Fragt man die Deutschen, wer der beliebteste Bundespräsident war, ist das Ergebnis seit Jahren dasselbe: Richard von Weizsäcker. Der CDU-Politiker hatte das höchste Amt des Staates von 1984 bis 1994 inne, länger als ein Vierteljahrhundert ist das also schon her.
Von Weizsäckers Strahlkraft über Generationen hinweg rührt vor allem von jener Rede her, die er früh in seiner ersten Amtszeit hielt. 40 Jahre nach Kriegsende bezeichnete er den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Eine selbstverständliche These, mag man heute denken, aber in einer Zeit, in der es noch gewichtige Stimmen gab, den Tag der Kapitulation der Nationalsozialisten aus bundesdeutscher Sicht als Niederlage anzusehen, war es eine bemerkenswert und wohltuend klare Aussage.
Die Kraft der pointierten Rede, der Mut, sich klar zu positionieren, die allgemein verständliche Klugheit, all das verhalf von Weizsäcker zu einer unvergleichlichen Autorität. Unvergessen seine schonungslose Abrechnung mit dem deutschen Parteienstaat, den er als machtvergessen und machtversessen bezeichnete, und die Parteien als sechstes Verfassungsorgan ohne Kontrolle. Es war eine gefährliche und umstrittene Kritik, weil sie am Populismus schrappte und an den Klischees der Antidemokraten, doch war sie so formuliert, dass sie am Ende ein scharfer, aber konstruktiver Debattenbeitrag war.
AdvertisementAuch Frank-Walter Steinmeier hat in seiner ersten Amtszeit gute Reden gehalten. Er war der erste Bundespräsident, der in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem gesprochen und klargemacht hat, dass das Lernen aus der Geschichte keinen Endpunkt kennt. Er hat sich zuletzt mit Impfbefürwortern und Impfskeptikern zum Gespräch getroffen und zugleich betont, welch »bösartiger Unfug« es sei, hierzulande von einer Coronadiktatur zu sprechen.
Starke Worte, die aber doch keine Wucht entfaltet haben, keine großen, gesellschaftlichen Debatten anstießen. Dazu waren sie nicht mutig, nicht inspirierend genug. Manchmal, so wirkt es, kommt der einstige Parteisoldat, loyale Amtsträger und fleißige Technokrat bis heute nicht aus seiner politischen Haut heraus. Manchmal wirkt die Würde dieses Amtes auf ihn noch allzu hemmend.
Mit seiner heutigen Wiederwahl hat Steinmeier ein breites, parteiübergreifendes Mandat erhalten, das er mit dem machtpolitischen und für ihn ungewöhnlich mutigen Manöver seiner Selbstbewerbung fast erzwungen hat. Das Wahlergebnis ist ein großer Vertrauensbeweis, aber auch ein klarer Auftrag, verbunden mit einer hohen Erwartung: In der zweiten Amtszeit muss er die Rolle, die er sich selbst gegeben hat, als Brückenbauer, innen- wie außenpolitisch, als Wahrer der gefährdeten Demokratie und, natürlich, als steter Mahner endlich erfüllen.
Es muss nicht die große Rede sein, mit der das gelingen kann. Die Zeiten, in denen das Wort des Staatsoberhaupts die Nation aufrüttelte, sie sind vermutlich ohnehin vorbei. Wer notiert sich schon die jährliche Weihnachtsansprache in seinem Kalender? Und warten gerade die Jungen darauf, was der weißhaarige Mann im betulichen Ambiente vor Weihnachtsbaum und Bundesadler zu sagen hat? Wohl kaum.
Es können auch die Formate sein, die Art der menschlichen Begegnung, der Weg, den seine Botschaften in den gesellschaftlichen Diskurs nehmen, die sich als prägend, nachhaltig und einzigartig erweisen. Wer Frank-Walter Steinmeier aus seiner Zeit als Minister kennt, weiß, dass er eines nie verloren hat: seine Bodenständigkeit, seine Neugier auf die Menschen, seine Lust, beim Bier miteinander zu reden und zu streiten. Diese Zugewandtheit ist ihm mehr zu eigen als vielen seiner Amtsvorgänger.
Und weil man Olaf Scholz, dem neuen Bundeskanzler, nicht zuallererst Charisma, Volksnähe oder das kräftige öffentliche Wort als Stärken zuschreibt, könnte und sollte der Bundespräsident diese Lücke an der Spitze des Staates füllen.
Steinmeier hat sich in den vergangenen Jahren mit vielen Menschen getroffen, wegen der Pandemie waren die meisten der Begegnungen virtuell, manchmal lud er Bürgerinnen und Bürger in seinen Amtssitz ein, nach Schloss Bellevue, in für ihn sichere Gefilde.
Meint er es aber ernst mit dem Vorhaben, nach dem Kitt suchen zu wollen, den die Gesellschaft zusammenhält, und den Stellen, an denen dieser Zusammenhalt gefährdet ist, muss Steinmeier, sobald es wieder geht, raus aus seinem Schloss. Er muss die Orte aufsuchen, an denen die Brüche spürbar sind, in und außerhalb von Deutschland. Er muss vor allem zeitgemäße Formen und Worte finden, um auf diese Brüche aufmerksam zu machen und er muss Ideen entwickeln, diese Brüche zu heilen. Der Brückenbauer muss sich ein wenig neu erfinden.
Steinmeiers ungewöhnlich emotionale Antrittsrede macht da Hoffnung: »In die Winkel unserer Gesellschaft« wolle er in den kommenden Jahren vordringen, kündigte der alte und künftige Präsident an, und sich Zeit nehmen für eine Reise durchs Land, auf der Suche nach einem »neuen Zusammenhalt«.
Und auch außenpolitisch fand Steinmeier erfreulich klare Worte. Er wies einzig und allein Russland die Verantwortung für die derzeitige Eskalation zu und emanzipierte sich klar von seinem einstigen Chef, Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder. »Ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie«, rief Steinmeier.
»Ich werde als Bundespräsident keine Kontroverse scheuen«, versprach Steinmeier – und setzte sich die höchsten Hürden für die nächsten fünf Jahre damit selbst.