Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um konsequenten Boykott, um den Weltfrauentag, um Kamele, um die AfD als Verdachtsfall und um Hitler.
Die Pflicht zum moralischen Minimum
Demokratie und Freiheit sind expansive Projekte des Westens. Sie sollen sich in der gesamten Welt verbreiten. Das führt in ein Dilemma, das sich gerade auf schreckliche Weise in der Ukraine zeigt. Einerseits begrüßen oder befördern die westlichen Staaten auch anderswo den Wunsch nach einem Leben wie im Westen oder den Wunsch, Teil des Westens zu sein. Am Ende aber lassen sie meistens jene im Stich, die für diesen Wunsch kämpfen.
Öltanks des staatlichen russischen Unternehmens Transneft
Foto: Igor Russak / dpa
So war das im Kalten Krieg, als die westlichen Staaten Aufständen in der DDR, in Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei weitgehend tatenlos zuschauten. So ist das gegenüber Dissidenten in China, die nicht mit wirksamen Boykotten unterstützt werden. So ist das im Fall der Ukraine, deren Freiheitskampf nicht mit Nato-Truppen gestärkt wird. Das expansive Projekt zeigt sich meistens zahnlos.
Ein kriegerisches Demokratieprojekt wäre jedoch selbstmörderisch. Der Westen wäre längst untergegangen, hätte er all die Kriege geführt, die er vermieden hat. Es gibt aber die Pflicht, ein moralisches Minimum nicht zu unterschreiten: Wer nicht für die Demokratie der anderen kämpfen will, sollte bereit sein, stattdessen auf Wohlstand zu verzichten. Die Boykotte müssen konsequent sein. Es ist nicht konsequent, sich weiterhin Energie von Russland liefern zu lassen wie die Bundesrepublik und andere Länder des Westens.
Die Macht der Mütter
Heute ist Weltfrauentag. Das Team des inhaftierten Kremlgegners Alexey Nawalny hat zu diesem Anlass russische Frauen dazu aufgerufen, gegen Putins Krieg zu protestieren. Um 12 Uhr unserer Zeit sollen sie sich auf den Plätzen versammeln.
Protest der Mütter auf dem Plaza de Mayo in Buenos Aires, 1978
Foto: OFF/ AFP
Vor allem Mütter von Soldaten und Dissidenten haben gegenüber autoritären Regimen ein wenig Macht. Ihren Protest ständig niederzuknüppeln, scheuen sich meist sogar brutale Herrscher. Zum Beispiel wurden die argentinischen Militärdiktatoren der Siebzigerjahre die protestierenden Mütter der Plaza de Mayo nicht los; sie wollten wissen, was mit ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern geschehen ist.
In Russland gibt es seit 30 Jahren Komitees von Soldatenmüttern, die gegen sadistische Zustände in der Armee oder den Krieg in Tschetschenien protestierten. Putin wird wegen der Mütter nicht den Krieg beenden. Aber sollte ihr Protest anschwellen, könnte das ein Faktor sein, der sein Regime destabilisiert.
Abschied vom Trampeltier
Leben wir in einer Kamelgesellschaft oder in einer Dromedargesellschaft? Diese Frage beschäftigt den Makrosoziologen Steffen Mau in einem Essay, der jetzt in der Zeitschrift »Merkur« veröffentlicht wurde. Mau ist bewusst, dass dies zoologisch gesehen nicht als Alternative gilt. In Wahrheit gehören Dromedar, ein Höcker, und Trampeltier, zwei Höcker, zur Gattung der Kamele. Doch der Volksmund hat aus dem Trampeltier ein Kamel gemacht.
So. Diese Schlaumeierei musste sein, um einen kleinen Aufstand in der Soziologie verstehen zu können. Seit Längerem hat sich dort die Ansicht durchgesetzt, wir lebten in einer Kamelgesellschaft: Die zwei Höcker stehen für die Polarisierung, Kommunitarier gegen Kosmopoliten, altes gegen neues Bürgertum, Anywheres gegen Somewheres.
Mau bestreitet das nun, schickt das Kamel (Trampeltier) in die Wüste und wendet sich dem Dromedar zu. Der eine Höcker steht für eine breite gesellschaftliche Mitte, die sich in vielen Dingen weitgehend einig ist. Eine größere Polarisierung existiert allenfalls an den Rändern. Mau schreibt: »Die waschechten ›Weder-Kosmopoliten-noch-Kommunitaristen‹ sind die weithin wichtigste und auch zahlenmäßig dominante Gruppe.«
Das wäre mehr oder weniger eine Rückkehr zu jenem Dromedar, das in den Fünfzigerjahren »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« hieß.
Verdachtsfall oder nicht
Kameras vor dem Logo der AfD (Symbolbild)
Foto: Karl-Josef Hildenbrand/ DPA
Vor dem Kölner Verwaltungsgericht beginnt heute eine Verhandlung, bei der die AfD klären will, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz die Partei als rechtsextremen Verdachtsfall einordnen darf. Dem Augenschein nach spricht viel dafür, aber ob sich Extremismus juristisch wird nachweisen lassen, ist offen.
Als Beleg nennt der Verfassungsschutz vor allem Rassismus. Es wird nun darauf ankommen, ob die Richter einen prägenden Einfluss der rechtsextremen Mitglieder auf die Gesamtpartei erkennen können.
Gewinner des Tages…
Historiker Kershaw (2000)
Foto: © Fabrizio Bensch / Reuters
…ist für mich der britische Historiker Ian Kershaw. Eher zufällig habe ich vor einigen Wochen mit seiner monumentalen Biographie »Hitler« begonnen. Eigentlich wollte ich mein Wissen über den deutschen Diktator und Völkerschlächter auffrischen. Nun bin ich bei der Lektüre oft in Gedanken bei Putin. Vergleiche sind immer schwierig und meistens unpassend, aber interessant ist es trotzdem.
Im Jahr 1938 ließ der Westen zu, dass Adolf Hitler eine Demokratie zerquetschte, die Tschechoslowakei. Man dachte, dass ihn diese Appeasement-Politik von Kriegen abhalten würde. Einer der größten Irrtümer der Weltgeschichte. Heißt das etwas für heute? Dazu fällt mir ein Satz des amerikanischen Politologen Adam Przeworski ein: Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen, ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Viele Deutungen sind möglich.
Gleichwohl graut mir vor dem Ende dieses ausgezeichneten Buches: Ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, lässt den Krieg bis zum Untergang führen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit