zur Kriegspartei gemacht. Ich habe einen Amtseid geschworen. Ich habe sehr fruh gesagt, dass wir alles tun mussen, um eine direkte militarische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerusteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden. Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg fuhrt. Es darf keinen Atomkrieg geben.

SPIEGEL: Was lasst Sie denken, dass Panzerlieferungen aus Deutschland diese furchtbaren Konsequenzen hatten?

Scholz: Es gibt kein Lehrbuch fur diese Situation, in dem man nachlesen konnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. Das Buch wird taglich neu geschrieben, manche Lektionen liegen noch vor uns. Umso wichtiger ist es, dass wir jeden unserer Schritte genau uberlegen und eng miteinander abstimmen. Eine Eskalation in Richtung Nato zu vermeiden, hat fur mich hochste Prioritat. Deshalb schiele ich nicht auf Umfragewerte oder lasse mich von schrillen Rufen irritieren. Die Konsequenzen eines Fehlers waren dramatisch.

SPIEGEL: Haben Sie aus Ihrer Begegnung und den Telefonaten mit Wladimir Putin den Eindruck gewonnen, dass er Atomwaffen einsetzen konnte?

Scholz: Russland steckt in dramatischen Schwierigkeiten, die Sanktionen richten gewaltige Schaden in Russlands Wirtschaft an, die Kette militarischer Niederlagen kann von keiner Regierungspropaganda mehr schongeredet werden. Ein kalter Frieden, der nicht mit einem Abkommen besiegelt wurde, wird Russland nicht aus dem Sanktionsregime befreien. Putin steht gewaltig unter Druck.

SPIEGEL: Wenn wir Panzer liefern, droht ein Atomschlag – warum sagen Sie das den Deutschen nicht so klar?

Scholz: Es tut mir leid, aber mit derartigen Vereinfachungen kommen wir nicht weiter! Ich bleibe dabei: Wir werden alles genau bedenken, stets neu abwagen, uns mit unseren engsten Verbundeten besprechen und keine deutschen Alleingange unternehmen.

Regierungschef Scholz: >>Ich habe Prasident Putin davor gewarnt, B- und C-Waffen einzusetzen<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Ihre Umfragewerte brechen ein. Konnte das auch an dem Eindruck liegen, dass in der Ukraine Menschen massakriert werden, wahrend in Deutschland noch Formulare ausgefullt werden mussen?

Scholz: Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Satz die Realitat widerspiegelt? Mich haben die Gesprache mit Helmut Schmidt sehr beeindruckt, der mir seine Gefuhle geschildert hat, als die demokratischen Bewegungen in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in der DDR von Panzern niedergeschlagen wurden. Diese Gesprache helfen mir heute, meiner eigenen Verantwortung ins Auge zu sehen, wenn wir alles Erdenkliche tun, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen.

SPIEGEL: Gibt es fur Sie eine rote Linie, die Putin nicht uberschreiten darf?

Scholz: Wir mussen unsere Prinzipien taglich mit der Wirklichkeit abgleichen. Aber an den Prinzipien selbst andert sich nichts: Wir treten dem furchtbaren Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslost.

SPIEGEL: Der Einsatz von Chemiewaffen ware fur Sie keine rote Linie?

Scholz: Ich habe Prasident Putin davor gewarnt, B- und C-Waffen einzusetzen. Diese ernste Warnung haben auch andere ihm gegenuber formuliert.

Scholz im SPIEGEL-Gesprach: >>Ich sehe uberhaupt nicht, dass ein Gasembargo den Krieg beenden wurde<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Furchten Sie nicht, hinterher sagen zu mussen: Wir hatten mehr tun mussen, um dieses Toten zu stoppen?

Scholz: Wer es nicht fur moglich halt, uber eigenes Handeln nachtraglich anders zu urteilen als mittendrin im Geschehen, kann nicht verantwortlich handeln. Trotzdem muss ich jetzt handeln. Die Prinzipien, die ich im Gesprach mit Ihnen geschildert habe, tragen mein Handeln.

SPIEGEL: Was ist Ihr wichtigstes Ziel in der jetzigen Lage? Muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen? Muss der Krieg moglichst schnell zu Ende sein? Oder muss Deutschland bestmoglich verschont bleiben?

Scholz: Es muss einen Waffenstillstand geben, die russischen Truppen mussen sich zuruckziehen. Es muss eine Friedensvereinbarung geben, die der Ukraine ermoglicht, sich in Zukunft selbst zu verteidigen. Wir werden sie so ausrusten, dass ihre Sicherheit garantiert ist. Und wir stehen als Garantiemacht zur Verfugung. Einen Diktatfrieden, wie er Putin lange vorgeschwebt hat, wird es nicht geben.

SPIEGEL: Wie kann ein Friedensschluss aussehen?

Scholz: Die Ukraine wird die Bedingungen fur einen Friedensschluss formulieren, niemand kann das stellvertretend machen. Das ware unangemessen.

SPIEGEL: Sie betonen die Souveranitat der Ukraine, zugleich erfullen Sie ihr aus Angst vor wirtschaftlichen Verwerfungen nicht den Wunsch eines sofortigen Gasembargos. Wir Deutschen fullen Putins Kriegskasse also weiter. Verstehen Sie, dass Kiew Ihre Worte als Hohn empfinden kann?

Scholz: Erstens: Ich sehe uberhaupt nicht, dass ein Gasembargo den Krieg beenden wurde. Ware Putin fur wirtschaftliche Argumente zuganglich, hatte er diesen Wahnsinnskrieg nie begonnen. Zweitens: Sie tun so, als gehe es uns ums Geldverdienen. Aber es geht darum, dass wir eine dramatische Wirtschaftskrise vermeiden wollen, den Verlust von Millionen Arbeitsplatzen und von Fabriken, die nie wieder aufmachen wurden. Das hatte erhebliche Konsequenzen fur unser Land, fur ganz Europa, und es wurde auch die Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine stark in Mitleidenschaft ziehen. Deshalb ist es meine Verantwortung zu sagen: Das konnen wir nicht zulassen. Und drittens, denkt eigentlich jemand an die globalen Folgen?

Kanzler Scholz: >>Wenn Staatschefs in Geschichtsbuchern blattern und gucken, wo fruher Grenzen verlaufen sind, um daraus Konsequenzen fur die heutige Zeit abzuleiten, ist der Friede bedroht<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Bundesprasident Frank-Walter Steinmeier hat gesagt: Wir sind mit der Errichtung eines gemeinsamen europaischen Hauses, in das Russland einbezogen wird, gescheitert. Stimmen Sie dem zu?

Scholz: Russland muss akzeptieren, dass sich nahe seiner Grenze offene Gesellschaften zu einer starken Europaischen Union zusammengefunden haben, die uber die grosste Wirtschaftskraft eines okonomischen Raums in der Welt verfugt. In einer Rede, die ich 2016 als Hamburger Burgermeister in Sankt Petersburg halten durfte, habe ich genau das formuliert. Und Russland sollte klar sein, dass niemand den Plan hat, Russland militarisch anzugreifen oder von aussen einen Regierungswechsel herbeizufuhren.

SPIEGEL: Mussen wir nach der Invasion ernsthaft Putin versichern, dass wir seinem Land nichts Boses wollen?

Scholz: Meine Antwort bezog sich auf das Jahr 2016. Richtig bleibt bis heute, dass es Sicherheit in Europa nur geben kann, wenn wir die Souveranitat der Nationen und die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkennen. Dieses Prinzip hat Russland brutal missachtet, nicht erst mit der Invasion, sondern schon mit der Annexion der Krim, mit dem Inszenieren des Aufstands in den Donbass-Regionen und in anderen Teilen der Welt. Wenn Staatschefs in Geschichtsbuchern blattern und gucken, wo fruher Grenzen verlaufen sind, um daraus Konsequenzen fur die heutige Zeit abzuleiten, ist der Friede bedroht.

SPIEGEL: Wenn Moskau dieses Prinzip schon 2014 verletzt hat, war es dann nicht ein Fehler, das deutsch-russische Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 weiterlaufen zu lassen?

Scholz: Was die Abhangigkeit von russischem Gas, Ol und Kohle betrifft, hatte man fruh dafur sorgen mussen, dass man innerhalb kurzester Zeit auch von anderen Lieferanten bedient werden kann. Notfalls hatte Deutschland Flussiggasterminals und Importinfrastrukturen fur die ostdeutschen Olraffinerien finanzieren mussen, selbst wenn sie nicht wirtschaftlich gewesen waren. Das ist der eigentliche Fehler, der mich schon lange umtreibt.

SPIEGEL: Nord Stream 2 war nie essenziell fur unsere Energieversorgung.

Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern: Die Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 2


Foto: Stefan Sauer / dpa

Scholz: Richtig. Das Problem ist nicht, dass es zwei, drei oder vier Pipelines gibt, sondern dass alle aus Russland kommen.

