Man stelle sich vor, Donald Trump ware immer noch Prasident der Vereinigten Staaten von Amerika. Vermutlich hatte er die Invasion in der Ukraine als >>smart move<>Mexican problem<>Putin is a genius<< (das hat Trump tatsachlich nach Kriegsbeginn gesagt), ware er vielleicht fortgefahren. Und dass sein Freund Wladimir ja ein guter Businessman sei. Mit ihm konne man Geschafte machen, man brauche ihn nicht zu sanktionieren. Der ganze Fall zeige auch nur, wie gefahrlich die Nato fur die USA sei. Damit konnten – so hatte er wohl argumentiert – die Europaer Amerika in Konflikte ziehen, ohne die Rechnung dafur zu bezahlen.
Vor einem solchen transatlantischen Hintergrund konnte man sich die wahrscheinlichen Reaktionen in Europa gut vorstellen. Sicherlich, die Bundesregierung, Prasident Macron und die EU-Kommissionschefin hatten die Invasion alle >>scharf verurteilt<<. Aber sonst? Vermutlich hatte man uber die angemessene Reaktion heftig gestritten. Die Deutschen hatten Nord Stream 2 verteidigt, die Schweizer ihre Banken und die osteuropaischen Lander ihre Souveranitat. Ob dann die transnationale Zivilgesellschaft in diesem Fall so schnell und sichtbar aufgestanden ware, erscheint auch keinesfalls sicher.
Wenn das alles so stattgefunden hatte, dann konnte man in der Tat vom Hirntod der Nato, der Vereinten Nationen, der EU wie wir sie kennen und generell der globalen Ordnung, die nach 1989 entstanden ist, sprechen. Und vieles spricht inzwischen dafur, dass genau das die Reaktion war, mit der der russische Prasident und seine Unterstutzer gerechnet hatten. Sonst hatten vermutlich weniger Milliarden auf den Konten europaischer Banken eingefroren werden konnen. Es waren namlich erstaunlich geringe Summen, die die Oligarchen vorab von ihren Konten abgezogen hatten. Aber es kam anders.
Der Westen – oder genauer die globale Phalanx der liberalen Demokratien hat ihre Reihen geschlossen, wie wir es seit 20 Jahren nicht mehr gesehen haben. Die Verteidigung der Demokratie und des Selbstbestimmungsrechtes der ukrainischen Bevolkerung scheint den nationalen Interessen ubergeordnet zu sein. Es werden globale Guter wie der Frieden und die Unversehrtheit der Grenzen hochgehalten. Und einige der fur Scheintod gehaltenen internationalen Organisationen machen plotzlich einen ganz ruhrigen Eindruck: allen voran die Nato, aber auch die Europaische Union und selbst die Vereinten Nationen. Schliesslich sehen wir eine uberwaltigende Reaktion der Zivilgesellschaften. Selbst die Sportverbande und einige Unternehmen mit starkem Engagement in Russland ziehen mit.
Die liberale internationale Ordnung, wie sie gern genannt wird, lebt also noch. Der Irakkrieg, der Krimkrieg und insbesondere das regelrechte Abschlachten in Aleppo und anderen Orten in Syrien haben diese Ordnung offensichtlich mehr geschwacht als der Angriff auf die Ukraine. Es gilt namlich grundsatzlich, dass eine Ordnung und generell jede Norm nicht durch eine Regelverletzung, sondern erst durch das Fehlen einer angemessenen Reaktion auf die Regelverletzung ins Wanken gerat. Die Norm, dass man nicht toten soll, wird durch einen Mord nicht infrage gestellt. Erst die achselzuckende Akzeptanz von Totungsdelikten totet die Norm.
Die Zukunft der internationalen Ordnung hangt also von der Reaktion der Weltgemeinschaft und vom Ergebnis der normverletzenden Handlungen ab. Ob der Westen aber seine Einheit bewahren kann, wenn die Kosten der Sanktionen spurbar werden, welche Rolle China noch spielen wird und wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, kann heute nicht gesagt werden. Zuverlassige Prognosen sind nicht moglich. Wir konnen uns allerdings Szenarien vorstellen. Mindestens vier Szenarien sind denkbar.
Ich beginne mit einem Nullszenario, das ich fur unwahrscheinlich halte: ein kompromissorientierter Friedensvertrag zwischen der Ukraine und Russland. Das ist unwahrscheinlich, weil die Ukrainerinnen und Ukrainer mit Entschlossenheit fur die Einheit ihres Landes kampfen und nur in einer aussichtslosen Situation zu Zugestandnissen bereit waren. Aber wieso sollte Putin gerade in einer solchen Situation all seinen Zielen zuwiderhandeln? Wenn er die Ukraine nach diesem Krieg nicht komplett politisch kontrollieren kann, wurde namlich die Restukraine mit einer unaufhaltsamen Dynamik politisch und militarisch nach Westen streben. Vieles spricht dafur, dass dieser Krieg militarisch entschieden wird.
Im ersten Szenario geht der Krieg schnell voruber und Russland errichtet einen Vasallenstaat auf ukrainischem Boden. Die auch in der Vergangenheit leidgeprufte ukrainische Bevolkerung nimmt das Schicksal hin. In diesem Szenario wurde es zu einer Wiederbelebung des Ost-West-Konfliktes in Europa kommen. Die europaischen Institutionen wurden wieder erstarken und der autoritare Populismus wurde zumindest in seiner gegenwartigen, Putin-nahen Form marginalisiert werden. Russland wurde okonomisch achzen, und die Repression wurde zunehmen.
Weltpolitisch sind die Effekte dieses Outcomes weniger klar: Konnen die USA ihren Kurs beibehalten? Wenn ja, dann wurden auch die Nato und die anderen Organisationen der Nachkriegsordnung gestarkt werden. Wenn aber die Trumpites doch wieder die Oberhand gewannen, wurde Europa nichts anderes ubrig bleiben, als sich eine eigene Verteidigungsfahigkeit samt entsprechender Entscheidungsstrukturen aufzubauen. Das ware nicht nur ein wiedererstarktes, sondern ein ganzlich anderes Europa. China wurde sich zuruckhalten und bei Gelegenheit die neuen Konfliktlagen dazu nutzen, um seinen eigenen Einfluss zu starken und die eigenen Interessen durchzusetzen. Im Ergebnis kame es zu einer Regionalisierung der Weltordnung mit China in einer zentralen Position.
Mindestens ebenso wahrscheinlich ist ein Szenario, wonach Russland zwar schnell den zwischenstaatlichen Krieg gewinnt und eine russlandfreundliche Regierung in der Ukraine einsetzt, Teile der ukrainischen Bevolkerung sich aber in einem Burgerkrieg engagieren, den Russland nicht kontrollieren kann. In diesem Fall wurde der innenpolitische Druck und die okonomischen Kosten fur das Putin-Regime so sehr anwachsen, dass es wahrscheinlich nur mit chinesischer Unterstutzung uberleben konnte. Russland selbst wurde dann seine Unabhangigkeit verlieren und in eine chinesische Einflusssphare geraten. Der Konflikt wurde nicht nur die Geschehnisse in Europa, sondern die Weltpolitik strukturieren und eine neue Bipolaritat herstellen. In diesem Falle liesse sich eine Art Neuauflage der Nachkriegsordnung erwarten: starke internationale Institutionen innerhalb des Westens und eine dauerhafte Schwachung der globalen Institutionen.
In einem dritten Szenario konnte sogar die liberale Ordnung, wie sie nach 1989 entstanden war, mit starken globalen Institutionen wiederbelebt werden. In diesem Szenario erwiese sich der leidenschaftliche ukrainische Widerstand als effektiv und dauerhaft. Der Krieg wurde sich uber langere Zeit hinziehen. Die Zerstorung in der Ukraine wurde schreckliche Ausmasse annehmen, aber auch in Russland waren die Folgen weitreichend. Das Putin-Regime konnte aufgrund des wachsenden Widerstandes in Russland fallen und ein neuerlicher Demokratisierungsschub in Osteuropa ausgelost werden. Eine solche Liberalisierungswelle wurde moglicherweise auch an China nicht komplett vorbeigehen.
Das alles konnte zu einer Wiederbelebung der Post-1989-Ordnung fuhren, samt einer starkeren Regulierung der Globalisierungsprozesse. Innerhalb der liberalen Gesellschaften wurde freilich die Konfliktlinie zwischen Globalisierungsverlieren und Globalisierungsgewinnern befeuert werden. Und ob im Falle eines Sturzes von Putin tatsachlich demokratisierende Krafte die Oberhand gewannen, ist auch nicht ausgemacht. Es ware vermutlich keine besonders stabile Ordnung.
Ob es zu einer Regionalisierung der Weltpolitik, zu einer Neuauflage der Nachkriegsordnung oder einer Wiederbelebung der liberalen Ordnung nach 1989 kommt, hangt von den Reaktionen auf den russischen Krieg ab. So ausserordentlich reaktionar und brutal dieser Krieg auch sein mag, in einem Punkt unterscheidet er sich von anderen Normverletzungen nicht. Es ist nicht die Regelverletzung, sondern die Reaktion darauf, die die Zukunft einer Ordnung bestimmt.