Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Waffen: Wann liefert Deutschland mehr militärisches Gerät an die Ukraine?
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Sanktionen: Kommen wir ohne Putins Öl aus?
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Hilfe: Was tun gegen die humanitäre Krise?
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1. Deutschland muss mehr Waffen liefern. Viel mehr Waffen
Nachdem Putins Plan, die Ukraine im Durchmarsch zu erobern, am Widerstand der Ukrainer gescheitert ist, greift er zu immer brutaleren Mitteln. Seine Soldaten bombardieren Wohnhäuser, töten flüchtende Familien und beschießen offenbar selbst die Evakuierungsbusse im Fluchtkorridor zwischen Saporischschja und dem eingekesselten Mariupol. Das meldeten ukrainischen Behörden heute Mittag.
Deutschlands Generalbundesanwalt Peter Frank hat wegen des Verdachts russischer Kriegsverbrechen heute ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ein solches Verfahren dient dazu, Beweise zu sichern, um später gegen Täter vorgehen zu können. Die Strafverfolger haben Berichte über Streubomben, Angriffe auf zivile Infrastruktur, eine Gaspipeline, eine Atommülldeponie und ein Heizkraftwerk im Blick. Ebenfalls im Fokus sollen Berichte über sogenannte Ziellisten sein. Auf diesen Listen stehen die Namen ukrainischer Politiker, die Putin tot sehen will, allen voran Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Die Verfolgung von Kriegsverbrechen ist wichtig. Aber was kann Deutschland tun, um weitere Gräueltaten zu verhindern, Putin vielleicht gar zu stoppen? Manche sagen, der Westen müsse sich zurückhalten, deeskalieren, die Ukraine solle am besten kapitulieren, dann blieben alle am Leben. »Einen nicht gewinnbaren Krieg zu führen, ist unter Umständen außerordentlich mutig, kann aber gleichwohl sehr falsch sein«, schreibt etwa Thomas Fischer in seiner neuen Kolumne.
Ich halte Fischers Analyse für falsch, schon weil keiner sagen kann, ob es sich wirklich um einen nicht gewinnbaren Krieg handelt. Bislang machen Putins Truppen nicht den Eindruck, unbesiegbar zu sein. Umso mehr ist es unsere Pflicht, den Ukrainern in ihrem Kampf zu helfen, wo immer es uns möglich ist, gerade auch mit Waffen.
Seit Wochen bittet die Ukraine die Bundeswehr um militärische Unterstützung. Geschickt haben wir 1000 Panzerfäuste, 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ »Stinger« und einige Helme. Weitere Raketen vom Typ »Strela« aus DDR-Beständen sollen folgen, allerdings sind viele davon in einem technisch mangelhaften Zustand.
Das ist ein Anfang, doch die Ukraine braucht mehr. Der Botschafter hat letzte Woche der Bundesregierung eine Liste geschrieben, woran es fehlt. Er nennt mehr als zwei Dutzend verschiedene Waffensysteme, von Panzern über Drohnen bis zu Schnellbooten.
Seit klar ist, dass Putins Armee nach der Eroberung der Ukraine an der Grenze zu Polen stehen könnte, will die Bundesregierung 100 Milliarden Euro extra für Rüstung ausgeben. Vielleicht reicht ein Bruchteil davon, um jetzt zu verhindern, dass Putin so weit kommt.
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Lesen Sie hier mehr: Russland beschießt nach ukrainischen Angaben Fluchtkorridor aus Mariupol
2. Putins Öl? Brauchen wir nicht
Trotz des Krieges laufen unsere Energiegeschäfte mit Russland derzeit einfach weiter. Der Handel mit Öl, Gas und Kohle ist von den Sanktionen ausgenommen. Tag für Tag zahlen wir Europäer mehr als 500 Millionen Euro in Putins Kriegskasse ein. Tendenz steigend, weil Russland von den hohen Energiepreisen profitiert. Und Bundeskanzler Olaf Scholz will daran auch nichts ändern. Er sagt, ein Embargo träfe eher uns als Putin und sei deshalb unklug.
Mein Kollege Stefan Schultz kommt in seiner Analyse heute zu einem anderen Schluss, er schreibt: »Ein Embargo wäre moralisch richtig – und ökonomisch machbar.«
Um Putin wirtschaftlich zu schaden, müsste man ihn vor allem beim Ölgeschäft packen. Hier erwirtschaftet Russland das meiste Geld, auch mit Deutschland. Doch wir hätten Alternativen zu russischem Öl, schreibt Stefan: »Insgesamt bedient Russland weniger als fünf Prozent der globalen Nachfrage. Und der Weltölmarkt ist gut integriert: Öltanker können ihre Ladung auf der ganzen Welt löschen und ihre Routen ändern.«
Viele Industrienationen verfügten zudem über große Ölreserven. Ein Teil wurde kürzlich freigegeben. Man könnte die Schleusen aber noch stärker öffnen. Die Reserven dürften selbst dann für mehrere Monate reichen. Dazu ließe sich die Nachfrage dämpfen, zur Not durch autofreie Sonntage. Angesichts der humanitären Katastrophe in der Ukraine könnten viele Bürgerinnen und Bürger solche Maßnahmen mittragen. Ein Preisschub am Weltölmarkt ließe sich also wohl abfedern. Die Preise könnten letztlich sogar fallen, wenn der Markt wieder weiß, woran er ist. Lieferketten ließen sich nach einem Embargo neu organisieren, sagt Stefan voraus.
Putin würde ein Ölembargo vermutlich härter treffen als alle anderen bislang beschlossen Sanktionen. Denn die betroffenen Firmen sind mehrheitlich in staatlicher Hand. Einen Teil des Öls könnten sie nach Indien oder China verkaufen, allerdings nur mit Rabatt.
US-Präsident Joe Biden geht hier mit gutem Beispiel voran. Das Weiße Haus kündigte heute an, Ölimporte aus Russland würden künftig verboten.
Unser Risiko besteht darin, dass Putin auf ein Ölembargo reagiert, indem er den Gashahn zudreht. Für sein Gas könnten wir nicht so schnell Ersatz beschaffen. Ein Team von Gelehrten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina hält die Auswirkungen eines kurzfristigen Lieferstopps für Erdgas aus Russland zwar für »handhabbar«, so eine neue Stellungnahme. Doch die Wirtschaft würde natürlich leiden.
Russland verlöre bei einem Stopp seiner Gaslieferungen aber ebenfalls viel Geld. »Die EU und Russland befänden sich dann in einem ökonomischen Durchhaltewettbewerb«, schreibt Stefan. Ich finde, wir sollten es darauf ankommen lassen.
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Lesen Sie hier mehr: Ein Ölembargo ist möglich – und kommt wohl dennoch nicht
3. Spenden, Spenden, Spenden
Putins Krieg hat in der Ukraine eine humanitäre Krise ausgelöst. In den umkämpften Städten herrscht Not. Hilfsorganisationen versuchen, auch die eingeschlossenen Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Meine Kollegin Ann-Dorit Boy hat mit Igor Terechow telefoniert, dem Bürgermeister von Charkiw, das nah der Grenze zu Russland liegt und seit zwölf Tagen beschossen wird. »Hunderte Gebäude bei uns sind vollständig zerstört«, sagte Terechow. »Zehntausende Menschen haben ihre Wohnungen verloren. Es sind viele Zivilisten bei uns getötet und verletzt worden.«
Ann-Dorit hat auch versucht, mit dem Bürgermeister von Mariupol Wadim Boitschenko zu telefonieren, vergeblich. Auch Dominik Stillhart, Direktor für Internationale Einsätze beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), sagt, der Kontakt zu vielen Menschen in Mariupol sei abgerissen, weil die Stadt seit mindestens fünf Tagen komplett ohne Wasser und Strom sei. Die Menschen könnten Mobiltelefone nicht mehr aufladen. Laut ukrainischen Angaben ist auch die Heizung ausgefallen. »Für unsere Teams ist es extrem schwierig zu arbeiten, sie verbringen selbst viel Zeit in Luftschutzbunkern«, sagt Stillhart. Trotzdem sei es dem IKRK gerade gelungen, in Zusammenarbeit mit dem Ukrainischen Roten Kreuz Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente an 4000 Bewohner zu verteilen.
Wie können wir Deutschen den Menschen in der Ukraine sowie den inzwischen mehr als 1,7 Millionen Flüchtlingen helfen? Ganz einfach: Spenden, Spenden, Spenden. Hier finden Sie eine Liste der Organisationen, die sich kümmern.
Sollten Sie gern Wein trinken, habe ich einen Tipp für Sie. Das mit allerhand Parker-, Johnson- und Wine-Spectator-Orden dekorierte Moselweingut Selbach-Oster hat für die Aktion Deutschland Hilft eine Sonderfüllung Riesling gespendet. Die Flaschen haben ein Etikett in den ukrainischen Farben und kosten zehn Euro; alles Weitere unter selbach-oster.de.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Unsere Lagerbestände sind aufgebraucht«
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Dieselpreis steigt in Deutschland erstmals auf über zwei Euro pro Liter: Die Spritpreise sind im bundesweiten Tagesdurchschnitt erstmals über zwei Euro pro Liter gestiegen. Grund dafür ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine – und Hausbesitzer, die Heizöl für den nächsten Winter einkaufen.
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Wieder Überflutungen in Sydney – viele Vororte sollen evakuiert werden: »Es liegen harte 24 Stunden oder sogar 48 Stunden vor uns«: In den Hochwassergebieten Australiens gibt es keine Entspannung. In Sydney starben eine Frau und ein Mann in einem Auto.
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Erneut Dutzende Razzien wegen Impfpassfälschungen im Rheinland: 70 Wohnungen und eine Firma wurden durchsucht: Mit einem Großaufgebot geht die Polizei in Nordrhein-Westfalen gegen falsche Impfpässe und -zertifikate vor. Gegen eine mutmaßliche Fälscherin – und zahlreiche Abnehmer.
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Walter holt überraschend Gold – deutscher Medaillensatz im Biathlon: Bei den Paralympics hat eine 18 Jahre alte deutsche Schülerin die Favoriten im Biathlon hinter sich gelassen. Auch Martin Fleig und Anja Wicker gewannen Medaillen – obwohl Wicker gleich fünf Fehlschüsse hinlegte.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Die uncoolste Band der Welt
Marillion 1984 mit Sänger Fish in der Mitte: Je länger der Song, desto profunder
Foto:
Fryderyk Gabowicz / picture alliance
Zu den seltsamen Platten, die Menschen meiner Generation in ihrer Jugend gehört haben und seither nie wieder, zählt das Album »Misplaced Childhood« der britischen Band Marillion. Das Cover: ein Albtraum in Airbrush. Und dann die Musik. »Unfassbarer Kitsch«, schrieb mal ein Kritiker, der es noch vergleichsweise gut meinte. »Aufgeputzter Prog-Rock, dargeboten wie eine Konservendose voller Pisse, die dich am Hinterkopf trifft«, schrieb ein anderer.
Mein Kollege Oliver Kaever aus dem Kulturressort hat nun ein Geständnis abgelegt, das in Kritikerkreisen Mut erfordert. Er ist seit seiner Jugend Marillion-Fan. »Ich liebe die uncoolste Band der Welt«, schreibt er. »Und jetzt stehe ich sogar dazu.«
Oliver schreibt, wie schwierig es war, Mitte der Achtzigerjahre in einer Kleinstadt am Niederrhein mit neuer Musik in Berührung zu kommen. »Der einzige Plattenladen in meiner Heimatstadt hieß »Musik-Boutique« und führte größtenteils Musikproduktionen der Münchener Freiheit und der Klaus Lage Band. Selbst Marillion galten dort schon als Indie – eine Verkäuferin sprach den Bandnamen mit französischem Nasal am Ende aus.« Und so wurden Marillion für ihn die Türöffner zur Welt des Prog-Rocks zu einer Zeit, als dieses Genre eigentlich längst ausgestorben war, getötet von Punk und Post-Punk. »Alles an dieser Musik schien ein Geheimnis zu bergen, schien mystisch aufgeladen und auf mitreißende Weise verkünstelt«, schreibt Oliver. »Dass Marillion mit diesem Stil eine Todsünde beging, war mir damals nicht im Geringsten klar.«
Mich hat Olivers Geschichte gefreut. Nicht wegen Marillion, sondern weil seine Geschichte von unseren »Guilty Pleasures« handelt, von den uncoolen Lieblingsliedern, die wir heimlich hören, wenn kein anderer in der Nähe ist, dann aber umso lauter. In meinem Fall: »Mr. Blue Sky« von ELO. Schreiben Sie mir, bei welchem Song Sie im Auto mitgrölen: alexander.neubacher@spiegel.de
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Ich liebe die uncoolste Band der Welt. Wie konnte das nur passieren?
