Es ist die massivste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg, die Europa in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine erlebt. Eine Bewegung also, die den Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015 deutlich in den Schatten stellen dürfte – und auf den die Europäische Union derzeit kaum vorbereitet scheint.
Advertisement»Die EU muss schnell eine Koordinierung schaffen, die sicherstellt, dass die Geflüchteten menschenwürdig untergebracht werden«, fordert etwa die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger. Doch eine solche Koordination ist derzeit noch ganz am Anfang, wie Diplomaten in Brüssel und diversen EU-Hauptstädten unisono betonen.
Das wurde auch vergangene Woche bei einem Krisentreffen von Vertretern der EU-Staaten, der Kommission und des Europaparlaments in Brüssel deutlich.
Italien, Griechenland und Luxemburg hätten dort Planungen »zur nachhaltigen Unterbringung Hunderttausender Flüchtlinge« angemahnt, wie es in einem vertraulichen Bericht der deutschen EU-Vertretung heißt. Italien rechne obendrein mit zusätzlichen Flüchtlingsströmen aus Afrika, da dort wegen des Ukrainekriegs mit Nahrungsmittelknappheit zu rechnen sei. Frankreich und Deutschland hätten großen Koordinierungsbedarf unter den EU-Staaten angemahnt.
Doch ausgerechnet die Vertreter der EU-Staaten nahe der Ukraine gaben sich gelassen. Ungarn, die Slowakei, Slowenien und Finnland erklärten, erst einmal keine Unterstützung der EU zu benötigen, heißt es in dem Bericht.
Die Quotendebatte ist zurück
Auch Warschau versucht nach Angaben von Diplomaten, so lange wie möglich ohne EU-Hilfe auszukommen. Der Hintergrund: Polens Regierung hat gemeinsam mit Ungarn und einigen anderen östlichen EU-Ländern bisher jede verpflichtende Verteilung von Geflüchteten verhindert.
»Sobald sie darum bitten müsste, dass andere Länder Flüchtlinge aufnehmen, ist eine Tür geöffnet, die die polnische Regierung geschlossen halten will«, sagt ein Brüsseler Diplomat.
Berlin aber bringt die Quoten jetzt wieder ins Spiel. »Polen hat fast zwei Millionen Menschen aufgenommen und leistet gerade Herausragendes. Wie auch andere Nachbarstaaten der Ukraine«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dem SPIEGEL. Diese Länder müssten nun entlastet werden. »Das Ziel muss eine Verteilung der Ukraine-Geflüchteten innerhalb Europas nach festen Quoten sein.«
Bundesinnenministerin Nancy Faeser
Foto: Olivier Hoslet / EPA
Wie schwierig das werden dürfte, zeigte sich ebenfalls während des Brüsseler Krisentreffens. Als Griechenland dort eine »verpflichtende Solidarität« ins Spiel brachte, da früher oder später Umsiedlungen von Geflüchteten notwendig sein würden, kanzelte Ungarns Vertreter den Vorstoß prompt ab: Derart kontroverse Themen seien »kontraproduktiv«.
Dabei kann es kaum eine Kontroverse über das Ausmaß des Problems geben. Vier Millionen Menschen könnten die Ukraine verlassen, schätzte der für Krisenmanagement zuständige EU-Kommissar Janez Lenarčič schon Ende Februar.
Die EU-Kommission hat Anfang März eine Richtlinie für den Fall eines massenhaften Zustroms von Vertriebenen in Kraft gesetzt, um deren unbürokratische Aufnahme zu ermöglichen. Doch welches Land wie viele Geflüchtete aufnimmt, ist dort nicht genau geregelt – und auch sonst ist das bisher in Brüssel kaum ein Thema.
»Über die Verteilung der Menschen gibt es in der EU bisher kaum eine Diskussion«, sagt Luxemburgs Außen- und Migrationsminister Jean Asselborn. »Das ist bisher alles dem Zufall und der Hilfsbereitschaft der Menschen in der EU überlassen.«
Die EU-Kommission plant unterdessen weitere Finanzhilfen. Schon jetzt stünden den Mitgliedstaaten acht Milliarden Euro zur Verfügung, sagte Innenkommissarin Ylva Johansson dem SPIEGEL. Bis zu zehn Milliarden aus dem mehrjährigen Finanzrahmen der EU würden demnächst folgen. »Und neue Geldströme werden gerade identifiziert.«
Eine Chance für eine neue EU-Asylpolitik?
In der Kommission sieht man die gegenwärtige Krise auch als Chance, endlich auf dem Weg zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik in der EU voranzukommen. Zwar sei es unwahrscheinlich, dass Länder wie Polen oder Ungarn nun einem Verteilungsschlüssel zustimmten, sagt ein Kommissionsbeamter. »Aber es könnte zumindest einfacher werden, sich auf eine grundsätzliche Verteilung der Lasten zu einigen.«
Dazu müsse nicht jedes Land einen bestimmten Anteil an Geflüchteten aufnehmen. Wer weniger Menschen ins Land lässt, könnte die Länder finanziell unterstützen, die viele Geflüchtete beherbergen. »Wir brauchen einen großen Fonds, in den alle einzahlen und aus dem dann je nach Belastung die Gelder verteilt werden«, sagt der Migrationsexperte der Grünen im Europaparlament, Erik Marquardt. »Das wäre ein wichtiger Schritt zu einer gemeinsamen Asylpolitik.«
Die aber liegt, selbst wenn die Optimisten in Kommission und Parlament recht behalten sollten, Monate oder gar Jahre in der Zukunft.
Beim Umgang mit den bisher Geflüchteten wird sie wenig helfen – und dabei handelt es sich bei ihnen um jene, »die geflohen sind, bevor der Krieg richtig losgegangen ist«, so Asselborn. »Diejenigen, die jetzt fliehen, werden mit ganz anderen psychischen und körperlichen Verletzungen zu uns kommen.«
Ein weiteres Problem werde sich erst in den Wochen und Monaten danach einstellen: »Niemand«, sagt Asselborn, »wird diesen Menschen sagen können, wann sie in ihre Heimat zurückkehren können.«
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Texts war der Name der Linken-Politikerin Clara Bünger falsch geschrieben. Wir haben den Fehler korrigiert.