Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Sturmschäden durch »Ylena« – Warum kommt dieses Orkantief im Doppelpack?
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Tote Flüchtlinge in der Ägäis – Haben EU-Grenzschützer Menschen ins Meer geworfen?
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Linda Evangelista – Wieso fasziniert die Rückkehr des früheren Supermodels so viele Menschen?
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1. Dem Sturmtag über weiten Teilen Deutschlands folgen wohl weitere – Grund ist eine seltene Wetterlage
Es war ein französischer Philosoph, der im 18. Jahrhundert den letztlich aufheiternden Satz formulierte: »Wir sollten vom Menschen, wie vom Wetter, das Beste und das Schlechteste erwarten.« Viele Menschen in Deutschland waren heute mal nicht bloß damit beschäftigt, übers Wetter zu lästern. Sondern sie waren dazu gezwungen, sich mit ihren hoffentlich besten Kräften dem Sturm entgegenzustemmen, der über weiten Teilen des Landes tobte. Sie mussten sich um sturmhalber zu Hause gebliebene Schulkinder kümmern, vom Sturm umgeworfene Mülltonnen und abgerissene Äste aus dem Weg räumen und wegen Sturmschäden ausgefallene Reisen neu organisieren. Das Orkantief »Ylenia« hat in Deutschland Bäume entwurzelt, Stromleitungen unterbrochen und Küsten überflutet.
Und das nächste Sturmtief, es heißt »Zeynep«, wird der heutigen Nervenprobe unmittelbar folgen. Mein Kollege Jörg Römer beschreibt die recht seltene Wetterlage als »Sturmzange«. Vermutlich sei schon zum Wochenende mit neuem Regen- und Wind-Krawall in großen Teilen des Landes zu rechnen, der bis Anfang der kommenden Woche wüten könnte. Ein stürmisches Doppelpack fege über Mitteleuropa hinweg. Während von West nach Ost ziehende Winterstürme in der Regel auf Skandinavien treffen und Deutschland verfehlen, seien derzeit »Starkwindfelder« weiter südlich angelegt und schickten Sturmtiefs »wie auf einer Rennstrecke« in unsere Richtung, so der Kollege. Mit wissenschaftlicher Präzision beurteilt, falle das heutige Sturmtief »nicht außergewöhnlich stark« aus, schreibt Jörg. Das Auftreten sehr starker Böen allerdings »dürfte bei manchen Menschen zumindest den subjektiven Eindruck erwecken, dass es sich um einen sehr heftigen Sturm handelt«.
Vom Winde gedreht: Orkantief »Ylenia« hat auch diese Straßenbaustelle in Mecklenburg-Vorpommern getroffen
Foto: Jens Büttner / dpa
In China sind derzeit bei den Olympischen Winterspielen nicht Regenmassen und Orkanböen das wichtigste Wetterthema, sondern die eisige Kälte. Mein Kollege Jonas Kraus schreibt in seinem Bericht über die bibbernden Athletinnen und Athleten, dass die Sportwettkämpfe bei bis zu minus 20 Grad Celsius auch üble gesundheitliche Folgen haben können. Auf Fernsehbildern von Olympia sehen wir oft Gesichter, die mit Tape zugeklebt sind, um sie vor Erfrierungen zu schützen. Ein norwegischer Trainer schimpfte, der Austragungsort sei wegen der großen Kälte »nicht für Biathlon gemacht«. Medizinisch lässt sich die Einschätzung des Trainers nüchtern erläutern. »Das Einatmen großer Mengen kalter Luft führe zu einem Austrocknen der Atemwege«, schreibt der Kollege Jonas, darauf reagierten nun mal viele Menschen mit »Husten, Keuchen und einem Engegefühl in der Brust«.
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Lesen Sie hier mehr: Das gefährliche Frieren bei Olympia
2. SPIEGEL-Recherchen weisen auf eine neue brutale Taktik griechischer EU-Grenzschützer hin – zwei Flüchtlinge sollen ins Meer geworfen worden sein und ertranken
Mit Wissen und Unterstützung der meisten europäischen Staaten hat Griechenland in der Ägäis eine Praxis des brutalen Grenzschutzes etabliert: Flüchtlinge sollen offenbar systematisch abgeschreckt werden. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis brüstet sich damit, die Überfahrten von Flüchtlingen drastisch reduziert zu haben. Wie viele andere Mediennutzer habe auch ich mich an Bilder von verängstigten Flüchtlingen auf wackeligen Flößen gewöhnt, seit die griechische Küstenwache im Frühjahr 2020 damit begann, aufgegriffene Migrantinnen und Migranten systematisch aufs Meer hinausschleppen und sie dort auf aufblasbaren Flößen auszusetzen. Der SPIEGEL hat die illegalen Aktionen nachgewiesen, einige sind in Videos festgehalten.
Griechische Grenzschützer
Foto: Angelo Tzortzinis / AFP / [M] DER SPIEGEL
»Die Ägäis hat sich in den vergangenen Jahren in eine Todeszone verwandelt«, heißt es in einer Geschichte, die ein SPIEGEL-Team nun gemeinsam mit den europäischen Partnermedien »Lighthouse Reports«, »Guardian« und »Mediapart« recherchiert hat. Sie handelt von den Todesumständen zweier Geflüchteter, die am 15. September 2021 bereits auf der griechischen Insel Samos angekommen waren. Sidy Keita, 36, geflohen aus der Elfenbeinküste, und Didier Martial Kouamou, 33, aus Kamerun, wollten in Europa Asyl beantragen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft auf Samos wurden Keita und Kouamou tot aufgefunden. Die Strömung spülte ihre leblosen Körper in Richtung türkische Küste. Bei einer Untersuchung von Keitas Leiche stellten Mediziner fest, dass er ertrunken war.
Die Kollegen Şebnem Arsu, Giorgos Christides, Steffen Lüdke, Maximilian Popp, Bernhard Riedmann, Jack Sapoch und Florian Schmitz haben Fotos gesichtet, die Überfahrt rekonstruiert und mit Augenzeugen gesprochen, um den Fall von Keita und Kouamou aufzuklären. »Die Recherchen legen nahe, dass griechische Grenzschützer Keita und Kouamou aufs Meer schleppten und über Bord warfen. Endgültige Beweise dafür gibt es nicht«, schreiben sie, »aber glaubwürdige Indizien.«
Der Bericht der Kollegen handelt von Grenzschutzbeamten, die ihre Gesichter unter Sturmhauben verbergen und von griechischen Offiziellen, die zugeben, dass Küstenwächter Flüchtlinge tatsächlich über Bord stoßen. Die Taktik werde vor allem bei kleinen Gruppen genutzt. Didier Martial Kouamou wurde in seinem Heimatdorf Batchingou im Südwesten Kameruns bestattet. Sidy Keita liegt auf dem Doğançay-Friedhof in Izmir begraben, einem »Friedhof der Namenlosen«.
Deckt die EU letztlich die Gewalt der griechischen Beamten? »Es ist klar, was jetzt passiert«, sagt mein Kollege Maximilian Popp, stellvertretender Chef im SPIEGEL-Auslandsressort. »EU-Offizielle werden sich empört zeigen und Aufklärung versprechen. Aber verändern wird sich wieder nichts.« Die Europäer nähmen die Gewalt an ihren Grenzen seit Jahren hin. »Denn insgeheim sind sie froh, dass Griechen, Kroaten, Polen die Geflüchteten fernhalten – egal mit welchen Mitteln.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: EU-Grenzschützer sollen Flüchtlinge ins Meer geworfen haben
3. Ex-Supermodel Linda Evangelista will sich nach einem misslungenem Eingriff nicht mehr verstecken – und könnte zu einem Vorbild in der Diskussion um Schönheit werden
Natürlich sollten sich Männer, und deshalb auch ich, grundsätzlich in der Diskussion über Vorstellungen von weiblicher Schönheit lieber nicht zu großen Behauptungen aufschwingen. Ich habe mich trotzdem heute über den Mut gefreut, den das frühere Supermodel Linda Evangelista bewiesen hat. Sie hat sich nach einem offenbar verunglückten Schönheitseingriff vor rund fünf Jahren zum ersten Mal wieder auf einem Zeitschriftencover präsentiert. »Ich habe es satt, mich zu verstecken«, zitiert das Magazin »People« die 56-jährige Evangelista. Bei Instagram schrieb sie zu einem der Fotos aus dem Shooting, es gehe ihr darum, sich »von Scham zu befreien, zu lernen, mich selbst wieder zu lieben – und hoffentlich auch anderen damit zu helfen«.
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Evangelista galt in den Neunzigerjahren als eines der erfolgreichsten Models weltweit, sie war das Gesicht von Marken wie L’Oréal und Prada. Einmal sagte sie, so die Legende: »Für weniger als 10.000 Dollar stehe ich überhaupt nicht auf«. Das war, oft kopiert, nie erreicht, eine glorreiche Unverschämtheit, für die ich sie herzlich bewundert habe.
Im vergangenen September hat Evangelista öffentlich gemacht, dass sie durch eine Schönheitsbehandlung »brutal entstellt« worden sei. Viele Jahre lang habe sie es geliebt, auf dem Laufsteg zu stehen, erläutert Evangelista nun. »Jetzt habe ich Angst davor, jemandem zu begegnen, den ich kenne.«
Weil Menschen, wie das Wetter, manchmal zu Ansätzen von Ekelhaftigkeit neigen, wird es jetzt sicher ein paar Leute geben, die mehr oder weniger schadenfroh darüber sinnieren, dass auch Glamourgestalten wie Evangelista mit Unglücksfällen, dem Älterwerden und anderen Gemeinheiten zu kämpfen haben. Ich finde es richtiger, in ihrem Auftritt ein großartiges Zeichen zu erkennen, wie es auch meine Kollegin Heike Kleen tut.
»Dass Evangelista ins Rampenlicht zurückkehrt und ihren veränderten Körper zeigt, könnte eine Geschichte über Selbstfindung sein«, sagt Heike, die über die Faszination des Falls geschrieben hat. Nun habe das frühere Supermodel »die Chance, zum Role Model zu werden.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Vom Supermodel zum Role Model
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Biden befürchtet russische Invasion der Ukraine in den nächsten Tagen: Russland behauptet, Truppen von der Grenze zur Ukraine zurückzurufen. Doch auch Joe Biden schenkt diesen Beteuerungen Moskaus keinen Glauben. Die Gefahr einer Invasion sei »sehr hoch«.
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Bewährungsstrafe für Fahrer nach Unfall mit vier Toten in Berlin: Der Unfall hatte weit über Berlin hinaus Debatten ausgelöst: Ein SUV-Fahrer hatte in der Innenstadt vier Menschen getötet, als er die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Nun erging das Urteil.
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In Deutschland wurden 2021 mehr als 3000 antisemitische Straftaten begangen: Schon 2020 registrierte das Bundesinnenministerium einen Höchststand bei antijüdischen Delikten. Im vergangenen Jahr ist die Zahl noch einmal gestiegen.
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Gendern polarisiert auch in der jungen Generation: Die Mehrheit der für eine Studie befragten jungen Leute lehnt die Gendersprachdebatte eher ab, viele nervt die sprachliche »Stolperfalle«. Zugleich sehen vor allem junge Frauen im Gendern ein wichtiges Signal.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Die Supermutti
Bären-Gewinnerin Meltem Kaptan: »Ich liebe es, Menschen zum Lachen zu bringen«
Foto: Andreas Rentz / POOL / EPA
Mein Kollege Andreas Borcholte würdigt die Kölner Entertainerin Meltem Kaptan als Entdeckung der diesjährigen Berlinale. Sie gewann den Silbernen Bären für die beste Schauspielleistung. In Andreas Dresens Film »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« spielt Kaptan die Mutter des fünf Jahre unschuldig in Guantanamo inhaftierten Deutschtürken Murat Kurnaz. »Das Leben ist nicht immer nur lustig«, sagte sie nach der Preisverleihung. Demnächst könnte sie ja vielleicht auch mal eine deutsche Frau spielen. Und scherzte danach in sehr flüssigem – Englisch: »Talking about integration, hahaha.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte über Meltem Kaptan: Wer ist die Berlinale-Gewinnerin?
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Lambrecht fordert für Abschreckung höheren Bundeswehretat: Wegen des russischen Aufmarsches an der ukrainischen Grenze verstärkt die Nato die Ostflanke der Allianz. Verteidigungsministerin Lambrecht fordert nun für die Abschreckungsmaßnahmen gegen Russland mehr Geld.
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Ein bisschen »Freedom«: Fachleute halten die neuen Coronafreiheiten für vertretbar – warnen aber. Es fehlt ein Plan, falls die Infektionszahlen wieder steigen.
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Kinder der Apokalypse: In Berlin machen Aktivisten Klimaschutz zum Straßenkampf. Für das Überleben der Menschheit leimen sie sich fast jeden Tag auf Autobahnen fest. Dafür werden sie bespuckt und beschimpft. Die Staatsgewalt scheint machtlos.
Was heute weniger wichtig ist
Eisprinzessin im Unglück: Kamila Walijewa, 15, hat eine Eiskunstlauf-Olympiamedaille im Einzelwettbewerb von Peking verpasst. Die hoch favorisierte Star-Eisläuferin aus Russland machte etliche Fehler und wurde am Ende Vierte. Nachdem vor einigen Tagen bekannt geworden war, dass die junge Athletin im Dezember positiv auf Doping getestet worden war, hatte der Internationale Sportgerichtshof Cas ihr in einem Eilverfahren erlaubt, trotzdem am Damen-Einzel teilzunehmen. Die Nervenbelastung aber war offenbar zu groß. Nach dem Kurzprogramm am Mittwoch hatte Walijewa das Feld noch angeführt, heute aber gingen viele Sprünge schief, mehrmals lag die Sportlerin auf dem Eis.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »In dem Schreiben fordert Moksau, dass die Nato sich nicht weiter im Osten Europas ausdehnt.«
Cartoon des Tages: Ich finde, man sollte das jetzt auch nicht gleich wieder übertreiben mit den Lockerungen!
Foto: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten sie sich, angeregt vom Rummel um die Berlinale, einen der Berlinale-Filme aus früheren Jahrgängen ansehen, die derzeit in der Mediathek des Senders 3Sat angeboten werden. Zum Beispiel »Wilde Maus«, das Regiedebüt des österreichischen Unterhaltungskünstlers Josef Hader. Der Film lief 2017 im Wettbewerb des Berliner Festivals. Er schildert den komischen Niedergang eines höchst mittelmäßigen und sehr anrührenden Helden. Natürlich wird er von Hader selbst gespielt. Mein Kollege Oliver Kaever konnte in seiner Kritik vor fünf Jahren nicht so viel mit dem Film anfangen. Ich finde ihn trotzdem hinreißend – wie praktisch alles, was der vor ein paar Tagen 60 Jahre alt gewordene Erzmelancholiker und Großkabarettist Josef Hader im Lauf seiner windungsreichen Karriere zustande gebracht hat. (Lesen Sie hier ein Interview mit Josef Hader über den Krisenstaat Österreich.)
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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