Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um eine russische Polit-Serie, um Klimaproteste ausgerechnet in Brunsbüttel, um Lektüre für Christian Lindner, um die Mallorca-Affäre und um die Fans von Eintracht Frankfurt.
»Ich befehle Ihnen«
In der Polit-Serie »Putin regiert öffentlich Russland« lief gestern eine besonders spektakuläre Folge. Wladimir Putin sitzt mit seinem Verteidigungsminister Sergei Schoigu an einem Tisch, der gegenüber vorherigen Folgen stark geschrumpft ist, und sagt: »Ich befehle Ihnen, sie abzubrechen.« Gemeint ist die Erstürmung des Stahlwerks in Mariupol.
Ich finde das atemberaubend, ich habe mir das fünfmal angschaut. Putin sitzt in seinen Stuhl gelehnt, während der Verteidigungsminister auf der äußersten Kante hockt und sich schulbubenhaft nach vorne beugt, die Hände brav auf den Tisch gelegt. In einem kurzen Ausschnitt knallt ihm Putin dreimal den Imperativ hin: Ich befehle Ihnen, sperren Sie ab, fordern Sie auf.
Putin zeigt sich hier, erstens, als Allmächtiger, der einen Untertanen demütigt und sogar über den Luftraum der Insekten herrscht. Schoigu solle das Stahlwerk so absperren, »dass keine Fliege hindurchkann«. Zweitens gibt Putin den Wohltäter, der den eigenen Soldaten Leid erspart und den ukrainischen Verteidigern »professionelle ärztliche Hilfe« zusagt, wenn sie sich ergeben. Er spricht ein bisschen onkelhaft, seine rechte Hand umklammert den Tisch, der Daumen zuckt manchmal, als wolle er den Tisch streicheln.
Wladimir Putin und Sergej Schoigu
Foto: Russian Presidential Press Service / dpa
Was soll das? Warum macht er das? Er könnte das alles auch in einer Pressekonferenz verkünden oder per Dekret regeln. Warum dieses Staatsschauspiel, das grotesk wirkt, albern? Mögliche Antworten: Putin hat in der Isolation, in die autoritäre Herrscher oft geraten, jedes Gespür für soziale Situationen und die eigene Außenwirkung verloren. Oder er will dem Militär vermitteln, dass er es einerseits beherrscht und es andererseits gut mit ihm meint, weil er Unruhen unter den Soldaten fürchtet.
Ich kann die nächste Folge dieser Serie kaum erwarten.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Gutes Terminal, böses Terminal
Drei gigantische Probleme lasten derzeit auf Europa: der Krieg in der Ukraine mit seinen Folgen, die Pandemie und der Klimawandel. Für jedes dieser Probleme Lösungen zu finden ist schwer genug, zu allem Überfluss kollidieren diese Lösungen zum Teil.
Das wird sich heute in Brunsbüttel zeigen, wo Klima-Aktivisten gegen den Bau des ersten LNG-Terminals in Deutschland protestieren wollen. Damit könnte man Flüssiggas über den Seeweg importieren, ein wichtiger Schritt, um sich von Russland unabhängig zu machen. In den letzten Wochen galt Brunsbüttel als Hoffnungsschimmer.
Der Hafen von Brunsbüttel ist als Standort für ein neues LNG-Terminal geplant (Aufnahme vom 1. März)
Foto: Frank Molter / dpa
Allerdings ist Gas nicht klimafreundlich, deshalb die Proteste. Was tun? Wie löst man dieses Dilemma auf? Es liegt nahe, sich erst einmal um die Unabhängigkeit bei der Energie zu kümmern. Das ist das Problem, das aktuell drängt. So ist es aber meistens bei der Klimapolitik. Andere Themen erscheinen aktueller, wichtiger, da der Klimawandel in Europa noch nicht so schlimme Folgen hat wie zum Beispiel der Krieg in der Ukraine. Aber irgendwann wird der Klimawandel die aktuelle große Katastrophe sein, wenn es so weitergeht.
