SPIEGEL: Frau Esdar, müssen wir Sie bemitleiden?
Esdar: Dafür sehe ich keinen Grund.
SPIEGEL: Sie führen jetzt den linken Flügel der SPD-Fraktion, müssen aber noch fast vier Jahre Regierung mit der FDP ertragen.
AdvertisementEsdar: Unser aktueller Koalitionsvertrag stimmt mich wesentlich fröhlicher als alles, was wir mit der Union hatten. Ich bin in die SPD gegangen, weil ich nicht nur die reine Lehre in der Opposition vertreten, sondern konkrete Politik gestalten will. Und da ist mit der Ampel mehr möglich als in der Großen Koalition.
SPIEGEL: Entscheidende linke Projekte fehlen doch im Koalitionsvertrag: Es gibt keine Bürgerversicherung, keinen Mietenstopp, keine wesentliche Aufstockung bei den Sozialleistungen.
Esdar: Die Analyse teile ich nicht. Wir haben uns viel vorgenommen: Wir erhöhen den Mindestlohn auf 12 Euro und wollen Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Ich bin optimistisch, dass wir den Sozialstaat weiterentwickeln können. Das war mit der Union schwieriger.
SPIEGEL: Wir können kaum glauben, dass Ihnen das als Linke reicht. Wo geht Ihnen der Koalitionsvertrag nicht weit genug?
Esdar: Bei der Frage der Steuergerechtigkeit. Ich hätte mir gewünscht, dass wir kleine und mittlere Einkommen stärker entlasten und für sehr gut Verdienende die Steuern erhöhen würden. Mit der FDP war das nicht zu machen.
SPIEGEL: Mal ehrlich, wer geht Ihnen aktuell mehr auf die Nerven: die FDP mit ihren Alleingängen in der Coronapolitik oder die von Klimaaktivisten getriebenen Grünen?
Esdar: Mich nerven Koalitionspartner, die nur bremsen – wie CDU und CSU in den vergangenen vier Jahren. Nicht solche, die für etwas kämpfen.
SPIEGEL: Die FDP ruft bereits nach einem »Freedom Day« und will allenfalls noch einer Verlängerung der Maskenpflicht zustimmen. Unser Eindruck ist: Die Liberalen bestimmen den Kurs der Coronapolitik.
Esdar: Die Ampelkoalition folgt den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts und anderer Wissenschaftler, nicht den Wünschen der FDP.
SPIEGEL: Die Ministerpräsidenten der Länder wünschen sich aber klare Vorgaben. Welche Coronamaßnahmen also sollten nach dem 19. März noch möglich sein?
Esdar: Zunächst ist wichtig, dass die Länder einheitlich agieren. Das war in den vergangenen zwei Jahren leider oft nicht so. Bei allen Maßnahmen müssen wir künftig abwägen: Sind sie zumutbar oder nicht? Das Tragen von Masken im öffentlichen Nahverkehr halte ich noch lange für akzeptabel.
SPIEGEL: Das reicht den Ländern aber nicht. Sie fordern, dass etwa verpflichtende Coronatests und 3G-Regeln weiter möglich sind. Können Sie das mit der FDP umsetzen?
Esdar: Grundsätzlich halte ich klare Teststrategien für sinnvoll. Das ist aber auch jetzt nicht überall so: In nordrhein-westfälischen Schulen gibt es PCR-Pooltests, die bei einem positiven Ergebnis oft nicht durch Einzeltest aufgelöst werden. Das muss besser werden. Und was die Reform des Infektionsschutzgesetzes angeht: Ich bin zuversichtlich, dass uns da etwas Gutes gelingt.
SPIEGEL: Auch bei der allgemeinen Impfpflicht verhindert die FDP einen klaren Kurs der Regierung. Versandet der Plan im Parlaments-Wirrwarr?
Esdar: Olaf Scholz hat vorgeschlagen, fraktionsübergreifend Anträge zu stellen. Der Grund dafür war nicht die FDP, sondern dass es eine Gewissensentscheidung ist. Ich unterstütze den Gesetzentwurf für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren. Sie ist nötig, weil sich zu wenige Menschen haben impfen lassen. Das gefährdet alle, die sich aus gesundheitlichen Gründen oder wegen ihres Alters nicht impfen lassen können. Mittlerweile unterstützen fast 200 Abgeordnete unseren Antrag, ich bin zuversichtlich, dass wir eine Mehrheit bekommen.
SPIEGEL: Aber die Chance, dass Abgeordnete aus der Union Ihren Antrag unterstützen, ist doch sehr gering.
Esdar: Ich plädiere dafür, in diesem Fall nicht in Parteilogiken zu denken. CDU und CSU fällt das gerade noch schwer.
SPIEGEL: Ist es vorstellbar, dass die verschiedenen Anträge für eine Impfpflicht vereinigt werden oder wird erst einmal über alle einzeln abgestimmt?
