Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
-
Moskau – Ist Frieden in Europa ab sofort Geschichte?
-
Berlin – Was sagt eigentlich Gerhard Schröder?
-
Köln – Kann man Karneval feiern, wenn gerade ein Krieg ausbricht?
Advertisement
1. Blanke Angst
Russland hat die Ukraine angegriffen, Raketen gehen überall im Land nieder, Kiew meldet erste getötete Soldaten und Zivilisten. Es ist ein historisch düsterer Tag, an dem nicht nur die Sirenen heulen. »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock nach dem Beginn der russischen Angriffe in der Nacht. (Hier finden Sie einen Überblick über die sich überschlagenden Entwicklungen der vergangenen Stunden.)
Meine Kollegin Sophie Garbe schrieb nach dem Aufstehen auf Twitter: »Putin hat heute die vermeintliche Gewissheit meiner Generation beendet, dass es keine großflächigen Angriffskriege in Europa mehr geben wird. Jetzt hoffe ich nur noch: Dass die EU auf eine Gewalt, die ans Gestern erinnert, eine gegenwärtige Antwort findet.«
In einer ersten Reaktion auf die russische Invasion aktivierte die Nato ihre Verteidigungspläne für Osteuropa. Allerdings, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, gäbe es derzeit noch keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Während Vertreter der 30 Nato-Länder in Brüssel zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkamen, die EU ein Sanktionspaket schnürte und US-Präsident Joe Biden versprach, die Welt werde »Russland zur Verantwortung ziehen«, müssen die 44 Millionen Menschen in der Ukraine um ihr Leben fürchten.
Aus der Hauptstadt Kiew versuchen derzeit viele zu fliehen. Diverse Luftaufnahmen zeigen lange Schlangen auf den Autobahnen. Menschen suchten in Metrostationen Schutz vor den Raketen. »In der ukrainischen Hauptstadt hat der Angriff viele Menschen völlig überrascht. Selbst in den vergangenen Tagen winkten die meisten noch ab, wenn man sie fragte, ob sie an Flucht denken würden«, schreibt SPIEGEL-Korrespondentin Alexandra Rojkov, die derzeit vor Ort in Kiew ist. In den Gesichtern der Menschen auf den Straßen »steht am Tag nach dem russischen Angriff blanke Angst«.
Nicht nur das Ausmaß des russischen Angriffs hat viele überrascht. Mich hat vor allem Putins Begründung fassungslos gemacht – sie lässt das unermessliche Leid, das Krieg immer bedeutet, so sinnlos erscheinen. Es gehe darum, so Putin, die Ukraine zu »entmilitarisieren und zu entnazifizieren, Genozid zu verhindern«. Mit einer solchen, vollkommen an den Haaren herbeigezogenen Begründung kann Putin übermorgen genauso Ost-Berlin oder Chemnitz als ehemals russisch besetztes Gebiet zur Rückkehr in sein Reich auffordern.
Laut Putin nehme Russland das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Uno-Charta in Anspruch. SPIEGEL-Korrespondent Christian Esch hat Putins Kriegserklärung analysiert. Die Ziele des Kremlchefs nennt er »verblüffend weit gefasst«. Sie gingen weit über den Donbass hinaus. Putin spricht von einer »Demilitarisierung«, einer »Entnazifizierung« und einer »gerichtlichen Verfolgung jener, die zahlreiche und blutige Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung, darunter russische Bürger«, verübt hätten.
Das klingt nach einem Plan, der ohne eine vollständige Kapitulation der Ukraine gar nicht erreichbar ist.
2. Lupenreine Hilflosigkeit
Für diesen Sonntag hat SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz eine Sondersitzung des Bundestages beantragt, um eine Regierungserklärung abzugeben. Gern würde man in den Tagen davor eine Erklärung von Ex-SPD-Bundeskanzler und Gaslobbyist Gerhard Schröder hören, die über das hinausgeht, was er heute auf seinem LinkedIn-Profil wissen ließ.
