Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um eine Friedensmission, die Krieg bedeutet. Um die Folgen des Sterbehilfeurteils und um die Hoffnungen, die sich an den neuen Impfstoff knüpfen.
Heute geht es um eine Friedensmission, die Krieg bedeutet. Um die Folgen des Sterbehilfeurteils und um die Hoffnungen, die sich an den neuen Impfstoff knüpfen.
Zeitreise mit Putin
Es gibt sie also doch, die Zeitmaschinen. Wir scheinen gerade in eine hineingeraten zu sein. Politik wird wieder mit den Methoden früherer Jahrhunderte betrieben. Es geht um Territorien, gedroht wird mit alten Mitteln – Krieg! – und zur Rechtfertigung werden historische Maßstäbe bemüht: Weil sie »historisch« zu Russland gehörten, sollten die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostukraine als unabhängig anerkannt werden. So hat es der russische Präsident Wladimir Putin gestern verkündet. Die Ukraine sei ein »integraler Bestandteil« der eigenen Geschichte, führte er aus, die Ukraine habe keine eigene Staatstradition.
AdvertisementPutin gestern im Kreml
Foto: Alexei Nikolsky / dpa
Das russische Parlament, die Staatsduma, soll heute Vormittag über die Anerkennung entscheiden. Ihre Zustimmung zu Putins Plänen gilt als sicher.
Die beiden Regionen gehören aber völkerrechtlich zur Ukraine. Deren Anerkennung ist somit ein Bruch des Völkerrechts.
Putin hat außerdem angekündigt, Truppen in die Region zu entsenden. Weil er weiß, dass er im 21. Jahrhundert lebt, nennt er die Truppen »Friedensmission«.
Auf die Verletzung ihrer Souveränität wird die Ukraine reagieren müssen. Und mit ihr die Länder des Westens, die USA, die EU und ihre Partner. Sie müssen herausfinden, ob sie einem Machtverständnis, das seine Legitimation aus den Tiefen des 20. Jahrhunderts bezieht, mit den politischen Mitteln des 21. Jahrhunderts beikommen können – mit Sanktionen.
Dass es welche geben wird, steht außer Frage. Zur Stunde aber ist noch unklar, in welchem Umfang sie verhängt werden. Soll erst einmal nur Putin selbst, beziehungsweise sein direktes Umfeld davon betroffen werden? Das würde den russischen Präsidenten nicht besonders beeindrucken.
Oder soll gleich das große Paket her? Dessen Inhalt wurde zwar bisher halb geheim gehalten. Es ist aber wahrscheinlich, dass Russland praktisch von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten werden soll. Das Land würde nicht mehr die Güter und Technologien bekommen, die es laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen »dringend braucht, um seine Wirtschaft zu modernisieren und zu diversifizieren«.
Das Kalkül: Putin, Herrscher über ein zwar militärisch starkes, aber ökonomisch schwaches Land, werde auf diese Weise am ehesten getroffen.
In seiner heutigen Kolumne aber warnt mein Kollege Michael Sauga davor, allzu sehr auf die Wirksamkeit von Sanktionen zu vertrauen. Er schreibt: »Die russische Volkswirtschaft ist zwar kleiner als die Italiens, aber bestens gesichert durch niedrige Staatsschulden und einen riesigen Schatz an Devisen und Rohstoffen.« Moskau werde mit der Schadensbilanz umgehen können. Mein Kollege fordert die Regierungen der EU dazu auf, Tabus aufzugeben und ihrerseits zu politischen Mitteln zu greifen, die eher ins 20. Jahrhundert gepasst hätten: »Europa muss stärker zur militärischen Abschreckung in der Nato beitragen«.