Esdar: Dazu laufen Gespräche auf allen Ebenen. Ich halte es für möglich, dass es schon im Verfahren einen Kompromiss gibt.
SPIEGEL: »Scholz packt das an«: Das war das Wahlversprechen der SPD. Offenbar nehmen die Menschen die SPD aber nicht als Macherin war, in den Umfragen sackte Ihre Partei zuletzt ab.
Esdar: Jetzt lassen Sie uns doch erst einmal arbeiten. Die Regierung hat sich ja gerade erst gebildet. Normalerweise gibt es eine 100-Tage-Schonfrist. Die gewährt uns aber niemand, weil wir es sofort mit gewaltigen Problemen zu tun haben, die von außen auf uns zukommen: die Coronakrise, der Konflikt mit Russland. Olaf Scholz tut gerade alles, um einen Krieg zu verhindern.
SPIEGEL: In der Russlanddebatte gab es aber gerade an Genossinnen und Genossen aus Ihrem linken Lager scharfe Kritik. Gehen Sie in der SPD zu freundlich mit Wladimir Putin um?
Esdar: Wir verfolgen eine klare Linie: Wir sind strikt gegen Waffenlieferungen. Auch deshalb kann Olaf Scholz jetzt in der Ukraine und in Russland wirklich glaubhaft für eine Deeskalation eintreten. Aber mangelnde Klarheit gegenüber Moskau kann man uns nun wirklich nicht vorwerfen.
SPIEGEL: Kann man nicht? Warum reden Scholz und die SPD-Spitze dann bei Nord Stream 2 um den heißen Brei herum? Einerseits heißt es, man wolle sich von Putin nicht in die Karten schauen lassen, andererseits droht man permanent indirekt mit dem Stopp der Pipeline.
Esdar: Olaf Scholz und die gesamte SPD-Parteiführung sagen ganz deutlich, dass im Falle eines Einmarsches Russlands in die Ukraine alle Optionen auf dem Tisch liegen. Alle Optionen schließen natürlich auch Nord Stream 2 ein – da wird heißer Brei gesucht, wo er längst gegessen ist. Das Signal an Putin ist eindeutig, Olaf Scholz war auch in seinem Gespräch und der anschließenden Pressekonferenz sehr klar.
SPIEGEL: Ihre Verteidigungsministerin Christine Lambrecht fordert einen höheren Wehretat und betont mit Blick auf Russland die Notwendigkeit von »Abschreckung«. Teilen Sie diese Ziele?
Esdar: Als Haushaltspolitikerin sage ich: Wir warten jetzt auf den Kabinettsbeschluss für den Bundeshaushalt, dann werden wir sehen, welche Häuser wie viel Geld bekommen.
SPIEGEL: Es geht doch hier nicht um reine Finanzpolitik. Brauchen wir in Deutschland Aufrüstung, um Putin und Co. Angst einzujagen?
Esdar: Wir brauchen jetzt intensive Gespräche. Und die führt Olaf Scholz.
SPIEGEL: Haben Sie Verständnis für den Wunsch Russlands nach Sicherheitsgarantien?
Esdar: Wir sollten jedem Land zugestehen, dass es ein Bedürfnis nach Sicherheit hat, auch Russland. Gleichzeitig darf das aber nicht die Sicherheit anderer Länder bedrohen.
SPIEGEL: Ihr Fraktionschef Rolf Mützenich träumt von einer »europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands«. Sie auch?
Esdar: Na klar brauchen wir eine Friedensordnung in Europa – und da gehört Russland allein schon geografisch nun mal dazu.
SPIEGEL: Was heißt das konkret? Wollen Sie die Nato abschaffen und durch ein neues Bündnis ersetzen?
Esdar: Deutschlands Platz ist in der Nato. Langfristig sollte man aber natürlich diskutieren können, wie eine Friedensordnung aussehen könnte, die bestehende Bündnisse ergänzt. Wir werden aber sicher nicht die Nato abschaffen.
SPIEGEL: Viele Genossen hatten auf ein rot-grün-rotes Bündnis gehofft. Doch die Linkspartei befindet sich im Niedergang. Ist Mitte-Links tot oder sollte die SPD für die Zukunft an dieser Option festhalten?
Esdar: Als Unterbezirksvorsitzende der SPD in Bielefeld habe ich im vergangenen Jahr einen rot-rot-grünen Koalitionsvertrag im Stadtrat unterzeichnet. Dort arbeiten wir sehr gut zusammen. Leider haben wir im Bund mit der Linksfraktion zwar eine progressive Stimme, die bisher aber nicht die Kraft hatte, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wir brauchen aber diese Perspektive. Ich wünsche der Linken, dass sie ihre internen Querelen schnell hinter sich lässt. Dann schauen wir, was nach den nächsten Wahlen möglich ist. Wir halten als SPD die Tür auf.