Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Rücktritt – Hat Anne Spiegel Mitleid verdient?
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Kurswechsel – Liefert Deutschland bald schwere Waffen an die Ukraine?
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Luxusprobleme – Leben wir in einer Scheindemokratie?
1. Mitleid kommt vor dem Fall
Nun also doch. Familienministerin Anne Spiegel gibt ihr Amt auf. Als Grund nannte sie in einer schriftlichen Erklärung unter anderem »politischen Druck«. Der Gegenwind, auch der publizistische, nach ihrem gescheiterten Befreiungsschlag gestern Abend hatte im Laufe des Tages mindestens Orkanstärke erreicht.
Während vergangenen Sommer die Menschen im Ahrtal litten, hatte Anne Spiegel vier Wochen Urlaub in Frankreich gemacht. Als »würdelos« bezeichnete mein Kollege aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro Veit Medick ihren Versuch, sich zu rechtfertigen. Sie habe den Urlaub damals wirklich gebraucht, hatte Spiegel in ihrem Videostatement am Sonntagabend vorgebracht. Ihr Mann habe 2019 einen Schlaganfall überlebt, ihre Kinder an den Folgen der Pandemie schwer zu tragen gehabt.
Natürlich ist es menschlich beachtlich, wenn Politikerinnen und Politiker Schwächen zeigen, Probleme eingestehen. Wie den Spiegels geht es vielen Familien. »Hätte Spiegel die private Überforderung im Sommer vergangenen Jahres offengelegt, um sich politisch zurückzunehmen, wäre das vorbildlich gewesen«, schreibt Veit. Jetzt aber wirke ihr Verweis auf die angespannte familiäre Lage »wie eine schäbige Ausrede«. Zumal Spiegel einräumen musste, dass ihre Behauptung, vom Urlaub aus an Kabinettssitzungen teilgenommen zu haben, falsch war. Urlaub in Zeiten der Krise mag gerade noch so entschuldbar sein, eine Falschaussage wohl eher nicht.
Familienministerin Anne Spiegel am Sonntagabend bei der Pressekonferenz: ehrlich unbeholfen, ehrlich privat und ehrlich medial suboptimal
Foto:
Annette Riedl / dpa
So nachvollziehbar Veits Argumentation ist. Ich konnte mich gestern Abend eines Gefühls kaum erwehren, das mich bei der journalistischen Bewertung politischer Arbeit eigentlich selten überkommt: Mitleid. Wie der Ministerin vor laufender Kamera die Sprache stockte, wie sie mit den Tränen zu kämpfen schien! Hinzu kommt, dass mir als Mutter die Überforderung aus der Gleichzeitigkeit beruflicher und familiärer Herausforderungen natürlich bekannt vorkommt.
»Ich möchte Politikerinnen und Politiker, die meine Lebensrealitäten kennen und nicht welche, die immer zu jeder Zeit wissen, was zu tun ist«, schreibt die SPIEGEL Karriere-Kolumnistin Katrin Wilkens über die Zurückgetretene. Sie wünscht sich »eine Familienministerin, die jetzt kein Mitleid bekommt, sondern Unterstützung.« Ich kehre mein Mitleid folglich unter den Teppich.
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Auch Mütter machen Fehler. Sie suchen Ausreden, erinnern sich falsch an Details im Terminkalender, sagen vielleicht nicht immer die Wahrheit. Wenn sie das in ihrer Rolle als Ministerin tun, müssen sie zurücktreten. So gesehen hat Spiegel alles richtig gemacht.
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Lesen Sie hier den Brief von Wilkens an Spiegel: Liebe Frau Spiegel, das war die beste Rede Ihres Lebens!
2. Kurswechsel
Im gleichen Tempo wie es für die grüne Familienministerin nach unten geht, marschiert die grüne Außenministerin nach oben. Annalena Baerbock rangiert im SPIEGEL-Regierungsmonitor hinter Robert Habeck auf Platz zwei der beliebtesten Kabinettsmitglieder.
»Kein Außenminister vor ihr musste so schnell mit einer solchen geopolitischen Katastrophe umgehen wie sie: dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine«, heißt es über sie im aktuellen SPIEGEL-Porträt.
»Jeder neue Kriegstag bringt neue Abgründe«, sagte Baerbock heute vor einem Treffen des EU-Außenministerrats in Luxemburg. Mit Blick auf die bislang eher zurückhaltende Lieferung schwerer Rüstungsgüter aus Deutschland an die Ukraine deutete sie einen Kurswechsel an. »Was klar ist: Die Ukraine braucht weiteres militärisches Material, vor allen Dingen auch schwere Waffen«, befand Baerbock. Die EU solle die Exporte gemeinsam planen.
Ihr zufolge plane die EU-Kommission außerdem ein Ende aller fossilen Energieimporte. Auch ihr irischer Amtskollege Simon Coveney hatte in Luxemburg bestätigt, dass die EU-Kommission die Details eines Ölembargos gegen Russland ausarbeite, das Teil eines möglichen nächsten Sanktionspakets sein könnte.
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Lesen Sie hier das ganze Porträt über Annalena Baerbock: Lawrows Wodka trinkt sie nicht
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Wie Bürgermeister Striuk seine Leute aus der Donbass-Region rausholen will: Eine russische Großoffensive auf den Donbass steht wohl kurz bevor. Zehntausende Menschen fliehen, doch einige wollen ihre Wohnungen partout nicht verlassen. Bürgermeister Alexander Striuk hat dafür eine Erklärung.
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»Wenn die Feigheit größer wird, kommt es zur Katastrophe«: Neue Satellitenbilder zeigen, wie die russische Armee in den Osten der Ukraine vorrückt. In einer Videoansprache lobt Präsident Selenskyj Kanzler Scholz – und wirft Russland Angst vor der Wahrheit vor. (Video)
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Aktueller Newsblog zum Krieg in Osteuropa: Laut einem Medienbericht soll das Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesbehörden und Fraktionen vor russischen Desinformationskampagnen gewarnt haben. Und: Esten protestieren vor deutscher Botschaft in Vilnius. Die News.
3. Kein Witz
Blickt man auf den Krieg in der Ukraine und die »Wir kämpfen gegen Nazis«-Propaganda Russlands, müsste man eigentlich sehr froh darüber sein, in einer Demokratie wie Deutschland leben zu dürfen. »Ich kann Witze über Putin machen, und niemand bestraft mich dafür«, bemerkte die Komikerin Carolin Kebekus heute und riss gleich einen: Der Kremlchef sei ja ohne Frage ein eitler Mensch. »Er hat ja auch Filler und Botox und hat sich, glaube ich, die Oberlider straffen lassen.« Das sei wahrscheinlich kein Spaß für die Ausführenden. »Wie schlimm ist das, wenn du derjenige bist, der ihm die Filler reindrückt? Einmal verspritzt und dann kommst du ins Straflager.«
Nicht lustig? Kein Witz ist leider auch das Ergebnis einer Allensbach-Umfrage, die heute veröffentlicht wurde: Fast ein Drittel der Bundesbürger stellt das politische System in Deutschland infrage. 31 Prozent der Teilnehmer äußerten in der repräsentativen Befragung demnach die Einschätzung, in einer »Scheindemokratie« zu leben, »in der die Bürger nichts zu sagen haben«. In den ostdeutschen Bundesländern werde diese Meinung von 45 Prozent der Befragten vertreten.
Das Allensbach-Institut hatte die Umfrage im Auftrag des SWR für die Dokumentation »Story im Ersten: Mord an der Tankstelle – Vom Protest zur Gewalt?« vorgenommen, die heute Abend in der ARD ausgestrahlt wird. Im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein war im September ein Tankstellenmitarbeiter erschossen worden. Es war die bisher schwerste bekannte Straftat im Zusammenhang mit der Coronapandemie in Deutschland. Der 50-Jährige soll sein 20-jähriges Opfer nach einem Streit über die Maskenpflicht erschossen haben.
Immerhin hat gestern Abend in unserem europäischen Nachbarland Emmanuel Macron die Demokratie vorerst gegen eine rechts- und linkspopulistische Übernahme verteidigt? Leider stimmt das auch nicht wirklich, wie ich dem Kommentar von Leo Klimm entnehmen musste. »Frankreich ist krank«, schreibt der Pariser SPIEGEL-Autor. Macron habe sich zwar in schwieriger Zeit als Krisenmanager bewährt und Jobs und Wirtschaft geschützt so gut es ging. »Aber für die Demokratie in seinem Land hat er nicht viel getan«, findet Leo Klimm, weil Macron zum Beispiel einen »einsamen – um nicht zu sagen: autoritären – Regierungsstil« pflege.
Der Vorsprung Macrons vor der europafeindlichen Marine LePen und vor dem Finale am 24. April kann leider nicht über das wesentlichste aller Ergebnisse des ersten Wahlgangs hinwegtäuschen: Frankreich, Deutschlands wichtigster und engster Partner in Europa, steckt in einer tiefen Systemkrise.
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Lesen Sie hier den ganzen Kommentar: Frankreich steckt in einer tiefen Krise – es ist auch Macrons Krise
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Musk will doch nicht in den Aufsichtsrat von Twitter einziehen: Nach seinem Einstieg bei Twitter sollte Elon Musk auch einen Sitz im Verwaltungsrat bekommen. Doch der Tesla-Gründer hat sich nun kurzfristig umentschieden.
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Deutschland hat mit die höchsten Spritpreise in Europa: Rund zwei Euro kostet in Deutschland mittlerweile ein Liter Benzin oder Diesel. In kaum einem anderen europäischen Land sind die Preise so hoch.
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Frankfurter Staatsanwaltschaft klagt fünf Polizisten an: Der Vorwurf lautet auf Volksverhetzung und Rassismus. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat gegen mehrere Polizisten Anklage erhoben. Sie waren im Zusammenhang mit rechtsextremen »NSU 2.0«-Drohschreiben aufgefallen.
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Deutschland errichtet immer weniger Windräder: Die Krise der deutschen Windindustrie verschärft sich. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Habeck lag der Ausbau im ersten Quartal deutlich unter dem Vorjahresniveau. Und eine Besserung der Lage ist kaum in Sicht.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Diese Waren sind knapp und teuer: Die Deutschen leiden unter enormen Preissteigerungen bei Gütern des täglichen Lebens. Die Inflation trifft sie beim Tanken genauso wie am Kühlregal – und einige Produkte sind bereits Mangelware. Eine Auswahl.
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Giftmorde, Korruption und Nachlässigkeit: Wenn Russlands Geheimdienstler zuschlagen, klingt das oft nach alten Agentenfilmen. Sie morden mit Pistolen, Nervengift und radioaktivem Polonium. Für den Ex-Agenten Putin sind sie Werkzeuge der Angst und Garanten der Macht.
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Ihre Rivalität macht sie zu den Besten der Welt: Manchester City gegen Liverpool war so grandios wie seit Langem kein Spiel mehr in England. Ein Grund: Die Trainer Pep Guardiola und Jürgen Klopp treiben sich gegenseitig zu Höchstleistungen.
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Kommt eine KI in eine Bar… Filme anhand von Emojis erkennen, Witze erklären und Textaufgaben lösen: Google hat eine künstliche Intelligenz vorgestellt, die manche Dinge besser kann als Menschen – sofern die Hardware passt.
Was heute weniger wichtig ist
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Zwei der beliebtesten Serienkriminellen der vergangenen Jahre feiern bald ihr Comeback: Walter White und Jesse Pinkman. Die Schauspieler Bryan Cranston, 66, und Aaron Paul, 42, nehmen im Staffelfinale der Spin-off-Serie »Better Call Saul« erneut ihre Rollen aus der Kultserie »Breaking Bad« an. Auf dem Twitter-Account des »Breaking Bad«-Ablegers wurde am Sonntag ein Foto gepostet, das die Schauspieler in ihren Rollen zeigt – Cranston kahlrasiert als White, Paul im Beanie als Pinkman. »Better Call Saul«, 2015 gestartet, erzählt die Vorgeschichte des Anwalts Saul Goodman, der den Drogendealern White und Pinkman in »Breaking Bad« immer wieder aus der Patsche half. Die sechste und letzte Staffel soll am 18. April beim US-Sender AMC anlaufen und ab nächster Woche auch bei Netflix zu sehen sein.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Das Portal ist auf Deutsch und Englisch verfügbar, die ukrainische Sprachfassung wird noch ausge.«
Cartoon des Tages: Der Begriff von Freiheit
Foto:
Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Schon häufig habe ich Ihnen an dieser Stelle Rezepte meines Kollegen Sebastian Maas zum Nachkochen empfohlen. »Poutine« zum Beispiel, kanadische Pommes mit Bratensoße für nur zwei Euro. Heute erscheint sein erstes Kochbuch unter dem Titel »Gar es ohne Bares«. Sebastian zeigt, wie man mit einfachen Mitteln und wenigen Zutaten leckere Gerichte zubereiten kann.
Sebastian Maas
Gar es ohne Bares!
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Zu empfehlen sind auch seine »Gönnungs-Wraps mit gegrillten Pfirsichen und Kartoffelchips«. Kann man prima essen, während man die letzten Staffeln »Better call Saul« schaut, um sich auf das Serienfinale vorzubereiten. (Hier geht es zum Rezept.)
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
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