Zahlenmystik für Hartgesottene
Putin ist ein Mann mit Hobbys, leider tragen auch die dazu bei, dass man sich vor ihm fürchten muss. In seiner einstündigen Rede aus dem Kreml am gestrigen Abend bewies er wieder sein Interesse an Basteleien. Er bastelte sich ein sehr eigenwilliges Geschichtsverständnis zurecht. Außerdem interessiert er sich für Zahlen. Unglücklicherweise lädt er sie gern mit Bedeutung auf. In der Nacht zum 8.8.2008 begann der russisch-georgische Fünf-Tage-Krieg, an dessen Ende in großen Teilen Georgiens russische Truppen standen. Heute ist der 22.2.2022.
Immer mehr assistierte Selbsttötungen
Vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gefällt, das in normalen Zeiten heftig debattiert worden wäre: Es hob die im Paragrafen 217 festgeschriebene Regelung auf, die eine »geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung« unter Strafe stellte. Seither dürfen Sterbehilfevereine in Deutschland Menschen wieder dabei helfen, sich zu töten.
Ein Altenpfleger hält in einem Pflegeheim die Hand einer Frau (Symbolbild)
Foto: Sebastian Kahnert / dpa
Gestern nun stellte der Verein »Sterbehilfe Deutschland« sein neues Jahrbuch vor. Es zeigt, was das Karlsruher Urteil bedeutet. Die Zahl der assistierten Selbsttötungen steigt an: Im Jahr des Urteilsspruchs hat der Verein bei 75 Suiziden geholfen, im Jahr 2021 waren es dann schon 129 – so viele wie nie zuvor. Unter den Verstorbenen sind, so der Verein, auch mehrere Menschen ohne gravierende Krankheiten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte vor zwei Jahren den Gesetzgeber zwar nicht verpflichtet, ihm aber doch nahegelegt, die Sterbehilfe zu regulieren – bis heute ist es nicht dazu gekommen. Wenige Tage nach dem Urteil gab es in Deutschland fast nur noch ein Thema: die Pandemie. Die Coronakrise hielt Politik und Öffentlichkeit in Atem, um das Karlsruher Urteil wurde es still. Doch es ist mit der Pandemie nicht zu entschuldigen, dass der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn keinen Gesetzentwurf vorgelegt hat. In so einem sensiblen Bereich sind klare Regeln nötig.
Die Debatte muss auch wieder mitten hinein in die Gesellschaft. Der Zeitpunkt dafür ist ideal: Es ist gut möglich, dass sich durch die Pandemie die Bewertung von Leid und Tod verändert hat. Anders als in den Jahrzehnten zuvor sind Leid und Tod jetzt allgegenwärtig.
Es kann nicht nur darum gehen, selbstbestimmtes Sterben zu erleichtern, es muss gleichzeitig darum gehen, eine Gesellschaft, die auf Leistung gepolt ist und Leid verdrängt, zu befähigen, besser damit umzugehen. Es muss, wenn irgend möglich, hierzulande gelingen, Leid so zu lindern, dass ein Leben trotzdem als lebenswert empfunden wird. Es gilt das Mantra der Coronapandemie: Deutschland braucht mehr und besser bezahltes Pflegepersonal, weniger Effizienzdenken in Kliniken und Altersheimen.
Das Karlsruher Urteil bleibt trotzdem richtig. Sterbewillige wird es immer geben, selbst wenn sich Lebensbedingungen verbessern. Sie dürfen mit ihrem Wunsch nicht allein gelassen werden. Doch es ist keine Erfolgsmeldung, wenn die Zahl der Suizidbeihilfen steigt. Menschen auch nur die kleinste Freude am Leben zurückzugeben – das ist ein Erfolg.
Gewinner des Tages…
Impfstoff Novavax
Foto: DADO RUVIC / REUTERS
… ist der Impfstoff Novavax. Nächste Woche sollen in Deutschland die Impfungen damit beginnen. Ob die Einführung des Proteinimpfstoffs die deutsche Impfkampagne wirklich beflügeln wird, ist ungewiss. Aber es ist jedenfalls gut, dass er endlich da ist. Weil damit das entscheidende Argument vieler Impfgegner weg ist: ihre Vorbehalte gegenüber den mRNA- und Vektor-Vakzinen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer