Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Frage, ob am 20. März wirklich alle Coronamaßnahmen enden sollen – oder ob Masken vielleicht doch sinnvoll sind. Außerdem: Russland zieht seine Truppen nicht ab, ein mutmaßlicher Rechtsextremist vor Gericht. Und: Deutschland versöhnt sich mit Marokko.
Europa lässt die Maske fallen, Deutschland hat einen Stufenplan
Sollen am 20. März alle, wirklich alle Coronamaßnahmen in Deutschland fallen? Soll der Tag zum deutschen »Freedom Day« werden oder soll noch ein »Basisschutz« bestehen bleiben: also Maskenpflicht in Innenräumen, Abstand, Hygienemaßnahmen? Das sind Fragen, die nach dem gestrigen großen Öffnungsgipfel zwischen Bund und Ländern noch unbeantwortet sind – und noch zu einem größeren Krach in der Koalition führen könnten.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wuest leitet die Vorbesprechung mit der Bundesregierung
Foto: Frank Ossenbrink / imago images/Frank Ossenbrink
Denn die FDP will es den Nachbarländern Dänemark, Niederlande, Österreich, Schweiz nachmachen, die gerade so gut wie alle Maßnahmen abgeschafft haben. SPD und Grüne möchten hingegen, wie auch die CDU, dass auch ab dem 20. März noch gewisse Maßnahmen beibehalten werden, etwa die Maskenpflicht. In der Schweiz ging die Regierung übrigens sogar so weit, dass sie nicht nur ab heute sämtliche Maßnahmen aufhebt – bis auf Maskenpflicht in Zügen und Krankenhäusern. Sondern sie löst auch gleich die wissenschaftliche Taskforce auf: Wissenschaftlicher Rat ist offenbar nicht mehr nötig.
Seit gestern gibt es nun auch für Deutschland einen detaillierten Öffnungsfahrplan, die Details dazu erfahren Sie hier. Angesichts der sehr viel schneller vorgehenden Nachbarländer wirkt die deutsche Vorsicht aber fast schon wie ein Sonderweg: Erst ab dem 4. März sollen Restaurants von 2G auf 3G wechseln, ab dem 19. März soll die Homeoffice-Pflicht fallen. Lässt sich das wirklich durchhalten?
Nur Frankreich bleibt auf einem ebenfalls vorsichtigen Kurs. Österreich hat neben den beschlossenen Turbo-Öffnungen nun sogar die bereits beschlossene Impfpflicht ausgesetzt. Dass ausgerechnet das Vorbild für die deutsche Impfpflicht nun wieder zurückkrebst, weckt Zweifel, dass sie in Deutschland je eingeführt wird – insbesondere angesichts des Impfpflicht-Durcheinanders im Bundestag mit diversen konkurrierenden Anträgen. Der Einzige, der daran keine Zweifel zu haben scheint, ist Bundeskanzler Olaf Scholz: Er war gestern nach seinem überstandenen Termin mit Wladimir Putin ungewöhnlich beschwingt – und warb beherzt für die Impfpflicht ab Oktober.
Russland zieht seine Truppen nicht ab
Die russische Ankündigung, dass man rund um die Ukraine stationierte Kampfverbände wieder abziehen wolle, hat sich bisher nicht bewahrheitet – im Gegenteil: Laut US-Präsident Joe Biden, aber auch laut unabhängigen Militäranalytikern, die sich auf Open-Source-Quellen stützen, ist bisher kein Rückzug zu beobachten. Aus Großbritannien hieß es, dass manche Truppen von Wartezonen in Angriffspositionen wechselten und dass ihre Zahl an »Schlüsselstellen« steige. Sogar ein Feldlazarett werde in Grenznähe aufgebaut.
Ein russischer Panzer wird bei Woronesch auf einen Eisenbahnwaggon verladen (Pressebild des russischen Verteidigungsministeriums)
Foto: RUSSIAN DEFENCE MINISTRY PRESS SERVICE/HANDOUT HANDOUT / EPA
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, Russland bleibe »jederzeit in der Lage zu einer Invasion der Ukraine ohne jede Vorbereitungszeit«. Der frühere Befehlshaber der US-Armee in Europa, General Ben Hodges, schrieb auf Twitter: »Die derzeit stationierten russischen Land- und Seestreitkräfte legen sich wie eine Boa Constrictor um die Ukraine, ersticken die Wirtschaft des Landes und bedrohen seine Souveränität«. Gleichzeitig verbreiten russische Politiker und Medien aggressiv die komplett erfundene Erzählung eines angeblichen »Genozids« an russischen oder russischsprachigen Menschen in der Ostukraine – ein offensichtlicher Vorwand für eine mögliche Invasion. Sie bleibt also jederzeit möglich.
Der russische Präsident Wladimir Putin ist militärisch und politisch weiterhin in einer Position, den Druck auf die Ukraine massiv zu erhöhen. Heute wird sich der Uno-Sicherheitsrat mit der Krise befassen. Dabei soll es um die Umsetzung des Minsker Abkommens gehen: Es ist der politische Hebel für Putins Einfluss auf die Ukraine – denn dieses einst unter Druck geschlossene Abkommen garantiert den Separatistenregionen im Osten Autonomierechte. Weder die Ukraine noch Russland halten das Abkommen bisher ein. Warum das so ist, können Sie hier nachlesen.
Es ist ein möglicher Schlüssel für eine Lösung des Konflikts – aber je nach Interpretation erhielte Russland damit dauerhaft ein Machtmittel, um in die Ukraine hineinzuregieren. Deutschland und Frankreich sind zusammen mit der Ukraine und Russland Teil des Normandie-Formats, das dieses Abkommen überwachen soll.
Brasiliens Präsident Bolsonaro durfte gestern bei Wladimir Putin am kleinen Tisch sitzen
Foto: Mikhail Klimentyev / AP
Als Antwort auf die russischen Drohungen hat gestern die Nato eine Verstärkung ihrer Truppen in Osteuropa beschlossen – eine Übersicht finden Sie hier. Noch immer sind die Truppenzahlen so gering, dass sie eher symbolischen Charakter haben. Nach Ansicht der Nato sind sie auch weiterhin im Einklang mit der 1997 geschlossenen Nato-Russland-Grundakte. Sollte Russland allerdings eine Invasion der Ukraine beginnen, das haben Mitgliedsländer bereits angedroht, würde man sich an dieses Dokument nicht mehr gebunden fühlen.
»NSU 2.0«: Ist der Mann wirklich ein Einzeltäter?
Er hat mehr als hundert Drohungen verschickt, per Fax, E-Mail oder SMS: Sie enthielten persönliche Informationen über die Bedrohten, die der Täter eigentlich nur aus Polizeidatenbanken gehabt haben kann: Namen und Geburtstage von Verwandten, private Adressen und persönliche Daten der Empfängerinnen und Empfänger. Die Drohschreiben signierte der Mann mit: »NSU 2.0«. Seine Opfer waren meist Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, eine Migrationsgeschichte haben. Unter ihnen Seda Başay-Yıldız, eine Frankfurter Rechtsanwältin, engagiert gegen Rechtsextremismus. Im NSU-Prozess vertrat sie die Familie eines Opfers.
Der Angeklagte im Frankfurter Gerichtssaal. Woher hatte er die privaten Informationen?
Foto: ARNE DEDERT / POOL / EPA
Der Mann, der die Mails verschickt haben soll, steht nun in Frankfurt am Main vor Gericht. Laut Staatsanwalt soll es sich bei ihm um einen Einzeltäter handeln, der sich die vielen privaten Daten über seine Opfer mehr oder weniger ergaunert haben soll. Seine Opfer haben daran Zweifel und fragen sich, ob der Fall wirklich ausrecherchiert wurde. Zu ihnen gehört die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die ebenfalls Drohungen erhielt. Sie sagt: »Fakt ist, dass es hessische Polizeibeamt:innen gegeben hat, die sich illegal Zugang zu persönlichen Daten verschafft haben, und Fakt ist auch, dass es Drohnachrichten via Fax gegeben hat, die aus hessischen Polizeirevieren verschickt wurden«.
Rechtsextremisten waren in Deutschland lange Zeit ein unterschätztes Sicherheitsrisiko. Doch das Risiko liegt längst offen zutage: Nach dem rechtsextremen Terror durch den NSU oder nach der Geschichte um den ehemaligen Bundeswehrsoldaten Franco A., der sich als syrischer Asylbewerber ausgegeben haben soll, um Terroranschläge in Deutschland zu verüben, sollte allen klar sein, wie groß die Gefahr ist.
Lesen Sie den Bericht meiner Kollegin Julia Jüttner vom ersten Prozesstag gegen den »NSU 2.0«-Angeklagten hier:
Deutschland und Marokko versöhnen sich
Sie haben es vermutlich nicht mitbekommen, aber Deutschland befand sich seit fast einem Jahr in einer schweren diplomatischen Krise mit Marokko: Im Mai 2021 hatte die Regierung des nordafrikanischen Landes ihren Botschafter aus Berlin abgezogen. Die Gründe waren kompliziert, die Schritte wurden mit »feindlichen Aktionen Deutschlands« begründet. Unter anderem war Marokko wütend, weil Deutschland die Entscheidung Donald Trumps kritisiert hatte, den marokkanischen Anspruch auf die besetzte Westsahara anzuerkennen. (Über die Hintergründe des Westsahara-Konflikts können Sie diese Reportage aus dem Januar lesen.)
Eine Postkartenansicht des El Badi Palace in der marokkanischen Stadt Marrakech
Foto: JALAL MORCHIDI/EPA-EFE/REX
Der Streit nahm groteske Ausmaße an. So schossen staatlich beeinflusste marokkanische Medien massiv gegen Deutschland – und nahmen in einer Fake-News-Kampagne sogar die Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik ins Visier. Der Regierungswechsel in Deutschland gab Gelegenheit zur Entspannung – und im Dezember änderte das Auswärtige Amt seine Länderwebsite zu Marokko, es fügte allerlei freundliche Worte hinzu und würdigte einen angeblich neuen marokkanischen »Autonomieplan« für die Westsahara. Zudem wird nun ein anderer Botschafter entsandt als der ursprünglich vorgesehene. Damit besänftigte man offensichtlich Rabat: Gestern verkündeten Außenministerin Annalena Baerbock und ihr marokkanischer Gegenpart Nasser Bourita offiziell das Ende der Krise zwischen den beiden Ländern. Es ist das willkommene Ende einer absurden Episode.
Verliererin des Tages…
Trucker-Protest in Ottawa
Foto: Adrian Wyld / dpa
…ist Sarah Chown, eine Restaurantbesitzerin in Ottawa, Kanada. Mehr als zwei Wochen war ihr Restaurant in der Hauptstadt geschlossen, sie kam trotzdem jeden Tag zur Arbeit und fand vor ihrer Tür: Abgasgestank, Motorenlärm, das ständige Hupen von Trucks. Sarah Chown wurde zum Opfer eines bizarren Protests: Hunderte Sattelschlepper, SUVs und Autos des selbst ernannten »Freedom Convoy« legen seit mehr als zwei Wochen die Straßen der Innenstadt lahm.
Chown erzählte meinem Kollegen Francesco Collini am Telefon von einer regelrechten »Belagerung«. Menschen hätten mitten auf der Straße Lagerfeuer angezündet und sich betrunken. Vor ihrem Restaurant stieß sie auf Urin und Fäkalien. Diese Trucker, die gegen kanadische Impfvorschriften protestierten, und auch in Deutschland von einigen selbst ernannten Freiheitsbefürwortern bejubelt wurden, gaben auf die Freiheit und das Leben ihrer Mitmenschen jedenfalls einen feuchten Kehricht.
Angefeuert wurde der Protest vom US-Sender Fox News und von rechtsextremen Netzwerken. Am Montag setzte Kanadas Premierminister Justin Trudeau schließlich ein Notstandsgesetz in Kraft: Damit kann die Regierung gegen die Proteste vorgehen, sie kann vor allem auch die Großspenden beschlagnahmen, die aus den USA fließen, um die Proteste am Leben zu erhalten.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Bulgarischer EU-Abgeordneter zeigt Hitlergruß: Im EU-Parlament wurde über die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn diskutiert, da ergriff ein nationalistischer Abgeordneter aus Bulgarien das Wort. Bei seinem Abgang reckte er den rechten Arm in die Höhe – die Kritik ist enorm
-
Die Nacht, in der Joe Biden einer Republikanerin einen toten Hund auf die Türschwelle legte: Wenn die Stadtreinigung nicht kommt, kommt eben Joe Biden: Der US-Präsident hat auf einer Konferenz über einen Vorfall aus den Siebzigern gesprochen. Im Mittelpunkt: ein toter Hund und eine unfreundliche Anruferin
-
Nick Clegg wird bei Facebook-Mutter Meta Präsident für globale Angelegenheiten: Bei Facebook galt Nick Clegg als der »Außenminister«, nun steigt der britische Ex-Politiker beim Mutterkonzern Meta weiter auf. Gründer Mark Zuckerberg will dafür kürzertreten
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Steigende Preise für Milch und Butter: Wird jetzt auch noch das Croissant teurer?
-
IT in den Behörden: Warum Deutschland ein Datenproblem hat
-
Absurde Vorschrift: Die Behörde will, dass smarte Stromzähler im Keller hängen – aber da können sie nicht senden
-
Überraschendes Studienergebnis zum Nahverkehr: Warum ärmere Menschen Busse und Bahnen meiden
-
»Hexen« von heute: Der Tanz ums Walpurgisfeuer
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Mathieu von Rohr