Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Chats aus Österreich – Was verraten sie über das Innenministerium?
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Metropolen des Stillstands – In welchen Städten fließt der Verkehr besonders zäh?
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Corona – Wie sehr leidet die Jugend?
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1. Chatte sich, wer kann
»Warum hat diese Hexe noch niemand in der Donau versenkt?« Das klingt wie ein Drama aus dem Nachlass von Thomas Bernhard, findet ein Kollege. Für mich klingt es eher nach einem Telegram-Kanal, dessen Mitglieder sich samstags zum Spazierengehen treffen. Es ist aber ein Zitat aus einem Konvolut von Chats, die aus dem Innenministerium Österreichs stammen und dem SPIEGEL und dem STANDARD vorliegen. Mitteilungen vor allem aus den Jahren 2015 bis 2017; sie wurden geschrieben, empfangen und weitergeleitet, als zwei der heute noch mächtigsten Polit-Akteure des Landes das Ministerium leiteten: Johanna Mikl-Leitner und Wolfgang Sobotka: Mikl-Leitner regiert inzwischen als Landeshauptfrau das Bundesland Niederösterreich. Sobotka fungiert aktuell als Nationalratspräsident, als Chef des österreichischen Parlaments.
»Die Chats belegen nicht nur, wie durchwirkt das Innenministerium und die nachgelagerten Sicherheitsbehörden mit Parteigängern der ÖVP sind«, berichtet mein Kollege Oliver Das Gupta. »Weniger fachliche Kompetenz, sondern vor allem die ideologische Grundierung, persönliche Nähe und die Loyalität zu ÖVP-Oberen scheinen bei der Besetzung wichtiger Posten ausschlaggebend gewesen zu sein.«
Aber auch ihn haben die neuen Chats überrascht: »Die Elite des österreichischen Sicherheitsapparats agiert völlig ungeniert zum parteipolitischen oder persönlichen Vorteil«, sagt Oliver. »Neben den Lästereien und Gefälligkeiten geht es um mutmaßliche Vetternwirtschaft in großem Umfang.« Inzwischen haben die Ermittler der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft das Chatkonvolut erhalten. Das dürfte eine Vielzahl von Verfahren nach sich ziehen.
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2. Metropolen des Stillstands
Das Schlangestehen verlagert sich von den Bürgersteigen vor Teststationen und Impfzentren wieder auf die Straßen: In vielen deutschen Städten fließt der Verkehr auf Vor-Pandemie-Niveau, nämlich so zäh wie Honig aus dem Reformhaus. In Hamburg, Wiesbaden und Berlin sogar so zäh wie Honig aus dem Reformhaus, den jemand versehentlich in den Kühlschrank gestellt hat.
»Zurück zur Normalität heißt zurück zum Stau, besser wird es nur, wenn mehr vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umsteigen«, sagt mein Kollege Arvid Kaiser aus unserem Mobilitätsressort, der zusammen mit meinen Kollegen Holger Dambeck und Patrick Stotz die Daten eines Navigationsdienstes ausgewertet hat. Es ist laut der Firma der größte Datenschatz über den deutschen Straßenverkehr: Die Zahlen stammen nicht nur aus den GPS-Geräten der Firma, sondern auch aus den eingebauten Systemen der großen Autohersteller, aus Telematikboxen der Kfz-Versicherungen und Smartphone-Apps. Weltweit habe die Firma mehr als 600 Millionen Geräte vernetzt. So ergibt sich die Rangliste »Metropolen des Stillstands«:
1. Hamburg
2. Wiesbaden
3. Berlin
4. Aachen
5. Nürnberg
6. München
7. Kassel
8. Dresden
9. Stuttgart
10. Köln
Mit ein bisschen Querdenker-Logik lässt das nur den Schluss zu, dass sich die Welt gegen mich verschworen hat: Berlin ist meine Heimatstadt, in Hamburg lebe ich seit Jahren. Irgendjemand dirigiert die Stausteher verlässlich dorthin, wo ich wohne, um meine Nerven zu strapazieren und mich davon abzuhalten, der Sache auf den Grund zu gehen. Als hätte ich’s nicht geahnt: Die internationale Stau-Statistik führt Istanbul an, die einzige Stadt im Ausland, in der ich mehrere Monate verbrachte. Ich bin da etwas ganz Großem auf der Standspur.
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3. Am Ende einsam
Zwischen all den Katastrophenmeldungen und schlechten Nachrichten gibt es welche, die mich besonders betroffen machen. Heute war es diese: Im norditalienischen Prestino haben Ermittler die mumifizierte Leiche einer 70-Jährigen in deren Wohnung gefunden. Das letzte Lebenszeichen der Frau datiert vom September 2019, wie die Zeitung »Corriere della Sera« schreibt. Demnach gingen ihre Nachbarn davon aus, sie sei zu Beginn der Coronavirus-Pandemie umgezogen. Die Zeitung nennt die Frau in einem Kommentar »die Einsamkeit in Person«. (Hier mehr dazu.)
Niemand weiß, wie viele Menschen auch hierzulande allein gestorben sind während der Pandemie. Oft sind Ärztinnen und Ärzte und die Pflegekräfte gepriesen worden für ihren Kampf an der Corona-Front. Ein Verdienst wird aber selten gewürdigt: Dass viele von ihnen Himmel und Hölle in Bewegung setzten, damit sich Angehörige doch noch verabschieden konnten, trotz verschärfter Besuchsregeln und Betretungsverbote. Da werden iPads an Krankenbetten gehalten für ein letztes Videotelefonat; da wird nicht auf die Uhr geschaut, wenn die Besuchszeit abgelaufen ist; da werden Patienten noch ein letztes Mal mit ihrem Bett auf den Hof geschoben, wo die ganze Familie wartet. Es sind keine medizinischen Heldentaten, aber menschliche.
Eine Corona-Nachricht, die vielleicht etwas Hoffnung keimen lässt: Neue Zahlen der Copsy-Studie zeigen, dass die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen leicht gesunken ist. »Leider ist aber immer noch deutlich höher als vor der Pandemie«, sagt meine Kollegin Silke Fokken, die sich die Studie angeschaut hat. »Es gibt weiterhin deutlich vermehrt psychosomatische Stresssymptome wie Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Einschlafprobleme.« Dazu kommt, dass sich die Daten auf die Gemütslage im vergangenen Herbst beziehen, als ein weitgehend normaler Alltag herrschte – anders als jetzt. »Für mich sind die Zahlen deshalb trotz der leicht positiven Entwicklung ein ganz dringender Appell, das Wohl von Kindern und Jugendlichen in der Krise mehr in den Blick zu nehmen«, sagt Silke. »Dass das immer noch zu wenig geschieht, ist nur noch schwer auszuhalten.«
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Kühnert wirft Schröder schädigende Profitinteressen vor: Die SPD-Spitze distanziert sich von Gerhard Schröder. »Das ist nicht nur nicht in Ordnung, das ist sogar traurig«, sagte Generalsekretär Kevin Kühnert über die Pläne des Ex-Kanzlers, in den Gazprom-Aufsichtsrat zu gehen.
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Projekt in Oxford meldet Energie-Weltrekord: Sieht so eine Zukunft ohne Energiesorgen aus? Das europäische Projekt JET bricht seinen eigenen Weltrekord in der Kernfusion. Doch die erzeugte Energiemenge ist bescheiden.