Der Krieg und das damit verbundene Leid für die Menschen in der Ukraine müssten schnellstmöglich beendet werden, befand Schröder, der erst vor drei Wochen als Aufsichtsrat des russischen Staatskonzerns Gazprom nominiert worden war. Aber wie er sich die Wandlung Putins vom »lupenreinen Demokraten«, wie Schröder seinen Freund einst bezeichnete, zum Aggressor erklärt, erfährt man nicht.
»Deutsche Politiker haben nie begriffen, dass Putin andere Glaubenssätze hat als der Westen«, kommentiert Christian Neef, der sich beim SPIEGEL seit über drei Jahrzehnten mit Russland und der Sowjetunion beschäftigt. »Stattdessen trieben sie den Dialog mit dem Präsidenten bis ins Perverse – und sind jetzt überrascht vom Krieg.«
Deutschlands Reaktionen auf den Krieg in Europa wirken in der Tat hilflos. Gestern Nacht wurde das Brandenburger Tor in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb angestrahlt. Fußball-Zweitligist Schalke 04 wird künftig ohne den Namen des russischen Staatskonzerns Gazprom auf dem Trikot auflaufen.
Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser will »vorübergehenden Schutz« für Ukraine-Flüchtlinge.
Womöglich erreichen auch bald die 5000 Helme der Bundeswehr ihre Adressaten in der Ukraine. Aber reicht das? Deutschland hat der Ukraine bislang keine Waffen geliefert. Auch keine Defensivwaffen. »Das war aus politischen und militärischen Gründen richtig«, schreibt der Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros Sebastian Fischer in seinem Kommentar.
»Welche Defensivwaffe im deutschen Arsenal hätte Wladimir Putin vom Überfall auf die Ukraine abgehalten? Wohl keine. Und wäre es politisch sinnvoll gewesen, die verbliebenen deutschen Gesprächskanäle zu Putin dadurch zu gefährden? Wohl nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
Nun aber sei die Hoffnung leider gestorben. Es gebe keinen Grund mehr für Deutschland, sich dem Hilfeersuchen der Ukraine zu verschließen. »Es geht um die Selbstverteidigung einer souveränen Nation, die völkerrechtswidrig angegriffen wurde und deren Existenz akut bedroht ist«, schreibt Sebastian. Das zweite Mal innerhalb nur eines Menschenlebens ist die Ukraine von einer fremden Macht überfallen worden: 1941 von Westen aus, 2022 von Osten.
Machen deutsche Waffen nun den Unterschied? Wohl kaum. »Aber die freien Völker der Welt müssen dem Opfer einer solch brutalen Aggression mit allem beispringen, was in ihrer Macht steht und nicht zugleich zum dritten Weltkrieg führt.«
-
Russlands Angriff auf die Ukraine: Schock mit Ansage
-
Heute Abend um 21 Uhr können Sie auf SPIEGEL.de das »Spitzengespräch« sehen, das Markus Feldenkirchen mit Agnieszka Brugger (Grüne) und Michael Roth (Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt) sowie Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse zum Krieg in Europa führen wird.
3. Karneval in der Krise
Kann man feiern, wenn in Europa ein Krieg ausbricht? In Köln jedenfalls begann heute zur Weiberfastnacht der Straßenkarneval. Laut dem Festkomitee des Kölner Karnevals sei es das falsche Signal, alle Feierlichkeiten abzusagen. Man habe »gerade auch in der jüngeren Vergangenheit gelernt, dass der Karneval in Krisenzeiten eine wichtige Funktion für die Menschen hat«. Sich die Grenzen des Frohsinns von einem Despoten diktieren zu lassen, entspreche nicht dem Karnevalsgedanken.
Die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker sieht das anders. Sie erklärte, sie sei sich darüber im Klaren, dass es durch den Karnevalsauftakt »Bilder geben wird, die Kopfschütteln verursachen werden«. Sie persönlich könne den Karneval und den Krieg in der Ukraine nicht miteinander verbinden, aber für viele andere sei der Karneval wichtig.
Offenbar scheint sich Rekers Haltung allgemein durchzusetzen. Das für Montag geplante Rosenmontagsfest mit einem Umzug im Kölner Rheinenergiestadion wurde jedenfalls abgesagt. Stattdessen werde man eine Friedensdemonstration mit Persiflage-Wagen auf Plätzen in der Kölner Innenstadt organisieren, erklärte ein Sprecher des Festkomitees der Nachrichtenagentur dpa.
Auch den politischen Aschermittwoch nächste Woche wird es nicht geben. CSU-Chef Markus Söder befand, eine solche Veranstaltung passe »nicht in die Zeit«. Ausnahmsweise schlossen sich die Oppositionsparteien SPD, FDP und Grüne seiner Auffassung an. Auch sie sagten ihre Aschermittwochs-Kundgebungen ab.
-
Mehr zum Thema: Karnevalisten sagen Rosenmontagsfest ab
(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)
Was heute sonst noch wichtig ist
-
Boris Rhein soll laut Medienbericht hessischer Ministerpräsident werden: Volker Bouffier ist seit 2010 Ministerpräsident von Hessen. Wie der Hessische Rundfunk berichtet, soll der Regierungschef sein Amt in der laufenden Legislaturperiode abgeben. Angeblich soll dies morgen verkündet werden.
-
Sieben-Tage-Inzidenz sinkt erneut, Stiko-Chef warnt vor Omikron-Untervariante BA.2: Das Robert Koch-Institut meldet am Donnerstagmorgen 216.322 Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Seit Beginn der Pandemie sind mehr als 14 Millionen Coronainfektionen registriert worden.
-
Krieg in der Ukraine droht Inflation in Deutschland auf gut sechs Prozent zu treiben: Wird der Gasfluss aus Russland gestoppt, könnten die Preise hierzulande explodieren. Berechnungen von IW-Ökonomen zufolge könnte das für Deutschland teuer werden.
-
Die Dinosaurier starben im Frühling: Anhand versteinerter Fischknochen konnten Forschende die Jahreszeit bestimmen, in der die Ära der Dinosaurier endete. Dieses Wissen liefert auch Hinweise darauf, warum andere Tiere den Asteroideneinschlag überlebten.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Mit Kindern über den Krieg sprechen
Eigentlich erscheint die SPIEGEL-Elternkolumne »Menschenskinder« immer freitags. Aus traurigem Anlass wanderte der Text von Patchwork-Papa Markus Deggerich allerdings schon heute auf die Seite, denn: »Mein Vater hat als Kind Krieg erlebt und konnte nicht darüber reden. Ich habe als Reporter Krieg erlebt und wollte nicht darüber reden. Jetzt haben meine Kinder Fragen zum Krieg. Was antworte ich?«
Markus lebt in Berlin. Seine Kinder, schreibt er, sind im Vergleich zu ihrem Großvater und Vater in einem noch mal viel friedlicheren und sichereren und wohlhabenderen Land aufgewachsen. »Das Kerneuropa, in dem man sich regelmäßig gegenseitig die Köpfe einschlug, erlebt(e) die längste friedliche Phase seiner Geschichte, wenn man vom Tabubruch der Balkankriege absieht und von direkten und indirekten Beteiligungen an anderen Kriegen außerhalb Europas.«
Markus beschreibt, dass eine seiner Töchter schon im Januar aus der Schule kam und sagte, ihre Lehrerin meine, es stünde der dritte Weltkrieg bevor. »Ich habe mich fürchterlich aufgeregt über diese Lehrerin, die die Kinder mit ihrer These dann allein ließ.« Den klassischen Elternsatz »Du brauchst keine Angst zu haben« kann Markus jedenfalls nicht mehr hören. Der war schon immer Quatsch. »Hat noch nie geholfen, schlimmer noch, man fühlt sich zusätzlich zur Angst dann außerdem dumm, als hätte man nur irgendwas nicht verstanden.«
-
Lesen Sie hier die ganze Kolumne: »Papi, müssen wir alle sterben?«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
-
»Kein normaler Betrieb dürfte so mit seinen Mitarbeitern umgehen«: Präsenzpflicht ja oder nein? Corona ist an den Schulen längst nicht ausgestanden. Eine Rektorin, eine Schülerin, eine Mutter und ein Bildungsjournalist berichten, mit welchen Widrigkeiten sie im Alltag zu kämpfen haben.
