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News: Anne Spiegel, Grüne, Russland, Ukraine, Krieg, Karl Nehammer, Österreich

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um Politikerinnen und ihr Privatleben. Darum, was uns der russische Krieg gegen die Ukraine lehrt. Und um den Besuch von Österreichs Kanzler Karl Nehammer bei Präsident Wladimir Putin in Moskau.

Das Private und das Politische

Am Ende ging es offensichtlich doch nicht mehr: Anne Spiegel, während der Flutkatastrophe um ihr Image besorgte ehemalige Umweltministerin von Rheinland-Pfalz und bis gestern Bundesfamilienministerin, trat dann doch zurück. Obwohl es kurz vorher noch hieß, dass sie Bundeskanzler Olaf Scholz’ Vertrauen weiterhin genieße und er von ihrem Statement bewegt und betroffen gewesen sei.

Von heute an wird Deutschland nicht nur eine neue Familienministerin oder einen neuen Familienminister suchen, vielleicht schon haben, sondern womöglich auch eine (noch eine) Debatte über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Allgemeinen und jene bei Spitzenpolitikerinnen im Besonderen führen. Es wird sicher auch um das Thema Belastung gehen. Vielleicht auch um Geschlechterrollen und Fehlerkultur.

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Die zurückgetretene Bundesfamilienministerin Anne Spiegel


Foto: Markus Schreiber / AFP

Nur geht es bei der Spiegel-Affäre nicht um Vereinbarkeit oder das möglichst authentische Eingeständnis von Fehlern, sondern darum, dass eine Ministerin im Urlaub war, als ihre Landsleute litten, und nicht an Kabinettssitzungen teilnahm (worüber sie die Unwahrheit gesagt hatte). Sie hat versagt. Keine Metaebene notwendig.

Wenn es nach mir geht, müssten folgende Fragen jetzt gar nicht mehr auf den Tisch:

Kann eine Frau, die vier Kinder hat, Spitzenpolitikerin sein? Antwort: Natürlich. Aber sie sollte ihren Wählern und Wählerinnen möglichst die Wahrheit sagen und ihren Amtseid erfüllen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind ja mündig und haben einen einigermaßen gut funktionierenden Wertekompass.

Würden viele SPIEGEL-Morgenlage-Autorinnen oder auch -Leserinnen das Pensum wegstecken, das die meisten unserer Spitzenpolitikerinnen bewältigen? Mit Sicherheit nicht.

Haben Politiker ein Privatleben und auch das eine oder andere Päckchen zu tragen, ebenso wie andere normale Menschen, die, sagen wir, an der Kasse bei Edeka arbeiten oder morgens in das Fahrerhaus einer U-Bahn steigen? Aber ja.

Sind Politiker und Politikerinnen echte Menschen mit echten Gefühlen? Sicher.

Nur – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte diese privaten Gefühle eigentlich nicht sehen, zumindest nicht die Bürgerin und Wählerin in mir (die Journalistin schon, anderes Thema). Bei allem Verständnis: Als Bürgerin dieses Landes möchte ich mit dieser privaten Seite gewissermaßen nicht belastet, ich möchte fast sagen: belästigt werden. Die demonstrierten Gefühle von Entscheidungsträgern müssen zwar nicht, können aber zu einer Verunsicherung führen, die ich nicht gebrauchen kann. Ich will sicher sein, dass der Laden läuft. Oder einigermaßen zumindest. Schließlich gehört es zur Professionalität dazu, dass man einschätzen kann, wann es nicht mehr geht, wann die Belastung zu viel ist, für sich und für seine Familie. Wer trotz Überbelastung weitermacht oder sich noch mehr aufbürdet, opfert sich nicht auf, sondern leidet an Hybris.

Etwas anderes sind »politische Gefühle«. Natürlich steht es jeder Spitzenpolitikerin und jedem Spitzenpolitiker gut zu Gesicht, im Angesicht außerordentlicher Ereignisse Betroffenheit, Entsetzen, Mitgefühl oder Freude zu zeigen oder anders auszudrücken. Wenn etwa Robert Habeck nur noch mit unrasierter Sorgenmiene und verknicktem Haifisch-Kragen sichtlich mit sich ringt, wenn er uns erklärt, warum wir den russischen Gashahn nicht sofort zudrehen können. Wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Anblick der Massengräber in Butscha der Atem stockt. Und ja, auch wenn Anne Spiegel über die Opfer der Flutkatastrophe sagt, dass ihr das Herz schwer sei.

Die Widersprüche des Krieges

Der russische Krieg gegen die Ukraine ist vieles, aber vor allem ist er eine große Lektion darin, Widersprüche zu schaffen, zu identifizieren und auszuhalten. Für Deutschland ist das besonders schwer, scheint mir. Ich habe mal eine Liste gemacht:


Sinnbild für die Kriegsverbrechen von Butscha: Auf dem Fahrrad erschossen

Sinnbild für die Kriegsverbrechen von Butscha: Auf dem Fahrrad erschossen


Foto: Ronaldo Schemidt / AFP

  • Eine materiell und geistig völlig entmilitarisierte deutsche Gesellschaft und ihre Politik müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, dass sie einen beträchtlichen Teil ihrer Bestände an Waffen (zumindest den Teil, der funktioniert) an ein anderes Land abgeben. Weil dieses Land von einem bislang engen Partnerland Deutschlands angegriffen wurde. Traditionell tut sich Deutschland schwer mit allem Militärischen, was auch daran liegen dürfte, dass die Politik es damit in den vergangenen Jahren wenig belastet hat. Erst mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und dem Abzug der westlichen Truppen kam die Erinnerung – Moment, da war doch was! Wir haben eine Armee. Mit dem russischen Angriffskrieg hat sich das nun vollends geändert. In einer Umfrage nach der »Zeitenwende«-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz wünschten sich zwei Drittel der Deutschen, dass sich ihr Land mehr in Krisen engagiere.

  • Holocaustüberlebende, die einst mithilfe russischer Soldaten von den deutschen Mördern befreit wurden, werden heute von russischen Soldaten bedroht, beschossen, getötet, so wie der 96-jährige Boris Romantschenko, der in Charkiw lebte. Das ist für Deutschland, das dankbar ist für die Befreiung, kaum zusammenzudenken.

  • Noch so ein Widerspruch: Viele Grüne treten (metaphorisch) aufs Gas, was Waffenlieferungen an die Ukraine angeht oder Besuche in Kiew, während die Zeitenwende-Sozialdemokraten den Fuß nicht von der Bremse kriegen. Laut einem Bericht der »Bild« beschweren sich Grüne über den Druck, den der Bundeskanzler auf sie ausübe, nicht nach Kiew zu fahren. Der grüne Vorsitzende des Europaausschusses, Anton Hofreiter, will schwere Waffen (»Es fällt mir sehr schwer, so etwas zu fordern«, sagte er im Interview mit dem SPIEGEL kürzlich). Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock will sie nun auch. Robert Habeck wollte sie schon vergangenes Jahr nach einem Besuch in der Ostukraine und bekam dafür ordentlich Prügel aus seiner Partei.

  • Die Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine ist immens, ebenso wie die Zahlen. Die Aufnahmebereitschaft in praktisch allen europäischen Ländern ist groß. Das ist erfreulich, zeigt es doch, dass die Strategie Wladimir Putins, mithilfe von Fluchtbewegungen Europa zu destabilisieren, nicht funktioniert. Dieses Mal zumindest. Noch vor etwa einem halben Jahr war das anders, das Abendland ging praktisch unter. Damals standen ein paar Tausend halb erfrorene Schutzsuchende im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus, hintransportiert vom belarussischen Putin-Vasallen Alexander Lukaschenko. Einige Menschen starben. Heute müssen sich Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die keine Ukrainer sind, sondern aus dem Kongo oder aus Algerien stammen und in Kiew oder Charkiw studiert oder gearbeitet haben, an der Grenze zu Polen in »Extraschlangen« stellen.

Einige Widersprüche tun weh, einige sind interessant. Ich sammle mal weiter. Welche Widersprüche machen Ihnen zu schaffen? Schreiben Sie mir, wenn Sie mögen: oezlem.topcu@spiegel.de

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

  • Die Ukraine fordert »Waffen, Waffen, Waffen« – und Berlin prüft und prüft und prüft: Kein Gasembargo und nur langsame Waffenlieferungen – durch das Grauen von Butscha gerät die Bundesregierung mit ihrer Politik immer mehr unter Druck. Wie lange kann Berlin seinen zögerlichen Kurs noch halten?

Eine Reise, die niemand versteht

Ein ganzes Land schüttelt den Kopf über die Reise des Bundeskanzlers…, nein, nicht was Sie denken. Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer war gestern in Moskau zu einem Gespräch mit Präsident Wladimir Putin. Während noch viele politische Beobachter in Wien versuchen zu verstehen, was überhaupt los ist, hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bereits die Reise seines Amtskollegen »begrüßt«.


Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer nach seinem Treffen mit Präsident Putin in Moskau

Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer nach seinem Treffen mit Präsident Putin in Moskau


Foto: Dragan Tatic / Austrian Chanceller / EPA

So gut kam der überraschende Besuch des ÖVP-Politikers in der österreichischen Heimat und auf Twitter (was ja praktisch auch eine Art Heimat für viele Menschen ist) offensichtlich nicht an – sodass sich das Kanzleramt beeilte, nach dem 75-minütigen Treffen eine schriftliche Erklärung rauszugeben.

»Die wichtigste Botschaft des Bundeskanzlers an den russischen Präsidenten war, dass dieser Krieg aufhören muss, denn im Krieg gibt es auf beiden Seiten nur Verlierer«, steht da etwa. Damit auch ja keine Missverständnisse entstehen.

Oder auch: »Die Kriegsverbrechen, wovon uns in den letzten Tagen aus Butscha und anderen ukrainischen Städten grauenhafte Bilder erreicht haben, wurden seitens des Bundeskanzlers in aller Deutlichkeit im Gespräch mit Präsident Putin angesprochen, ebenso wie die Notwendigkeit einer internationalen Untersuchung.« Nur leider war keine Kamera dabei, um dies in aller Deutlichkeit aufzuzeichnen, ein Wunsch des Kanzleramts.

Eine Pressekonferenz des Bundeskanzlers, die nach dem Treffen stattfinden sollte, wurde kurzfristig zu einem »virtuellen Hintergrundgespräch«, aus dem Journalistinnen und Journalisten in der Regel nicht zitieren dürfen. Das wurde dann auch wieder zurückgenommen, und es gab doch einen Livestream mit Kanzler. Schlechter kann man die Verunsicherung nicht kaschieren.

»Man muss Karl Nehammer zugutehalten, dass er mit dem politischen Kuschelkurs Wiens mit Putin von seinem Vorgänger Sebastian Kurz gebrochen hat«, sagt mein Kollege Oliver Das Gupta, der für uns aus Wien berichtet. Auch hält er den Vorwurf, dass Nehammer Eigen-PR betreibe, für überzogen – bei wem sollte eine PR mithilfe von Putin derzeit gut ankommen? Aber die Frage dürfte jetzt sein, ob sich der Bundeskanzler des »neutralen« Österreichs etwas übernommen hat, mit seiner Reise nach Moskau.


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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in diesen Dienstag!

Ihre Özlem Topçu

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