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wird Putin zum Wahlhelfer des US-Präsidenten? Joe Bidens Umfragewerte waren im Keller – dann marschierte Russland in die Ukraine ein. Der US-Präsident kann sich nun als Anführer des Westens in Szene setzen. Rückendeckung kommt sogar von den Republikanern.
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Impfnebenwirkungen meist harmlos und schnell vorüber: Viele Menschen hatten oder haben Angst vor Impfnebenwirkungen. Eine große US-Studie stellt nun klar: Die meisten Reaktionen sind unbedenklich. Nur in wenigen Einzelfällen kam es zu schweren Nebenwirkungen oder Todesfällen.
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Warum weniger Kalorien das Immunsystem verjüngen können: Eine um 14 Prozent reduzierte Zufuhr von Energie aus der Nahrung beugt offenbar Erkrankungen vor. Der Immunbiologe Vishwa Deep Dixit hat den Mechanismus erforscht – und einen Ansatz für eine Anti-Aging-Tablette entdeckt.
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Die Hölle von Hengasch: »Mord mit Aussicht« war mal ein Glanzstück unter den deutschsprachigen Fernsehserien. Nun wird sie in neuer Besetzung wiederbelebt. Wir haben mal reingeguckt. Ein Leidensbericht.
Was heute nicht ganz so wichtig ist
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Honigmaul: Juan Carrito, der seit einem Konditorei-Überfall wohl berühmteste Braunbär Italiens, ist am Wochenende seinen Jägern in die Falle getappt. Laut Medienberichten fingen Einsatzkräfte den Bären in den Abruzzen und brachten ihn in ein Reservat. Zuletzt hatte er sich häufig in der Nähe von Menschen aufgehalten. Vergangenen Herbst plünderte er eine Konditorei. Im Reservat soll sich Juan Carrito wieder daran gewöhnen, sein Futter in der Natur zu suchen statt in Mülltonnen oder Geschäften. Bei einigen Bewohnern des Orts Roccaraso stieß seine Festnahme jedoch auf Protest. Sie wünschen dem Bären die Freiheit und haben eine Petition gegen die Gefangenschaft in dem Reservat gestartet. Schließlich habe Juan Carrito bei seinen Raubzügen nie jemandem etwas zuleide getan.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Für Gottfried Benn war sie die gröte Lyrikerin, die Deutschland je hatte
Cartoon des Tages: Frauentag
Foto: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Was wissen wir Deutschen über die Ukraine, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihr Essen, ihre Natur? Nach meinem Eindruck: nicht allzu viel, mich eingeschlossen. Vor Jahren fuhr ich mit dem SPIEGEL-Fußballteam zu einem Freundschaftsspiel nach Kiew (wir verloren deutlich); das war meine einzige Ukrainereise. Dabei blitzt selbst jetzt, wo Putin das Land zu Klump schießt, in den TV-Bildern noch die Schönheit der Städte auf.
Mein Kollege Tobias Rapp hat drei Sachbücher herausgesucht, die dabei helfen, Wissenslücken zu schließen. Das erste Buch ist vom Berliner Historiker Karl Schlögel, es heißt »Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen« und entstand 2014 aus dem Schock über den Kriegsbeginn im Osten des Landes. Schlögel erzählt die Geschichten der Städte Kiew, Odessa, Lemberg, Donezk und Dnipropetrowsk; besonders Charkiw hat es ihm angetan. Man versteht, warum Schlögel so traurig wirkt, wenn er in diesen Tagen in Talkshows auftritt. Er hat seit Jahren vor der russischen Aggression gewarnt.
Welche beiden Ukraine-Bücher Tobias noch empfiehlt, können Sie in seinem Artikel nachlesen. Das eine Buch räumt mit Putins Lügen über die Landesgeschichte auf, das andere mit unseren westlichen Klischees.
Ich wünsche Ihnen einen anregenden Abend.
Herzlich
Ihr Alexander Neubacher
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