Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Einmarsch Russlands in die Ukraine. Um falsche Versprechen des Westens. Und um die unsinnige Verwendung des Begriffs »Freedom Day«.
Putin und der liebe Gott
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird heute als Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz erwartet. Eigentlich. Um 15.30 Uhr soll er sich von der CNN-Reporterinnenlegende Christiane Amanpour zum Thema »Die Ukraine und europäische Sicherheit« befragen lassen. Zudem soll er US-Vizepräsidentin Kamala Harris treffen. Soweit der Plan.
Amerikanische Journalisten berichteten gestern Abend, die US-Regierung sei besorgt, wenn der Präsident der Ukraine das Land verlasse. Weil Russlands Präsident Wladimir Putin dessen Abwesenheit zum Einmarsch in die Ukraine nutzen könne. US-Präsident Joe Biden rechnet mit dieser Invasion in den nächsten Tagen. Ein Sprecher von Selenskyj erklärte gestern Abend, dass sich die Reisepläne des Präsidenten noch spontan ändern könnten, sollte es eine »dramatische Eskalation« oder »beunruhigende Nachrichten« geben.
AdvertisementRusslands Präsident Putin
Foto: Sergei Karpukhin / AP
»Wie ein Koch die Hitze am Herd reguliert, so kann Russlands Präsident offenbar die Kriegsgefahr hoch- und herunterfahren«, sagt mein Kollege Christian Esch, Moskau-Korrespondent des SPIEGEL. Nicht nur Selenskyj und der Westen rätseln, was Putin tatsächlich im Schilde führt. Auch die Moskauer Elite weiß nicht, was der Mann im Kreml vorhat. Kollege Esch ist überzeugt, dass Putin seine außenpolitischen Entscheidungen völlig einsam trifft. Wie ein Alleinherrscher. Selbst prominente außenpolitische Experten konnten Esch nicht sagen, welche Berater überhaupt Einfluss auf Putin hätten. »Wenn er sich mit irgendjemand berät, dann mit Gott«, sagte einer.
Die erste Ost-Erweiterung der Nato
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erklärt Putin, dass der Westen mit der Ost-Erweiterung der Nato Russland verraten habe. Damals, rund um die deutsche Wiedervereinigung und den Zusammenbruch des Ostblocks, sei der damaligen Sowjetunion versichert worden, dass es dazu nicht komme.
Verhandler Genscher, Gorbatschow, Kohl 1990 bei Treffen im Kaukasus
Foto: dpa
Wer sich ein wenig mit den Verhandlungen über die deutsche Einheit befasst hat, weiß, dass der künftige Umfang der Nato damals ein relevantes Thema war. Am Ende war die deutsche Wiedervereinigung nämlich die erste Ost-Erweiterung der Nato. Und schon gegen diese Form der Expansion um Sachsen, Brandenburg und Co. hatte die russische Seite massive Bedenken. Michail Gorbatschow etwa verlangte eigentlich ein blockfreies Deutschland. Seine Devise: »Deutschland darf nicht in die Nato eintreten und damit basta.« Am Ende einigte man sich in den »2+4«-Verhandlungen auf einen Kompromiss: Deutschland blieb Nato-Mitglied, aber zumindest für eine gewisse Zeit sollten keine westlichen Soldaten in der ehemaligen DDR präsent sein.
Dass man Russland nach dessen Entgegenkommen kein weiteres Vorrücken des Bündnisses zumuten könne, war unter den westlichen Eliten damals breiter Konsens – unabhängig davon, ob eine solche Garantie klar ausgesprochen oder schriftlich fixiert wurde. Das belegt nun ein Vermerk aus dem britischen Nationalarchiv, das der amerikanische Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson entdeckte. Es handelt von einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991.
Das Dokument belegt, dass Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen darin übereinstimmten, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer »inakzeptabel« sei. Der deutsche Vertreter Jürgen Chrobog erklärte dabei: »Wir haben in den 2 plus 4 Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.«
Ansichten eines DJs
DJ Väth
Foto: Hannibal Hanschke / dpa
Eigentlich wollten meine Kollegen Tobias Rapp und Jurek Skrobala den Frankfurter DJ Sven Väth, 57, schon vor einem Jahr treffen. Zu dessen 40-jährigem Bühnenjubiläum, mitten im zweiten Coronawinter, als es noch keine Impfung gab. »Wie ist es, wenn einem die Welt zusammenbricht?« war die Frage. Doch das Treffen platzte damals.
Die Welt ist schließlich nicht zusammengebrochen. Und Väth, der vor der Pandemie 120 Auftritte pro Jahr absolvierte, hat in den vergangenen Monaten für viele Menschen gespielt, die nach einer gefühlten Ewigkeit das erste Mal wieder tanzen waren. Es sei sehr emotional, sagt Väth, Tränen fließen, man habe das Gefühl, die Städte erwachten wieder.
Wer sich jetzt fragt, wie man einfach so Routinen ablegen kann, die man sich über viele Monate angewöhnt hat, der automatische Abstand, den man einnimmt, wenn man anderen Leuten über den Weg läuft, die Angst, die man hat, wenn man Fremden zu nahe kommt … »Das geht schneller als man denkt«, sagt Väth. »Die Leute wollen ihr altes Leben zurück. Koste es, was es wolle.«
Verlierer des Wochenendes …
… sind all die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auch heute und morgen wieder an Schwurbel-Demos wie jener der Dresdner Bürgerinitiative Querdenken 351 teilnehmen – unter dem bekloppten Motto: »Freedom Day«. Ich weiß, es war der britische Premier Boris Johnson, der diesen Begriff als Erster in Verbindung mit auslaufenden Coronamaßnahmen verwendete. Aber das macht es nicht weniger peinlich.
Als »Freedom Day« wurde bislang zum Beispiel jener Tag im Jahr 1994 bezeichnet, an dem in Südafrika die Apartheid endete, die systematische Unterdrückung der Schwarzen. Oder der Tag der Nelkenrevolution in Portugal, als die jahrzehntelange Diktatur überwunden wurde. Oder die Befreiung von Auschwitz. Bei uns geht es aktuell nur um den schnöden Umstand, dass man bald auch wieder ungeimpft in die Kneipe darf.
Welch ein Missbrauch des Wortes Freiheit!
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Ein heiteres Wochenende wünscht Ihnen.
Ihr Markus Feldenkirchen