Was tun? Ich bin da ratlos. Vielleicht kann mir jemand helfen.
Black Spartacus
Einer fehlt, wenn heute Präsidium und Vorstand der FDP zusammenkommen, um sich für den Bundesparteitag am Wochenende vorzubereiten. Der Vorsitzende Christian Lindner weilt in Washington, weil er sich mit dem Corona-Virus infiziert hat. Quarantäne.
Mich würde interessieren, was er jetzt mit der geschenkten Zeit macht. Natürlich hat er virtuell Besprechungen, aber es wird auch Leerlauf geben in seinem stillen Zimmer. Schaut er exzessiv Serien oder liest er auch mal ein Buch?
Bundesfinanzminister Christian Lindner
Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa
Ich würde ihm gerne eins empfehlen, das Sachbuch, das ich gerade gelesen habe: »Black Spartacus – Das große Leben des Toussaint Louverture« von Sudhir Hazareesingh. Toussaint Louverture, wahrscheinlich 1740 als Sklave in Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, geboren, kämpfte später erfolgreich für die Freiheit aller Sklaven dort und sorgte dafür, dass sich Saint-Domingue mehr und mehr von der Kolonialmacht Frankreich löste. Das gefiel Napoleon gar nicht, Louverture wurde in eine Falle gelockt und nach Frankreich verfrachtet, wo man ihn in einer kalten Festung buchstäblich verrecken ließ.
In unserer großen Freiheitserzählung, für die Lindner ein besonderes Interesse haben dürfte, kommen eigentlich nur Weiße vor, in erster Linie die Männer der französischen und amerikanischen Revolution. Aber es gibt dazu auch eine schwarze Geschichte, und für die steht Toussaint Louverture wie kaum ein anderer.
Affäreninseln
Ist es nicht schade, dass die Namen der Urlaubsinseln Mallorca und Ibiza nun mit dem hässlichen Wort »Affäre« verknüpft sind? Wahrscheinlich war das in privaten Angelegenheiten hier und dort schon früher so, auch als Ehekiller, aber nun haben die Mallorca-Affäre und die Ibiza-Affäre politische Dimensionen.
Auf Ibiza wurde das Video gedreht, das den FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache erledigt und Österreich in eine Staatsaffäre gestürzt hat. Auf Mallorca hat die damalige Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, Ursula Heinen-Esser (CDU), ihren Geburtstag gefeiert, während in ihrem Bundesland Menschen mit den Folgen der Flut zu kämpfen hatten. Sie musste deshalb zurücktreten.
Ursula Heinen-Esser
Foto: Marius Becker / dpa
In Düsseldorf tagt heute der Untersuchungsausschuss, der Licht in diesen Fall bringen soll. Dabei geht es auch um den Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU). Man möchte vor allem wissen, seit wann er gewusst hat, dass Heinen-Esser und andere Mitglieder seiner Regierung auf Mallorca feiern.
Verlierer des Tages…
…sind leider die Fans von Eintracht Frankfurt. Vor einer Woche eroberten sie schlawinerhaft das Stadion des FC Barcelona, ergatterten vor allem im Internet Tickets und peitschten dann ihre Mannschaft voran, so dass Barcelona das Gefühl haben konnte, auswärts zu spielen. Frankfurt gewann überraschend 3:2 und zog ins Halbfinale der Europa League ein.
Dort trifft man auf den britischen Club West Ham United, der nun alles tut, um einen ähnlichen Scoop im eigenen Stadion zu verhindern. Engländer, die ihr Ticket im Internet verkaufen, werden mit Stadionverbot belegt. Den Frankfurtern bleiben daher wohl nur die 3000 Plätze im Gästebereich. In Barcelona hatten über 20.000 Fans die Eintracht unterstützt.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit