Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Städtekampf – Haben ukrainische Kämpfer eine Chance gegen die Russen?
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Fauler Kompromiss – Was beinhaltet das neue Infektionsschutzgesetz?
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Teuro – Was tun gegen steigende Preise bei Lebensmitteln und Benzin?
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1. Die Unbeugsamen
Anfang der Woche bat mich mein Sohn, ihm zum Einschlafen aus der Kinderbibel vorzulesen. Dass die Welt der Erwachsenen derzeit heftig durchgeschüttelt wird, ist dem Siebenjährigen offenbar nicht entgangen. Ich wählte die Geschichte »David besiegt Goliath«, in der ein furchtloser Junge mit einer Steinschleuder den riesigen Krieger der Gegner umbringt. Brutal, aber leider zeitgemäßer als die Pädagogik, mit der ich aufwachsen durfte. Dass Gewalt keine Probleme löst, haben viele meiner Generation verinnerlicht. Womöglich gilt das seit 24. Februar dieses Jahres leider nicht mehr.
Das Cover des SPIEGEL, der heute digital und morgen am Kiosk erscheint, haben wir den »Unbeugsamen« der Ukraine gewidmet. Die Titelgeschichte beschreibt Wolodymyr Selenskyj als »Churchill in Fleecejacke«. Meine Kollegen Oliver Imhof und Fritz Schaap haben außerdem mit John Spencer, einem amerikanischen Experten für Städtekampf, gesprochen, der von einem »David-gegen-Goliath-Szenario im Ukrainekrieg« spricht. Dieses sei umgedreht worden. »Die Russen sind jetzt David.«
Sie kämpfen nur leider nicht mit Steinschleudern. Am 23. Tag des Kriegs dauern die Gefechte an. Nach dem Bombardement eines als Schutzort genutzten Theaters in der ukrainischen Stadt Mariupol ist die Zahl der Opfer immer noch unklar. Außerdem gab es bei der Großstadt Lwiw (Lemberg) heftige Explosionen. Auch SPIEGEL-Korrespondent Walter Mayr war während der Angriffe in der Nähe. »Wir sind am Stadtrand von Lwiw stadtauswärts, als vier Raketen in circa einem Kilometer Entfernung einschlagen«, schreibt er (hier die ganze Geschichte). Der Angriff ist aus seiner Perspektive »Richtung Flughafen« erfolgt. Mayr berichtet von dicken schwarzen Rauchwolken und hohen Flammen.
Die Nato hat derweil die Einigkeit des Bündnisses betont und Olaf Scholz mit Wladimir Putin telefoniert. Auch der Papst kritisierte die russische Invasion in die Ukraine erneut heftig als »perversen Machtmissbrauch«, der wehrlose Menschen »brutaler Gewalt« aussetze.
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Alle aktuellen Entwicklungen finden Sie hier im News-Update
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukrainekrise finden Sie hier:
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Brauchen wir wieder Atomschutzbunker, Frau Faeser? Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht über die Folgen von Putins Angriffskrieg für Deutschland, die Verteilung ukrainischer Flüchtlinge und Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen.
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»Wir wissen, was wir tun müssen und zu welchem Preis«: Kremlchef Putin feiert in einer Moskauer Arena den achten Jahrestag der Krim-Annexion. Der Ton seiner Rede: aggressiv. Während der Liveübertragung gibt es mehrere Pannen.
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Baerbock kündigt sicherheitspolitische Neuaufstellung an: Außenministerin Baerbock bezeichnet Russlands Überfall auf die Ukraine als »geopolitische Zäsur«. Sie sagt, Deutschland und Europa müssten ihre Sicherheitspolitik überdenken – inklusive einer Abkehr von der »Stolperdraht-Logik«.
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Schwerer Angriff bei Lwiw, Ukraine verteidigt Dörfer um Kiew, Nato betont Einigkeit: Um Kiew laufen heftige Abwehrkämpfe ukrainischer Einheiten gegen russische Truppen, Kanzler Scholz telefoniert mit Wladimir Putin, die Nato betont die Einigkeit des Bündnisses. Die Entwicklungen des Tages im Überblick
2. Der Maskendeal
Das geplante Infektionsschutzgesetz der Ampelregierung hat im Bundestag für eine hitzige Debatte über den richtigen Weg aus der Pandemie gesorgt. In der Debatte warf die Opposition der Ampelregierung vor, nicht das richtige Maß an Maßnahmen gefunden zu haben. Das Lockerungssignal sei der aktuellen Welle nicht angemessen, SPD und Grüne würden vor dem Koalitionspartner FDP kuschen, so der Tenor.
Karl Lauterbach, der sonst der »ewige Mahner« sei, habe sich der »Freedom-Partei« FDP gebeugt, sagte die Linkenabgeordnete Susanne Ferschl. Die Maskenpflicht abzuschaffen, sei keine Freiheit für alle, sondern nur eine »Freiheit von Solidarität und Rücksicht«. Vulnerable Gruppen seien nun nicht mehr ausreichend geschützt.
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau musste die Debatte unterbrechen, auch weil einzelne AfD-Abgeordnete bei ihren Wortmeldungen die Maske abgenommen hatten. An die Zwischenrufer richtete Pau eine Warnung: »Auch für Zwischenrufe gilt die Maskenpflicht!« Noch jedenfalls. Am Ende der Debatte stimmte die Mehrheit des Bundestags und anschließend auch die des Bundesrats für ein neues Infektionsschutzgesetz und damit für umfangreiche Lockerungen ab Sonntag.
Die Testpflicht wird weitestgehend gekippt, genauso wie die Maskenpflicht in Geschäften und die Homeoffice-Pflicht. Nur in sogenannten Hotspots können die Bundesländer eigene, strengere Regeln beibehalten: »Es ist ein Kompromiss, der viele frustriert«, fasst meine Kollegin Milena Hassenkamp die Lage zusammen.
Gemeinsam mit den Kollegen Markus Feldenkirchen und Severin Weiland hat sie auch ein Stück über Lauterbachs Doppelrolle geschrieben: Öffentlich gebe er den großen Mahner und Kämpfer. Zwischenzeitlich wirkte es, als könne Lauterbach mit Twitter als seiner digitalen Steinschleuder das Virus im Alleingang ausschalten. Intern aber beugt sich Lauterbach den Wünschen des kleinsten Koalitionspartners der Ampelregierung, der FDP.
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Lesen Sie mehr zum Thema: Öffentlich mahnt Lauterbach, intern gibt er nach
3. Billig wird teurer
Mal geht es um zehn Cent nach oben, mal um einen ganzen Euro: Hunderte Produkte des Discounters Aldi werden teurer. Die Preise im deutschen Lebensmittelhandel geraten infolge der Coronakrise und des Ukrainekriegs zunehmend in Bewegung, berichtete das Branchenfachblatt »Lebensmittel Zeitung«. Insgesamt sind nach Recherchen des Fachblatts rund 400 Artikel betroffen. Eine derartige Preiserhöhungswelle habe es seit Jahren nicht mehr gegeben.
Auch die Energiekosten für Verbraucher sind seit Kriegsbeginn um ein Viertel gestiegen, berichtet mein Kollege Stefan Schultz. Laut einer Auswertung des Vergleichsportals Verivox zahlte ein durchschnittlicher Dreipersonenhaushalt am Tag des Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine noch 5454 Euro pro Jahr für Strom, Heizung und Sprit. Am 17. März waren es 1492 Euro mehr. Das entspricht einem Plus von 27 Prozent in nur drei Wochen.
Brauchen wir bald neben einem Tankrabatt auch einen Brotrabatt? Landwirtschaftsminister Cem Özdemir jedenfalls glaubt: »Weniger Fleisch zu essen, wäre ein Beitrag gegen Putin.«
Wie der Krieg die deutsche Wirtschaft belastet, haben auch meine Kollegen aus dem Wirtschaftsressort recherchiert. Sie können ihren Text hier lesen: Land des ausgehenden Lichts
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Iran soll im vergangenen Jahr mindestens 280 Menschen hingerichtet haben: Zu den wenigen Ländern der Erde, in denen noch die Todesstrafe verhängt wird, gehört Iran. Die Uno bilanziert eine hohe Zahl an Hinrichtungen 2021, sie wurden vor allem an Zugehörigen von Minderheiten vollstreckt.
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FC Bayern trifft auf Villarreal: Die Paarungen der letzten acht in der Königsklasse stehen fest: Bayern München bekommt es mit Villarreal zu tun – die Spanier hatten zuvor überraschend Juventus ausgeschaltet. Und Chelsea trifft auf Real Madrid.
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Great Barrier Reef von »erheblichem Hitzestress« betroffen: Der australische Sommer war ein Sommer der Temperaturrekorde – und für das größte Korallenriff der Welt eine enorme Belastung. Das Wasser im Riff lag teilweise vier Grad über dem Durchschnitt.
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Ukrainische Schauspielerin Oksana Shvets ist tot: Bekannt wurde sie durch Serien wie »House with Lilies«: Bei einem Angriff auf Kiew starb die Schauspielerin Oksana Shvets im Alter von 67 Jahren. Zum Zeitpunkt ihres Todes befand sie sich offenbar in ihrem Wohnhaus.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Die Geheimwaffe
Oskar Lafontaine ist nicht mehr Mitglied der Linken. Er ist aus der Partei ausgetreten, die er einst mitgegründet hat. Lafontaines Talent, überall anzuecken, und sein damit verbundenes Karriereende hat meinen Kollegen Stefan Kuzmany zu einer Glosse inspiriert.
Es ist gar nicht so leicht, in schwierigen Zeiten wie diesen auf halbwegs heitere Gedanken zu kommen. Ich musste jedenfalls kurz lachen, als ich las, welche neue Aufgabe sich Stefan für Lafontaine ausgedacht hat. »Überraschenderweise steht er seit Neuestem ausgerechnet in den Diensten der Nato: In einem verplombten Zugwaggon ist Lafontaine unterwegs nach Moskau. Er soll das System Putin von innen zerstören.«
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Lesen Sie hier die Kolumne: Linke Waffe
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wie Politiker und ihre Berater nach der Flutkatastrophe Imagepflege betrieben: 180 Menschen starben beim Hochwasser im Sommer. Chatprotokolle und interne Mails enthüllen: In der Staatskanzlei von Armin Laschet sorgte man sich um sein Bild in den Medien. Umweltministerin Anne Spiegel suchte nach Möglichkeiten, um von ihrer Verantwortung abzulenken.
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»Mein Großvater war kein Verräter«: Ein Rechercheteam beschuldigt Arnold van den Bergh des Verrats an Anne Franks Familie. Hier spricht die Enkelin des jüdischen Notars erstmals über die Vorwürfe – und weist sie als verleumderisch zurück.
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»Ich würde mich immer fürs Geld entscheiden«: Die neue Moderatorin von »Verstehen Sie Spaß?« über Feminismus auf T-Shirts, ein Interview, das sie bereut, und darüber, an welchem Wochentag man im deutschen Fernsehen nicht polarisieren darf.
Was heute weniger wichtig ist
Foto: John Raoux/ AP
Stabsstelle zu besetzen: Daniel Radcliffe, 32, als Harry Potter weltweit bekannt geworden, will den Zauberschüler vorerst nicht mehr spielen, wie er der »New York Times« sagte. Es habe lange gedauert, Abstand von der Rolle zu gewinnen. Er trat damit Spekulationen entgegen, er könnte bei einer Filmadaption des Theaterstücks »Harry Potter and the Cursed Child« mitmachen. »Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich das Gefühl habe, dass ich ›Potter‹ gut überstanden habe und wirklich glücklich damit bin, wo ich jetzt bin.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Das Wasser im Riff lag teilweise vier Grad über dem Durschnitt.«
Cartoon des Tages: Praktisch
Foto:
Chappatte
Und am Wochenende?
Wem die Kinderbibel zu schwere Kost ist, dem empfehle ich Birk Grülings Atlas »25 Landkarten für hellwache Kinder« als Vorlesestoff. Er stellt »Am Arsch der Welt und andere spannende Orte« vor. Auf meinem eigenen Nachttisch liegt derzeit Sabine Rennefanz’ neues Buch »Frauen und Kinder zuletzt«, in dem die Autorin und SPIEGEL-Kolumnistin beschreibt, dass Gleichberechtigung kein Accessoire für fette Jahre ist. Das Buch ist nicht so anklagend formuliert, wie der Titel vielleicht suggeriert, sondern ein sehr persönliches Werk, das oft auch humorvoll zeigt, wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
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