Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute befassen wir uns mit den Nöten von Olaf Scholz, mit einem ganz besonderen Botschafter, mit einem Missbrauchsskandal bei den Linken, mit dem öffentlichen Genuss von Cannabis und mit Georg Hackl.
Vertraut die Koalition ihrem Kanzler?
Schon klar, dass ein Regierungschef in einer parlamentarischen Demokratie nicht in jeder Stunde für jedes seiner Projekte eine Mehrheit braucht. Aber bei Bundeskanzler Olaf Scholz muss man sich fragen, ob die Koalition noch grundsätzlich hinter ihm steht.
Bei den großen politischen Themen dieser Zeit steht Scholz erstaunlich schwach da. In Sachen Corona gelang es ihm nicht, eine Impfpflicht durch den Bundestag zu bringen. Und würde die Union wirklich einen Antrag zur Waffenfrage im Parlament stellen, könnte Scholz eine weitere Niederlage drohen. Er ist dagegen, schwere Waffen direkt aus Deutschland in die Ukraine zu liefern, wie er gestern bekräftigt hat, Teile der Grünen und der FDP sind dafür. Die Mehrheit wackelt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
Foto: CLEMENS BILAN / POOL / EPA
Ähnlich sieht es bei seinem Großprojekt Sondervermögen für die Bundeswehr aus. Hier trifft ihn Widerstand aus den eigenen Reihen. In der SPD ist der pazifistische Flügel längst nicht davon überzeugt, dass dies eine sinnvolle Ausgabe ist. Scholz braucht dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und Friedrich Merz von der Union hat schon angekündigt, dass er ihm die nicht so einfach verschaffen wird.
Darüber hinaus wird Scholz von Spitzenpolitikerinnen und -politikern seiner Koalitionspartner unverblümt kritisiert. In Wahrheit müsste er die Vertrauensfrage stellen und überstehen, damit bewiesen wird, dass Deutschland in dieser schweren Zeit entgegen dem Augenschein eine stabile Regierung hat.
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Die Verkörperung des Krieges
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk ist eine Figur, wie es sie in der bundesdeutschen Politik noch nicht gegeben hat. Er vertritt nicht nur ein Land, er verkörpert einen Krieg. Durch ihn sprechen die Opfer in der Ukraine, die vielen, die ihre Wohnungen verlieren, ihr Hab und Gut, ihre Städte, ihre Gesundheit, ihr Seelenheil, ihr Leben. Hinter jedem seiner Sätze steht das Unheil, das die Ukraine durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin erleiden muss.
Das macht es so schwer, Melnyk zu widersprechen. Das macht es so unangenehm, seinen Zorn zu spüren zu bekommen. Wer gegen Melnyk argumentiert, stellt sich schon fast hinter Putin. So jedenfalls der Eindruck, der durch Melnyks geschickte Argumentation entsteht. Gleichwohl gehört es zu den Regeln einer Demokratie, dass man über so gut wie alles reden können muss und dass sich Haltungen im Wettstreit der Meinungen bilden. Gerade im Krieg ist das wichtig. Sonst droht der Kriegsrausch.
Zerstörung in Mariupol
Foto: ALEXANDER ERMOCHENKO / REUTERS
Sigmar Gabriels Essay für den SPIEGEL, in dem er die Russlandpolitik der SPD verteidigt, ist ein wichtiger Beitrag in diesem Wettstreit, egal ob man ihm zustimmt oder nicht. Einen Shitstorm hat er nicht verdient. Heute trifft sich die Parteichefin der Sozialdemokraten, Saskia Esken, mit Melnyk zu einem hoffentlich konstruktiven Gespräch.
MeToo bei den Linken
Das linke Projekt gründet bekanntermaßen auf der Menschlichkeit. Dass die Leute gut zueinander sind, die Schwachen schützen, Gerechtigkeit walten lassen, alle als Gleiche respektieren. Früher stand dabei die soziale Frage im Mittelpunkt, mit der Zeit kamen andere Themen hinzu, unter anderem die Gleichstellung der Frau.
Eigentlich müsste es daher in linken Parteien menschlicher zugehen als in anderen. Aber man weiß längst, dass das linke Projekt nicht unbedingt nach innen wirkt. Ein neues Beispiel ist der MeToo-Skandal bei der Linkspartei, den meine Investigativkollegen beim SPIEGEL aufgedeckt haben. Unter anderem geht es dabei um Sex mit einer Minderjährigen aus der Parteijugend.
Janine Wissler, Bundesvorsitzende der Linken
Foto:
Henning Kaiser / dpa
Seitdem die Geschichte veröffentlicht wurde, melden sich weitere junge Menschen, die bei der Linken schlechte Erfahrungen gemacht haben. Der Bundesvorstand kommt daher heute zu einer Sondersitzung zusammen.
Frivoler Festtag
Heute ist, ernsthaft, der Tag des Cannabis-Konsums. Durch Berlin ziehen daher Demonstranten, die fordern werden, dass die Koalition das Rauschgift legalisiert. Warum ausgerechnet am 20. April (der ja eher für einen folgenschweren Geburtstag berüchtigt ist)? Die Antwort ist ziemlich wild.
In Kalifornien gab es Anfang der Siebzigerjahre eine Gruppe von Schülern, die sich selbst »The Waldos« nannten. Um 4.20 Uhr am Nachmittag trafen sie sich jeweils, um nach einer aufgegebenen Plantage für Cannabis zu suchen. Allmählich entwickelte sich die Uhrzeit zum Code für den Konsum von Cannabis.
Drogenkonsum (Symbolbild)
Foto: Daniel Karmann/ dpa
So wurde der 20.4. zu einem frivolen Festtag, denn die amerikanische Schreibweise dieses Datums ist 4/20. Ein Smoke-In, angeblich nur für Patienten, für die der Konsum legal ist, findet im Görlitzer Park statt. Beginn ist selbstverständlich um 4.20 Uhr am Nachmittag. Ich gehe da mal hin, aus journalistischem Interesse.
Verlierer des Tages…
…sind die deutschen Rodelsportler. Bei den Olympischen Spielen holten sie vor einigen Wochen alle Goldmedaillen, die zu vergeben waren, vier Stück. Auch dank Georg Hackl, ihrem Techniktrainer, der selbst dreifacher Olympiasieger und eine Sportlegende ist.
Georg Hackl
Foto: Uwe Zucchi / dpa
Nun wechselt er zur Konkurrenz, zu den Österreichern, was deren Chancen auf Gold natürlich erhöht, zulasten der Deutschen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit