: Russland, Wladimir Putin, Wolodymyr Selenskyj, Grosny, Bundesregierung //
Liebe Leserin, lieber Leser, Gruss Gott,
heute geht es um die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Um das Versagen der russischen Propagandamaschine. Und um die 100-Tage-Bilanz der Bundesregierung.
Russlands Propagandapleite
Bislang war die russische Propagandamaschine beruchtigt fur ihre Manipulationskunst. Wieder und wieder gelang es ihr, die Stimmung in westlichen Gesellschaften zu beeinflussen. Mit Propagandasendern und der gefurchteten Armee russischer Bots in den Social-Media-Kanalen schaffte sie es, ihre Narrative und ihre Lugen unter das Volk des selbsterfundenen Feindes zu bringen. So soll sie einen wichtigen Anteil am Wahlsieg von Donald Trump und am Aufstieg der AfD gehabt haben. Es waren nahezu magische Krafte, die der russischen Propaganda und ihren staatlichen Manipulatoren nachgesagt wurden.
AdvertisementAnti-Kriegs-Grafitti in Polen, mit Wladimir Putin als Lord Voldemort
Foto: Jakub Kaczmarczyk / EPA
Im laufenden Angriffskrieg gegen die Ukraine versagen sie hingegen vollends. Ausser einem damlichen >>Z<<, quasi einer modernen Variante des Hakenkreuzes, als Symbol fur die Kriegsoperation, die in Russland selbst naturlich >>Friedensmission<< genannt werden muss, ist ihnen bislang nichts wirklich eingefallen. Und dass sich die gebrechlichen Bewohner eines Hospizes freiwillig vor der Tur in Z-Formation aufreihen, glaubt auch niemand, der noch halbwegs bei Trost ist.
Den vielen, auch medial perfekt ventilierten Heldengeschichten der Ukrainer hat Russland nichts, oder praziser: rein gar nichts, entgegenzuhalten. Und gegen die strahlenden Auftritte des ukrainischen Prasidenten Wolodymyr Selenskyj, der heute per Video zu den Abgeordneten des Deutschen Bundestags sprechen wird, kann Russland nur einen leicht aufgedunsen wirkenden Griesgram aufbieten.
Was aber ist der Grund fur das Versagen der bislang ebenso geschickt wie durchtrieben operierenden russischen Staatspropaganda? Die Antwort ist vermutlich recht simpel: Das, was da verkauft werden musste, ist so widerwartig, dass selbst die abgebruhtesten PR-Manipulatoren daraus keine positive Geschichte basteln konnen.
-
TV-Journalistin Marina Owsjannikowa nach ihrem Protest: >>Ich bin jetzt der Feind Nummer Eins hier<<
Eine Chance fur den Frieden?
So ganz wollen die Berichte uber vermeintliche Fortschritte bei den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine nicht zu den Berichten uber das immer brutalere Vorgehen Russlands auf ukrainischem Boden passen. Wie kann man gezielt Zivilisten toten, wahrend man andernorts bekundet, den Frieden herbeizusehnen?
Russia’s Aussenminister Lawrow
Foto: Sergei Ilnitsky / dpa
Da aber der Mensch nicht ganz ohne Hoffnung auskommt, mochte ich mich in diesem Meer der Dusternis mal auf die positiven Signale der vergangenen Stunden konzentrieren. Aus den Verhandlungen waren gestern tatsachlich optimistischere Tone zu horen, und zwar von beiden Seiten. Es hiess unter anderem, es wurden Dokumente fur mogliche direkte Gesprache zwischen den Prasidenten Selenskyj und Putin ausgearbeitet. Selenskyj hatte ein solches Treffen mehrfach gefordert. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow sagte nun: >>Es gibt keine Hindernisse fur die Organisation eines solchen Treffens.<<
Die >>Financial Times<< berichtete mit Verweis auf Delegationskreise, dass es einen Plan mit 15 Unterpunkten gebe. Dieser sehe unter anderem vor, dass die Ukraine im Gegenzug fur Sicherheitsgarantien auf Nato-Beitrittsambitionen verzichtet und Beschrankungen fur seine Streitkrafte akzeptiert. Kiew solle demnach Schutz von Verbundeten wie den USA, Grossbritannien und der Turkei bekommen.
Es gebe bereits konkrete Formulierungen, >>die meiner Meinung nach kurz vor der Einigung stehen<>RBK<>ernsthaft diskutiert, naturlich in Verbindung mit Sicherheitsgarantien<<
Selenskyj hatte zuletzt mehrfach betont, dass sein Land >>anerkennen<>Sicherheitsgarantien<< fur die Ukraine konkret bedeuten wurden und wer sie wie gewahrleisten konnte, daruber kann bei schlechtem Willen noch ewig verhandelt werden – und das Sterben wurde weitergehen.
>>Willen zum Widerstand brechen<<
Was der ukrainischen Stadt Kiew droht, wenn es nicht bald zu einem Waffenstillstand kommt, das hat der britische Militaranalytiker Frank Ledwidge meiner Kollegin Jasmin Lorchner eindringlich beschrieben. Ein Schicksal wie einst der Stadt Grosny. In den Tschetschenienkriegen der Neunzigerjahre war die Hauptstadt durch russischen Beschuss dem Erdboden gleich gemacht worden, bis zu 8000 Zivilisten starben. Die Vereinten Nationen bezeichneten Grosny im Jahr 2002 als >>die am starksten zerstorte Stadt der Welt<<.
