Der ukrainische Prasident Wolodymyr Selenskyj, von russischen Bomben bedroht, wendet sich an diesem Donnerstagmorgen aus Kiew per Videobotschaft an die Deutschen. Er erinnert an die Graueltaten der Nazis, an die deutsche Unterstutzung fur die Gaspipeline Nord Stream 2, an den Widerstand gegen echte Hilfe fur sein geschundenes Land.
Er trifft die deutsche Politik da, wo es wirklich weh tut.
Und wie reagiert der Bundestag nach Selenskyjs Auftritt? Vizeprasidentin Katrin Goring-Eckart liest die Namen der Abgeordneten vor, die Geburtstag haben. Und dann folgt ein Streit uber die Tagesordnung.
Lange hat sich ein demokratisches Parlament nicht mehr so blamiert.
>>Ich glaube, in so einem Moment ist Zuhoren eine echte Starke<<, hatte Aussenministerin Annalena Baerbock vor der Rede gesagt. >>Zuhoren, das Wort stehen lassen.<<
Klingt gut, stimmt aber nicht. Wenn die Abgeordneten wirklich zugehort hatten, dann hatten sie auf die Rede Selenskyjs nicht mit Geburtstagsgrussen reagiert.
100 Milliarden Euro beantworten nicht alle Fragen
Das war keine Rede, die man dankend zur Kenntnis nimmt, um sich dann uber die Tagesordnung zu streiten. Das war eine Rede, die eine ehrliche Antwort erfordert hatte.
Noch nie hat ein Gast das politische Versagen der Deutschen in ihrem Parlament so hart und schonungslos benannt. Und was macht der amtierende Kanzler? Er sitzt da und schweigt.
Dabei ware der Tag eine goldene Gelegenheit gewesen, sich den eigenen Fehlern zu stellen. Das Verstandnis fur Putin, das Ignorieren der ukrainischen Not, der blinde Fleck in der Ostpolitik, den alle Parteien hatten, daruber hatte man sprechen mussen.
Offenbar glaubt die Regierung, 100 Milliarden Euro fur die Bundeswehr sei die Antwort auf alle Fragen. Dabei ist der Schwenk, den die deutsche Politik in diesen Tagen vollzogen hat, so radikal, dass man ihn gar nicht oft genug erklaren kann.
Warum sind Waffenlieferungen in Krisengebiete auf einmal moralisch geboten, wahrend sie vor drei Wochen noch moralisch verwerflich waren? Was heisst es fur eine Bevolkerung mit pazifistischer Grundeinstellung, plotzlich Wehrhaftigkeit zu lernen?
Es gabe viel zu besprechen.
Die Abgeordneten, die Ministerinnen und Minister, der Kanzler, sie hatten darlegen konnen, warum sie mit den Ukrainerinnen und Ukrainern leiden, aber trotzdem nicht alle ihre Wunsche erfullen konnen. Dass Selenskyj eine Flugverbotszone fordert, dass er die Nato im Krieg an seiner Seite haben mochte, ist verstandlich. Dass die Bundesregierung das ablehnt, ist dennoch richtig.
Auch das ist eine Entscheidung, die man nicht einmal verkunden kann, sondern die immer wieder begrundet werden muss. Je langer der Krieg dauert, desto haufiger.
Und wenn schon keine Debatte, dann doch wenigstens eine Unterbrechung der Sitzung. Eine Gelegenheit, sich zu sammeln und zu zeigen, dass man uber das Gehorte nachdenkt. Auch das ware moglich gewesen.
Stattdessen gab es peinliches Parteiengezank daruber, ob eine Debatte notwendig sei, wer wann wo der Tagesordnung zugestimmt habe, es gab Zwischenrufe und Gelachter. Man mochte sich fremdschamen, bis einem einfiel, dass es ja das eigene Parlament war.
Es war ein Tag der Wurdelosigkeit.
Das politische Selbstverstandnis der Deutschen ist durch den russischen Uberfall auf die Ukraine im Kern erschuttert worden. Es wird lange dauern, bis klar ist, was daraus folgt. Wir stehen gerade erst am Anfang dieses Prozesses.
Es wird ein schwieriger Weg. Auch das wurde an diesem denkwurdigen Tag im Deutschen Bundestag deutlich.