SPIEGEL: Russland ging es bei Nord Stream 2 aber darum, die Ukraine von der Gasdurchleitung auszuschliessen. Warum haben Sie dieses Ansinnen so lange unterstutzt?

Scholz: Gleichzeitig haben wir gerade deshalb die weitere Durchleitung von Gas durch die Ukraine vertraglich abgesichert. Und wenn Sie schon geostrategisch argumentieren, dann mussen Sie auch sagen: Der SPIEGEL hatte vielleicht LNG-Terminals nicht standig kritisieren sollen.

SPIEGEL: Aber noch mal: War es die richtige Antwort auf die Annexion der Krim, Russland zu ermoglichen, die Ukraine im Gasgeschaft zu isolieren?

Scholz: Die richtige Antwort ware gewesen, sich von russischen Importen starker unabhangig zu machen oder wenigstens technisch die Voraussetzungen dafur zu schaffen, es jederzeit tun zu konnen. Und ich sage mit dem Wissen von heute: Wir hatten mit einem Teil der Sanktionen, die wir jetzt verhangt haben, bereits auf die Annexion der Krim antworten sollen. Das hatte gewirkt.

SPIEGEL: Warum geht Ihnen der Satz nicht uber die Lippen: Nord Stream 2 war ein Fehler?

Scholz: Wir haben in Reaktion auf die russische Aggression die Inbetriebnahme verhindert. Und geostrategisch hatten wir schon viel fruher unsere Importe diversifizieren mussen. Und es ware auch fruher schon richtig gewesen, den Ausbau der erneuerbaren Energien so zu beschleunigen, dass wir auch der Umwelt wegen vom Import und der Nutzung fossiler Ressourcen unabhangig werden.

Scholz: >>Seit Adenauers Zeiten gibt es diese verfalschenden und verleumderischen Darstellungen der Europa- und Russlandpolitik der SPD<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Sehen Sie wenigstens die Grundung einer von russischen Geldern finanzierten Stiftung fur den Bau von Nord Stream 2 heute als Fehler an?

Scholz: Das ist eine Entscheidung, die die Regierung und der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern getroffen haben.

SPIEGEL: Uber die Sie und die damalige Kanzlerin Angela Merkel vorab informiert wurden. Haben Sie Ihrer Parteifreundin und Ministerprasidentin Manuela Schwesig davon abgeraten?

Scholz: Es gehort zur Natur solcher Gesprache, dass sie vertraulich bleiben.

SPIEGEL: Wie standen Sie grundsatzlich zu dem Projekt?

Scholz: Ich habe damit gerechnet, dass die USA Sanktionen erlassen wurden. Da lag ich falsch.

SPIEGEL: In Mecklenburg-Vorpommern wird es vermutlich einen Untersuchungsausschuss geben. Muss die SPD ihre Russlandpolitik der letzten Jahre aufarbeiten?

Scholz: Seit Adenauers Zeiten gibt es diese verfalschenden und verleumderischen Darstellungen der Europa- und Russlandpolitik der SPD, das argert mich. Was die SPD auszeichnet, ist die klare Entspannungspolitik durch Brandt und Schmidt. Eine Politik, die moglich gemacht hat, dass der Eiserne Vorhang verschwindet, dass viele Lander Osteuropas die Demokratie gewinnen konnten und dass wir heute in der Europaischen Union vereint sind. Es war immer eine Politik, die auf eine starke Bundeswehr und die Eingebundenheit in den Westen gesetzt hat. Das ist die Tradition, fur die ich stehe.

SPIEGEL: Steinmeier sagt, es habe Fehler gegeben. Matthias Platzeck, der Ex-Ministerprasident von Brandenburg und zuletzt Leiter des Deutsch-Russischen Forums, sagt, er habe sich in Putin getauscht. Beides Politiker der SPD.

Scholz: Zahlen Sie Frau Merkel jetzt auch zur SPD?

Scholz im SPIEGEL-Gesprach: >>Ich werfe Ihnen vor, dass Sie fast wie Adenauer ein Zerrbild von sozialdemokratischer Politik zeichnen<<


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Wenn sie hier sasse, wurden wir sie genauso nach Fehlern der CDU-Russlandpolitik fragen. Aber jetzt regieren Sie.

Scholz: Deshalb die klare Aussage: Ich folge einem klaren Kurs, und das seit sehr langer Zeit. Auch, weil er die Demokratie im Osten gefordert hat. Als Transatlantiker ist es unsere Aufgabe, uns nicht nur auf uns selbst zu beziehen, sondern zu verstehen, dass der Wunsch, als Demokratie in einer freien Gesellschaft zu leben, universalistisch ist. Was Russland anbelangt, habe ich mich schon langer von kritischen Stimmen beeindrucken lassen, von literarischen Aufarbeitungen wie Masha Gessens Buch >>Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor.<< Das hat meine Uberzeugung gepragt, dass Russland den Weg zur Autokratie schon lange beschritten hat.

SPIEGEL: Konnen Sie verstehen, dass Sie auf manche Leute etwas arrogant wirken, weil Sie immer schon den richtigen Kurs gekannt haben wollen – und mit Fehlern Ihrer Partei nichts zu tun haben wollen?

Scholz: Nein, das stimmt nicht. Ich werfe aber Ihnen vor, dass Sie fast wie Adenauer ein Zerrbild von sozialdemokratischer Politik zeichnen und dringend darauf bestehen, dass wir endlich zugeben, so zu sein, wie andere von uns behaupten, dass wir seien. Die Sozialdemokratische Partei ist eine fest in das transatlantische Bundnis und den Westen eingebundene Partei, die die Vorwurfe, die da erhoben werden, nicht akzeptieren muss.

Scholz am Dienstagabend im Kanzleramt


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Dann also lieber gar keine Debatte?

Scholz: Ich lehne keine Debatte ab. Ich befurworte jede Diskussion uber die kunftige Politik. Aber ich weise zuruck, dass die Eintrittskarte fur eine Debatte eine Luge ist.

SPIEGEL: Dass Steinmeier einen Teil seiner Politik als Aussenminister als gescheitert ansieht, ist ja keine Luge.

Scholz: Weder dem fruheren Aussenminister noch der fruheren Bundeskanzlerin ist vorzuhalten, dass sie versucht haben, in Europa eine Ordnung zu schaffen, in der kein Land das andere uberfallt. Sie haben alles dafur getan, um zu verhindern, dass es zu dem Krieg kommt, den wir jetzt leider erleben. Dass das misslungen ist, liegt nicht an Frau Merkel oder Herrn Steinmeier, sondern am putinschen Imperialismus, der sich uber alles, was an Vereinbarungen und Verstandigung erzielt worden ist, hinweggesetzt hat. Putin ist der Aggressor, niemand sonst.

Regierungschef Olaf Scholz mit SPIEGEL-Redakteurin Melanie Amann (r.) und SPIEGEL-Redakteur Martin Knobbe im Kanzlerburo


Foto by Andreas Chudowski/DER SPIEGEL

SPIEGEL: Sie haben Ende Februar eine historische Rede im Bundestag gehalten und eine >>Zeitenwende<< angekundigt. Danach folgte allerdings wenig. Worauf mussen sich die Deutschen denn nun einstellen?

Scholz: Erstens setzen wir 100 Milliarden Euro ein, um die Bundeswehr besser auszustatten. Wir haben damit viele andere in Europa ermutigt, den gleichen Weg zu gehen. Zweitens beschleunigen wir mit viel Kraft die Energiewende, damit wir unabhangiger werden von Energie-Importen. Der dritte Teil ist die starke, souverane Europaische Union – Gemeinschaft bringt uns Schutz. Dazu gehort auch, dass die Staaten des westlichen Balkans in die EU gehoren. Da haben wir uns viel zu lange im Klein-Klein verloren. Fur all diese Entscheidungen haben wir eine breite Mehrheit im Parlament. Was die Bundeswehr betrifft, hoffentlich eine patriotische Mehrheit weit uber die Grenzen der Koalition hinaus.


SPIEGEL: Nicht alle standen der Bundeswehr bislang euphorisch gegenuber. Sind die Deutschen fur eine schlagkraftigere Armee bereit?

Scholz: Ja, auch weil sie wissen, dass eine besser ausgerustete Bundeswehr nicht einen Wechsel zu einer aggressiveren Politik Deutschlands bedeutet. Das ist das Besondere an dieser Zeitenwende: Es geht um unser Land, das sich als Demokratie nach all den Katastrophen der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts auf eine Weise neu aufgestellt hat, das niemand mehr ein militarisch starkeres Deutschland furchtet.

SPIEGEL: Herr Scholz, wir danken Ihnen fur dieses Gesprach.


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