Grosny im Jahr 1995
Foto: Maschatin / dpa
Ledwidge befurchtet, dass auch Kiew schwere Artillerieangriffe bevorstehen und es zum Hauserkampf kommen konnte. Er erkennt Parallelen zwischen den Tschetschenienkriegen und dem Krieg in der Ukraine: In Tschetschenien erlitten russische Truppen 1994 zunachst Blamagen und hohe Verluste, bevor sie ihre Strategie anderten. Beim dritten Kampf um die Hauptstadt Grosny im Jahr 1999 ging der damals frisch an die Macht gekommene Wladimir Putin mit aller Harte gegen die Stadt vor. >>Putin hatte beschlossen, eine Rechnung zu begleichen<<, sagt Ledwidge.
Statt neue Verluste zu riskieren, schickte Putin seine Truppen nicht in die Stadt, sondern liess Grosny drei Monate lang mit schwerer Artillerie beschiessen. Zum Einsatz kamen Mehrfachraketenwerfer, die auch in der Ukraine bereits genutzt wurden, und thermobarische Bomben. >>Das Rational hinter solchen furchtbaren Angriffen ist, den Willen zum Widerstand zu brechen<<, so Ledwidge.
Kiew konnte ein schwerer Angriff schon gegen Ende des Monats beginnen, glaubt der Militaranalytiker. Selbst nach schwerem Beschuss musste Putin dann aber irgendwann doch seine Truppen in die Stadt schicken, um sie einzunehmen. Dann konnte es zu einem erbitterten Hauserkampf kommen. >>Kiew wird die Russen in einem Hauserkampf auffressen<<, sagt Ledwidge. Die Stadt sei bedeutend grosser als Grosny und die Ukrainer hatten in den vergangenen Wochen ihren Widerstandsgeist eindrucksvoll bewiesen. Vermeidbar sei dieses Schreckensszenario nur, wenn es zu einer Ubereinkunft zwischen der Ukraine und Russland komme.
Keine 100-Tage-Bilanz
Es gibt eine Tradition im deutschen Journalismus, die mir noch nie recht eingeleuchtet hat: die sogenannte 100-Tage-Regelung. Sie besagt, dass unbedingt eine Bilanz her muss, sobald jemand genau hundert Tage im Amt ist. Eine Ministerin zum Beispiel oder eine Regierung. Wenn man das ernst nahme, mussten Sie heute den lieben langen Tag Bilanzen lesen. Die Ampel-Regierung ist namlich genau heute den hundertsten Tag an der Macht. Und damit jede ihrer Ministerinnen und naturlich auch Minister.
Neu-Bundeskanzler Scholz
Foto: Michael Kappeler / dpa
Was? Wollen Sie gar nicht? Sie finden, es gibt Wichtigeres gerade? Vielen Dank! Die 100-Tage-Bilanz ist ein journalistisches Ritual, das ich immer schon gerne ignoriert habe. Und in diesen Krisen- und Kriegszeiten besonders gern.
Was den Neu-Regierenden misslungen ist, und davon gab es einiges, wurde zu Recht bereits vor Ablauf der willkurlichen 100-Tage-Frist benannt. Und fur eine substanzielle Bilanz ist es viel zu fruh. Gerade in dieser Lage.
Die jungsten Meldungen aus der Nacht
-
Krieg in Osteuropa – was in der Nacht geschah: In seiner jungsten Videobotschaft erklart der ukrainische Prasident, Programme zum Wiederaufbau von zerstorten Hausern seien bereits in Arbeit. Und: Russland kritisiert die >>unverzeihliche Rhetorik<< der US-Regierung. Der Uberblick
-
RKI meldet fast 295.000 Neuinfektionen: In wenigen Tagen fallen in Deutschland die meisten Coronaregeln weg. Aktuell allerdings registriert das Robert Koch-Institut einen deutlichen Anstieg der wichtigsten Kennzahlen
-
Fuhrende Okonomen kritisieren Tankrabatt: Mit einem Zuschuss will Christian Lindner die hohen Spritpreise abfedern. Wirtschaftsexperten halten davon jedoch wenig – der Plan des Finanzministers sei >>vollig aus der Zeit gefallen<<
Die SPIEGEL+-Empfehlungen fur heute
-
Was macht Putins Angriffskrieg mit jungen Ukrainern? : >>Ich mochte keine Gefluchtete sein<<
-
Ermittlungen, Zeugenaussagen, vertrauliche Fotos: Sturzt der Frontex-Chef doch noch uber den Pushback-Skandal?
-
Mogliche Folgen von Beben vor Fukushima: >>Das ware schon hasslich, sehr hasslich<<
-
Ende der Homeoffice-Pflicht: Warum das Zuruck ins Buro ein Ruckschritt ist
Einen heiteren Donnerstag, trotz alledem, wunscht Ihnen
Ihr Markus Feldenkirchen