Der Sturm kommt ungelegen. Viele haben im Vorfeld abgesagt, sie wollen bei den angekündigten Windböen offenbar nicht auf der Straße sein. Nur rund 25 Leute kommen am vergangenen Donnerstag vorm Brandenburger Tor zusammen, um für Frieden an der russisch-ukrainischen Grenze zu demonstrieren.
Einige haben Transparente und Plakate mit entsprechenden Botschaften dabei: »Frieden schaffen ohne Waffen.« Ursprünglich wollten sie eine Menschenkette bilden, von der US-amerikanischen bis zur russischen Botschaft. Aber durch Sturmtief Ylenia bleibt es bei einer Kundgebung und einem kurzen Marsch zur russischen Botschaft.
Putin fordert Europas Friedensordnung heraus
»Wer Frieden will, muss auch den Frieden vorbereiten – nicht den Krieg«, ruft Henning Zierock über ein Mikrofon den Teilnehmern und Passanten zu. Er hat zu dem Protest aufgerufen. Der Ort am Brandenburger Tor sei ein Sinnbild für die Hoffnung auf Frieden.
AdvertisementNur vier Tage später, am Montagabend wird das geschehen, was viele hier noch zu verhindern hofften: Russlands Präsident Wladimir Putin fordert die europäische Friedensordnung heraus, erkennt die Unabhängigkeit zweier ostukrainischer Gebiete an, spricht der Ukraine das Existenzrecht ab – und schickt erste Truppen zu den Separatisten.
Proteste vor der russischen Botschaft, am Dienstagnachmittag in Berlin
Foto: Helge Hoffmeister / DER SPIEGEL
Große klassische Friedensdemonstrationen gibt es an diesem Dienstag nicht in Berlin, dafür aber Proteste vor der russischen Botschaft, auch die Jugendorganisationen von Parteien machen mit. Junge Union, Jusos, Grüne Jugend und Junge Liberale haben gemeinsam zu einer »Menschenkette für den Frieden« vor der russischen Botschaft Unter den Linden aufgerufen, um Putins völkerrechtswidriges Vorgehen zu verurteilen.
Eine Gruppe junger Ukrainerinnen und Ukrainer hat am selben Ort eine Demonstration mit 100 Teilnehmern angemeldet, am späten Nachmittag füllt sich der Prachtboulevard, die Polizei vor Ort rechnet mit bis zu 500 Demonstranten. Ukrainische Fahnen wehen im Wind, es werden Sprechchöre mit »Stand with Ukraine« und »Stop Putin, stop war« laut.
Henning Zierock, der Friedensaktivist vom Brandenburger Tor, hat 1988 die »Gesellschaft Kultur des Friedens« gegründet. In den vergangenen Wochen hat er schon Proteste in Tübingen und Stuttgart organisiert, mit je rund 100 Teilnehmern, wie er sagt. »Frieden hat in der Gesellschaft leider nicht mehr die große Aufmerksamkeit«, beklagt er, »aber die letzten Wochen haben ja gezeigt, wie schnell sich eine Situation bedrohlich entwickeln kann.«
Die Friedensbewegung hat sich gewandelt. Noch vor rund 20 Jahren, kurz vor Beginn des Irakkriegs 2003, versammelten sich weltweit Millionen von Menschen auf den Straßen, um für Frieden zu demonstrieren. Allein in Berlin demonstrierten mehr als 500.000 Menschen für eine friedliche Lösung des Konflikts. Und Anfang der Achtzigerjahre gingen in Bonn mehr als 300.000 Menschen auf die Straße, um ein Zeichen gegen Aufrüstung und den Nato-Doppelbeschluss zu setzen.
Friedensdemonstrationen in dieser Größe hat es schon lange nicht mehr gegeben. Warum eigentlich nicht? Die Friedensbewegung ist ja nicht verschwunden.
»Wir haben eine Veränderung der Protestkultur erlebt«, sagt Kristian Golla, Sprecher des Netzwerkes Friedenskooperative. »Früher musste man auf den Straßen sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aber heute geht das auch anders.« Das Netzwerk Friedenskooperative bündelt beispielsweise auf seiner Internetseite mehrere Unterschriftenaktionen zur Ukraine-Krise von verschiedenen Gruppen innerhalb der Friedensbewegung.
Einige von ihnen, wie etwa der Appell »Friedenspolitik statt Kriegshysterie« haben über 10.000 Unterschriften, darunter auch prominente Namen wie Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht von der Linken. In der Petition ist von einer »einseitigen Schuldzuweisung an Russland« und den »legitimen Sicherheitsinteressen Moskaus« die Rede.
Einseitige Schuldzuweisung an Russland? Ist möglicherweise dies das Problem der Friedensbewegung: Dass sie nicht damit umgehen kann, dass Putins Russland der Aggressor ist? Knapp 200.000 russische Soldatinnen und Soldaten stehen an den Grenzen der Ukraine – aber die deutsche Friedensbewegung arbeitet sich weiter an Amerika ab?
»Natürlich gibt es auch die alte Romantik gegenüber dem sozialistischen Lager«, sagt Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Aber es werde viel zu häufig nur auf diesen Aspekt reduziert. »Der Konflikt in der Ukraine ist viel komplexer als nur das«, sagt Deitelhoff.
Im Kalten Krieg etwa seien die Lager viel klarer gewesen, was auch die Mobilisierung vereinfacht habe. Dazu komme, dass die Menschen sich anderen Problemen zugewandt haben. »Die Pandemie betrifft viele Menschen deutlich konkreter im Alltag«, sagt Deitelhoff.
Die Friedensbewegung ist ein großer Sammelbegriff, eine übergeordnete Organisation gibt es nicht. Sie setzt sich zusammen aus vielen Ortsgruppen, Strömungen und Mitgliedern aus verschiedensten Verbänden: Kirchlich, gewerkschaftlich, politisch-ideologisch, anarchistisch – die Liste ist lang.
Russischer Präsident Putin am Montag im Kreml
Foto: Alexei Nikolsky / dpa
»Das ist es auch, was die Friedensbewegung so wertvoll macht«, sagt Golla vom Netzwerk Friedenskooperative, »die Zusammenarbeit von vielen verschiedenen Lagern für ein gemeinsames Ziel: Frieden.« Gleichzeitig wehrt er sich gegen einen Missbrauch der Bezeichnung Friedensbewegung. »Wir distanzieren uns ausdrücklich von Querdenker-Demonstrationen, die sich den Frieden auf die Fahne schreiben«, sagt er.
Die Stärke der Friedensbewegung zeige sich laut Golla nicht nur an einzelnen Großdemonstrationen. »Entscheidend ist, dass wir flächendeckend vertreten sind«, sagt er. Auf lokaler Ebene sei die Bewegung immer noch stark. Allein im Februar gab es mehr als 35 Friedensveranstaltungen in ganz Deutschland. Es gebe intern auch die Diskussion, ob es wieder größere Aufmärsche bräuchte. »Aber dafür kann man nicht einfach einen Knopf drücken«, sagt Golla, »Demonstrationen müssen immer aus dem Lokalen wachsen.«
Das Alter ist ein Problem
Mit der Digitalisierung seien andere Formate als Demonstrationen verstärkt in den Vordergrund getreten. »Wenn früher ein Referent aufgetreten ist, dann war das lokal begrenzt«, so Golla. Heute könne man über das Internet viel mehr erreichen. Die Coronapandemie habe zudem wie ein Crashkurs für die Digitalisierung gewirkt. Auch ältere Generationen hätten dadurch begonnen, sich mit den Online-Möglichkeiten zu beschäftigen.
Das Alter der Aktivisten stellt die Friedensbewegung generell vor ein großes Problem. Der Nachwuchs fehlt, es rücken kaum junge Menschen nach. »Die Menschen, die heute für die Friedensbewegung mobilisieren, sind größtenteils die gleichen, die es auch schon in den Achtzigern waren«, sagt Friedensforscherin Deitelhoff. »Krieg als physische Zerstörung ihres Lebens zu sehen, ist für die meisten jungen Menschen zu abstrakt.« Natürlich gebe es auch weiterhin Bundeswehreinsätze in Krisengebieten, aber eine mögliche Bedrohung innerhalb Deutschlands sei nicht mehr präsent.
Auch auf der Demonstration von Henning Zierock sind keine Jugendlichen zu sehen, der Großteil der Demonstranten scheint jenseits der 60. »Man merkt, dass für die Jugendlichen der Krieg nicht mehr so greifbar ist«, sagt Zierock. Themen wie der Klimawandel seien für sie im Alltag relevanter. Zierock hofft, dass sich auch Bewegungen wie Fridays for Future noch stärker für den Frieden einsetzen. »Frieden und Klimaschutz sind eng miteinander verbunden«, sagt er. Der Idealismus sei weiterhin da.
Nicole Deitelhoff sieht dafür aber einen Bedarf zum Wandel innerhalb der bisherigen Organisation. »Die Friedensbewegung muss es schaffen, die Führung an die nächste Generation weiterzugeben«, sagt sie. Nur dann könne sie auch langfristig bestehen. »Es fehlt ein identitätsstiftender Moment, ein Schock, um es für die jungen Menschen existenziell zu machen«, so Deitelhoff. In der Ukraine-Krise könne dieser Schock nun kommen.
Für die ukrainische Gemeinde in Berlin ist der Krieg natürlich schon näher, greifbarer. Der Zentralverband der Ukrainer in Deutschland (ZVUD) und der Verein Kyjiwer Gespräche haben am vergangenen Samstag ihre eigene Demonstration vor dem Brandenburger Tor organisiert. Dort versammelt sich eine Menschentraube mit Umhängen aus blau-gelben Nationalflaggen. Die Leute sind laut.
Es spielt heitere Musik, hier sind junge Menschen, viele lachende Gesichter. »Stand with Ukraine«, steht auf einem großen Banner. Luydmyla Mlosch, Vorsitzende des ZVUD, sagt, sie erlebe großen Zuspruch. »Wir möchten betonen, dass wir sehr dankbar sind, für die Solidarität, die Deutsche uns zeigen. Und Polen und Georgier und viele mehr«. Die deutsche Regierung hingegen müsse mehr tun. Wenn es zum Angriff auf die Ukraine komme, dann werde es mehr Demonstrationen geben, da ist sie sich schon am vergangenen Wochenende sicher.
Am Dienstagnachmittag steht auch Mlosch unter den Demonstranten vor der russischen Botschaft, hält eine große ukrainische Fahne in die Höhe. Für die Aktivistin ist klar: In den kommenden Tagen sollen weitere Proteste folgen.