Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Corona – Beginnen jetzt die »Öffnungsorgien«?
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E-Mobilität – Kommt der Elektro-Bock?
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Britisches Königshaus – Wird Andrew jemals wieder Sir Royal?
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1. Beginnen jetzt die »Öffnungsorgien«?
Seit 8. Dezember ist Karl Lauterbach Gesundheitsminister. In den vergangenen zwei Monaten war zu beobachten, wie er sich vom ewigen Mahner, vom engagierten Verteidiger der Wissenschaft zum Realpolitiker wandelte, der nun Rücksichten nehmen und Verantwortung tragen muss. Und der – auch das gehört zur DNA eines Realpolitikers – seine Machtfülle zu verteidigen weiß. Jüngstes Beispiel: Lauterbach will dem Robert Koch-Institut (RKI) und seinem Chef Lothar Wieler die Entscheidung zur Verkürzung des Genesenenstatus wieder abnehmen. Im Januar erst wurden das RKI und das Paul-Ehrlich-Institut ermächtigt, zu bestimmen, wer unter welchen Umständen und wie lange als genesen beziehungsweise geimpft gilt. Das RKI hatte von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und in Absprache mit dem Gesundheitsministerium den Genesenenstatus von sechs auf drei Monate verkürzt, offenbar, weil es gute Gründe dafür hatte.
Die Folge war, dass sich für Millionen Menschen über Nacht der Zugang zu Gastronomie und Veranstaltungen veränderte. Ein Problem für Lauterbach, dem der geballte Ärger entgegenschlug. »Über tiefgreifende Entscheidungen wie etwa den Genesenenstatus möchte ich selbst und direkt entscheiden«, so der Minister jetzt in der »Bild«-Zeitung. »Sonst trage ich die politische Verantwortung für das Handeln anderer.« Man stelle sich vor, Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn hätte das RKI auf diese Weise gemaßregelt, hui, da wäre was los gewesen. Angeführt hätte den Protest wohl sehr wahrscheinlich: Karl Lauterbach.
Der aber ist inzwischen relativ geräuschlos ins Lager der Lockerer übergegangen. Es sei Zeit, so der Minister, Öffnungen mit Augenmaß vorzunehmen, der Höhepunkt der Omikron-Welle sei überschritten. Vor der heutigen Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) sprach Lauterbach von einem »Basisschutz«, den das Infektionsschutzgesetz noch bieten müsse, jetzt sollten die Länder »ein größeres Corona-Besteck« an die Hand bekommen, um eingreifen zu können, falls sich die Coronalage doch wieder verschärft. Am Nachmittag tagten der Bundeskanzler und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, um zu beschließen, dass bis zum 20. März die Coronaschutzmaßnahmen weitgehend und stufenweise wegfallen sollen. In einem ersten Schritt sollen sich Geimpfte und Genesene wieder mit mehr als zehn Menschen treffen dürfen. Im Handel soll die 2G-Regel bundesweit fallen, die Pflicht zum Maskentragen aber bestehen bleiben, viele weitere Regelungen sollen gestrichen werden. Die frühere Bundeskanzlerin Merkel würde vielleicht von »Öffnungsorgien« sprechen.
Die MPK wäre aber nicht die MPK, würde sie ganz ohne Gezeter über die Bühne gehen. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte zum Vorstoß Lauterbachs, über den Genesenenstatus bestimmen zu wollen, er sei »nicht dafür, dass Herr Lauterbach das mit sich alleine ausmacht«. Wüst pocht auf eine Mitbestimmung der Länder. Lauterbach selbst sei es gewesen, der ursprünglich die Kompetenz auf das RKI übertragen hat. »Das ist im Chaos geendet«, so Wüst.
Ich glaube ja, Lothar Wieler sitzt immer häufiger in seinem Institut und fragt sich: Wie lange schaue ich mir diesen Zirkus noch an?
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Lesen Sie hier mehr: Coronamaßnahmen – Bund und Länder beschließen Lockerungsplan
2. Kommt jetzt der Elektro-Bock?
Können Sie sich noch an Martin Winterkorn erinnern? Wie der frühere VW-Chef einst auf einer Automesse bei einem Hyundai Spaltmaße zwischen den Blechteilen nachgemessen hat und im Innenraum fasziniert feststellte, »da scheppert nix. Warum können wir das nicht?« Damals waren Spaltmaße und geschmeidig verarbeitetes Plastikinterieur noch die Benchmark für ein Automobil der Zukunft. Als sich Winterkorn pedantisch um Äußerlichkeiten kümmerte, investierte der US-Newcomer Tesla längst ins Innere und damit die Neuerfindung des Autos. Sechs Jahre technologischer Vorsprung wurde den US-Amerikanern attestiert. Damals noch von der alten Garde belächelt, versprach Tesla-Gründer Elon Musk nichts weniger, als mit seinen E-Mobilen die alten Autobauer aus Europa und Japan auszuradieren.
Nun ist Winterkorn bekanntlich seit vielen Jahren nicht mehr VW-Chef – Jahre, die der niedersächsische Hersteller und seine traditionellen Konkurrenten genutzt haben, den Kampf mit Musk aufzunehmen. Im Frühjahr wird in Grünheide in Brandenburg voraussichtlich der erste Tesla vom Band rollen, doch VW und Co. haben längst aufgeholt. »Am schnellsten schrumpft Teslas einstiger Riesenvorsprung bei den Batterien«, zitiert mein Kollege Felix Wadewitz einen ADAC-Autotester. »Dabei geht es nicht nur um die reine Reichweite, sondern auch um die Effizienz, also den Stromverbrauch pro Strecke.«
Die gute Nachricht: Mehr als 100 Kilometer weiter kommt der Mercedes EQS mit einer Batterieladung als das Topmodell von Tesla, das offiziell rund 650 Kilometer schaffen soll. Mit dem Lucid Air soll noch in diesem Jahr ein Neuling auf dem deutschen Markt auftauchen, der mehr als 800 Kilometer Reichweite hat. Auch der Elektro-SUV iX von BMW schlägt das Pendant Model Y von Tesla.
Die schlechte Nachricht: All diese Autos sind Luxuskarossen, die sich normal Sterbliche wohl nie leisten werden können und die mit ihrer monströsen Größe weiterhin die Städte verstopfen. Der Mercedes EQS beginnt bei einem Preis von 130.000 Euro, der BMW iX bei 98.000 Euro – nur Leute wie Martin Winterkorn werden sichs leisten können.
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Lesen Sie hier mehr: Elektroautos – So schnell schrumpft Teslas Vorsprung
3. Sir Royal?
Es waren verzweifelte Versuche, die Reputation von Prinz Andrew zu retten. Seit Jahren steht der Sohn der Queen im Verdacht, sich im Gefolge des verurteilten und inzwischen verstorbenen Sexualstraftäters Jeffrey Epstein an der damals noch minderjährigen Virginia Giuffre vergangen zu haben. Ein Foto von 2001 zeigte Andrew, wie er der damals 17-Jährigen den Arm um die Hüfte legte. Andrews Anwälte warfen zuletzt Zweifel an der Echtheit des Bildes auf, um so ihren Mandanten aus der Schusslinie zu ziehen. Das Gegenteil trat ein: Der Prinz verspielte den letzten Rest an Credibility, wurde zum Gespött des britischen Boulevards.
Juristisch wäre es ihm im schlimmsten Fall ähnlich ergangen wie seinem Buddy Epstein. Die Gefahr einer Verurteilung war real. Nun die überraschende Wendung: Andrew muss sich doch nicht wegen sexuellen Missbrauchs vor einem US-Gericht verantworten. Der Prinz habe sich mit der Klägerin Giuffre auf eine »beträchtliche« Zahlung geeinigt. Mein Kollege Marc Pitzke in New York verfolgt den Skandal seit Langem. »Es ist womöglich ein Schlussstrich unter die gesamte Causa Epstein, da dies das letzte große Zivilverfahren war, das sich um den gerichtlichen Nachlass des Ex-Finanziers drehte«, schreibt Marc in seinem jüngsten Text.
Ob es den Leumund Andrews wieder repariert, ob er je wieder ein stolzer Duke sein wird, scheint ausgeschlossen. Für seine Mutter, die Queen, ist der Lieblingssohn längst zum peinlichen Problem geworden, alle Titel, die das an Titeln nicht arme Königshaus zu vergeben hat, wurden ihm aberkannt. Das britische Revolverblatt »Sun« besiegelt den öffentlichen Ansehensverlust des Royals in ihrem vernichtenden Kommentar: »Andrew ist am Ende – am Ende seiner unerträglichen Arroganz, seines Anspruchsdenkens und seiner schwindelerregenden Naivität. Er muss sich vollständig aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und seinen Ruhestand in Schande verbringen.« Better late than never.
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Lesen Sie hier mehr: Prinz Andrew erzielt Einigung im US-Missbrauchsverfahren – Zahltag für die Royals
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Nato berichtet über mehr russische Truppen an der Grenze: Sind die Berichte über einen Teilrückzug russischer Soldaten nur ein Bluff? Nach Erkenntnissen der Nato und der USA hat Moskau die Anzahl der Truppen an der Grenze zur Ukraine offenbar sogar erhöht.
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Lindner-Berater Feld für höheres Rentenalter: Später in Rente, ein höherer Preis für CO₂, Lockerungen beim EU-Stabilitätspakt: Der neue Berater von Finanzminister Lindner erhebt eine Reihe unpopulärer Forderungen.
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»Ich lasse mir von niemandem 375 Millionen Euro verbrennen«: Abstiegskampf trotz 375 Millionen Euro Finanzspritze – Investor Lars Windhorst wettert gegen die Führung von Hertha BSC. Manchem beim Fußballklub gehe es vor allem um »Machterhalt und Klüngelei«.
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Erste Frau gilt nach Stammzelltherapie als von HIV geheilt: Zwei Männer wurden bereits erfolgreich von HIV geheilt, nun gilt auch eine Frau seit 14 Monaten als virusfrei. Bei ihr wurde eine andere Therapieform angewandt.
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Orkanböen ziehen über Deutschland – Schule fällt am Donnerstag in NRW aus: Der Wind dreht mächtig auf: Orkanböen mit bis zu 120 Kilometern pro Stunde werden in Deutschland erwartet. Wegen Unwetterwarnungen für Nordrhein-Westfalen ist Unterrichtsausfall angeordnet worden.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
Ist es eine Ekstase, Hase? Das Bett ist eine Baustelle
Foto:
Milles Studio / Stocksy United
… ist ein Interview, das unsere Autorin Heike Kleen mit der Sexualtherapeutin Katrin Hinrichs geführt hat. Es geht um das Klischee, dass Frauen angeblich weniger Lust auf Sex haben; die beiden sprechen über Penisse, die den festen Druck der Hand gewohnt sind, und über den Druck, den die Pornoindustrie den Paaren macht. Es ist ein heiteres Gespräch über ein ernstes Thema. Und je länger man liest, desto mehr verfestigt sich der Eindruck: Das Bett ist eine Baustelle. Sollten bei Ihnen gerade ein paar gute Handwerker oder Handwerkerinnen nötig sein, lesen Sie das Gespräch, vielleicht werden Sie selbst eine/r.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Sexualtherapeutin über Lust von Frauen – »Wir müssen weg von dem System: Erektion – Penetration – Orgasmus«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Die Störung des Autoverkehrs trifft einen Nerv«: Klimaaktivisten kleben sich auf Straßen fest, Autofahrer rasten aus: Störaktionen im Verkehr sind besonders heikel, sagt der Protestforscher Simon Teune. Hier erklärt er, was den Reiz von Straßenblockaden ausmacht.
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Alles dreht sich um den Döner: Burger, Craftbeer, Gin: Aus einfachen, einst proletarischen Genüssen sind Gastrotrends geworden – vom Döner gibt es aber kaum hippe Edelvarianten. Hat er die falsche Herkunft?
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Durchseuchung als Gelegenheit: Dänemark hat alle Coronamaßnahmen beendet – mitten in der heftigsten Infektionswelle. Jetzt liegt die Zahl der täglichen Todesfälle fast auf dem Rekordniveau vom Januar 2021. Taugt das Land trotzdem als Vorbild für Deutschland?
Was heute weniger wichtig ist
Duz-Feindschaft: Hier soll ich Dir, liebe Leserin, lieber Leser, kurz mitteilen, was es nicht ganz nach oben auf unsere Homepage geschafft hat. Du wirst es nicht glauben, das war gar nicht so einfach. Alles irgendwie wichtig. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie lange ich suchen musste. Dann bin ich auf diese Meldung gestoßen, die Dich vielleicht interessiert: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, 53, (die, über die ich in einer früheren »Lage am Abend« den unoriginellen Wortwitz »Bas erstaunt« gemacht habe, als sie frisch gewählt wurde) will nicht mehr so viel duzen. Als Ruhrgebietlerin und Genossin sei sie das Duzen gewohnt – »ich befürchte, dass ich mich dabei künftig ein bisschen zurücknehmen muss«. Oh, habe ich Dich jetzt auch geduzt? Ich bitte um Entschuldigung, ich werde es Frau Bas gleichtun und künftig wieder mehr Etikette an den Tag legen.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Die Impfpflicht im öffentlichen Senktor hat in New York nur geringe Folgen«
Cartoon des Tages: Toll, die Welle geht zurück!
Und heute Abend?
Könnten Sie mal wieder Musik hören. Sehr gute Musik. Ich empfehle Ihnen die Sängerin Marley Munroe, eine junge Frau aus Los Angeles, die als Lady Blackbird mit ihrem Debütalbum »Black Acid Soul« international für Furore sorgt. Auf der Platte interpretiert sie auch »Blackbird«, einen Nina-Simone-Klassiker, eine mehr als 50 Jahre alte Hymne der Civil-Rights-Bewegung, eine wahre Offenbarung in der Neufassung von Munroe. Weltweit erntet die Debütantin mit dem spacigen Silber-Afrolook und einer Urgewalt an Stimme Jubelstürme in der Presse: »Glamour und Schmirgelsamt mit einer Rhythmusgruppe, die sich radikal zurückhält, um der neuen Diva die große Bühne zu lassen«, schreibt die »Süddeutsche Zeitung«. Eine »außergewöhnliche Stimme, frei von Affektiertheit, voller Leichtigkeit und knurrender Kraft«, lobt der »Guardian«, »rätselhaft und fesselnd«, würdigt die »New York Times«. Wer sich selbst ein Urteil bilden will, sollte reinhören – und wer sie live erleben will, hat Anfang Juni die Gelegenheit beim »Elbjazz Festival«. Dort wird Lady Blackbird in der Elbphilharmonie auftreten.
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Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Janko Tietz
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