-
Die Macht der Flüsse: Der Grand Ethiopian Renaissance Dam hat mit der Stromproduktion begonnen. In Ägypten ist der Ärger groß. Der Konflikt bietet einen Blick in eine Zukunft, in der Kriege nicht um Öl, sondern um Wasser geführt werden könnten.
-
Schmutzige Geschäfte bei der Müllabfuhr? 5000 Euro für einen Job: Ein Mitarbeiter der Dortmunder Entsorgungsbetriebe steht im Verdacht, gegen Geld Stellen vermittelt zu haben. Der Mann war Vorsitzender des städtischen Integrationsrats.
-
Der Deadchelor im Schmeichelsarg: Mit Leichenmummenschanz und einer gespielten Trauerszene liefert »Der Bachelor« den Tiefpunkt der Formatgeschichte ab. Wer kommt auf so eine geschmacklose Schmierenkomödie?
-
Was in unserem Gehirn passiert, wenn wir sterben: Die Ärzte maßen bei einem 87-jährigen Mann die Hirnströme, als er plötzlich verstarb. Die Aufnahme jedoch lief weiter – sehen wir noch einige Sekunden nach dem letzten Herzschlag einen Film vom eigenen Leben?
Was heute weniger wichtig ist
-
Corona hat Komiker Ben Stiller und seine Frau Christine Taylor wieder zusammengebracht. Im Mai 2017 hatte sich das Paar nach 17 Jahren Ehe getrennt. Während des Lockdowns 2020 wollte Stiller die Kinder sehen – deswegen zog er zurück zu seiner Familie. »Es war wirklich wundervoll für uns alle«, sagte Stiller, der mit der Schauspielerin Taylor eine 19 Jahre alte Tochter und einen 16-jährigen Sohn hat, dem Magazin »Esquire«. Die wiederentdeckte Liebe sei unerwartet gewesen, sagte er. »Und eines der Dinge, die in der Pandemie entstanden.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »João Félix traf per Kopf, die Artristikeinlage misslang«
Cartoon des Tages: Neuere europäische Geschichte
Foto:
Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Eigentlich lese ich keine Bücher von US-amerikanischen Nacktmodels. Bisher habe ich auch Fotos von Wladimir Putin, die ihn leicht bekleidet angelnd, eisbadend oder reitend zeigten, nicht ernst genommen. Nun bleibt mir das Lachen über den russischen Obermacho im Hals stecken. Außerdem empfehle ich Ihnen die Lektüre eines Buches, das »My Body« heißt und von der Amerikanerin Emily Ratajkowski geschrieben wurde.
Als laszive Background-Tänzerin im Musikvideo von Pharrells »Blurred Lines« gelangte die heute 30-Jährige vor rund zehn Jahren zu Berühmtheit. Mir fiel ihr Buch, das am Montag erschienen ist, zufällig in die Hände, ich las ein paar Zeilen und musste feststellen: Die Frau kann schreiben. Und sie hat etwas zu sagen. Über Sexismus, Machtmissbrauch und das Aufwachsen in einer Welt, die vom männlichen Blick geprägt ist. »Meinen Einfluss und Status erhielt ich nur, weil ich Männern gefiel«, sagt Ratajkowski heute.
Früher empfand das Model die Vermarktung ihrer Sexualität als feministischen Akt der Selbstermächtigung. »Wie selbstverständlich hatte ich geglaubt, dass die begehrenswertesten Frauen zugleich die mächtigsten waren«, schreibt sie in ihrem Buch. Inzwischen sieht sie das vollkommen anders. Es scheint eine Woche zu sein, die nicht nur geopolitisch mit vielen vermeintlichen Gewissheiten Schluss macht.
Einen schönen Abend
wünscht Ihnen Anna Clauß
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.