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Deutsche Doppelsitzer rodeln zu Gold und Silber: Die Rodler bleiben im deutschen Team die Medaillengaranten: Nach Natalie Geisenberger und Johannes Ludwig im Einzel holten auch die Doppelsitzer Wendl und Arlt den Titel – es wurde erneut ein Doppelsieg.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Schwamm drunter
Arktische Tiefseeschwämme sind Überlebenskünstler
Foto: Alfred-Wegener-Institut
In den lichtlosen, kalten Tiefen zwischen Grönland und Sibirien verläuft am Boden des Arktischen Ozeans ein unsichtbares Gebirge. Das Massiv ist so mächtig wie die Alpen. Gakkelrücken, so heißt die Formation. In manchen Bereichen dieser Region gibt es heiße Quellen, in deren Wasser große Mengen an Mineralstoffen gelöst sind. Doch auch in Arealen ohne unmittelbare vulkanische Aktivität sprießt das Leben, wie Forschende aus Deutschland, Norwegen und den Niederlanden gerade wieder eindrucksvoll am Beispiel des in dem Gebiet liegenden Karasik Seamount berichten – obwohl es in der Tiefe des Nordpolarmeers, das ganzjährig unter einer Eisdecke liegt, nicht nur kalt und lichtlos ist, auch Nährstoffe sind absolut rar.
Mein Kollege Christoph Seidler berichtet über neue Forschungserkenntnisse aus dieser dunklen Ecke der Welt. Meeresbiologinnen und -Biologen haben demnach Schwämme entdeckt, die eine ziemlich wundersame Strategie gefunden haben, mit dem Mangel umzugehen: »Sie vertilgen ganz langsam Überreste eines längst verschwundenen Ökosystems«, sagt Christoph. »Die Forscherinnen und Forscher konnten zeigen, dass die Schwämme die Röhren von seit Tausenden von Jahren verschwundenen Tiefseewürmern nutzen, und so die Energie zum Leben gewinnen.«
Faszinierender noch finde ich: Schwämme haben kein Hirn, aber sie können sehr alt werden. Ich kann nicht genau erklären, warum, aber es lässt mich hoffen.
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Lesen Sie hier mehr: Wie wundersame Schwämme auch in lebensfeindlichen Tiefen Nahrung finden
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Warum die Union gegen die Pflege-Impfpflicht rebelliert: Markus Söder preschte vor, nun distanzieren sich immer mehr Unionsländer von der Impfpflicht in Kliniken und Pflege, die sie selbst beschlossen haben. Gesundheitsminister Lauterbach ist entsetzt. Was ist da los?
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In English, please! Olaf Scholz hat auf seinem Besuch in den USA viel Englisch gesprochen. Dieses sprachliche Coming-out ist kind of a big deal.
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Wie der gefürchtete Nazi Reinhard Heydrich Präsident von Interpol wurde: Ab 1940 stand der Organisator des Holocausts an der Spitze von Interpol. Der Polizeiverband war die einzige internationale Organisation, die vollständig in NS-Hände geriet. Dahinter stand ein perfider Plan von Hitlers Leuten.
Was heute weniger wichtig ist
Stufe 1 auf der Richter-Gala: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst, 46, hat dem Maler Gerhard Richter zu seinem 90. Geburtstag gratuliert. Richter sei einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, schrieb Wüst in einer Erklärung. »Wir sind stolz darauf, dass Gerhard Richter in unserem Land eine zweite Heimat gefunden hat.« Der in Dresden geborene Richter war 1961 aus der DDR geflohen. Danach studierte er an der Düsseldorfer Kunstakademie. Heute lebt er in Köln. Wüst lässt sich so zitieren: »Sein von einer unglaublichen Vielfalt geprägtes Werk begeistert und inspiriert Menschen auf der ganzen Welt.« (Hier mehr zum Werk.)
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Der Ingenieur, der 26 Jahre lang in Diensten von Hyundai stand, hatte die Aufsichtsbehörden bereits 2016 darauf hingewiesen, dass der Konzern offenbar zu wenig gegen einen Motorfehler tue, der zu Unfällen würden könnte.
Cartoon des Tages: Made in USA
Foto:
Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie anfangen, sich auf die zweite Staffel »Picard« einzustimmen, die am 4. März startet (mehr dazu hier) und in der es wieder um den besten Captain geht, der je das Raumschiff Enterprise kommandierte.
Aber keine Angst, Sie müssen nicht alles aus dem »Star Trek«-Universum gesehen haben, um der Handlung folgen und alle Anspielungen verstehen zu können. Es reicht aber auch nicht, sich nur die erste »Picard«-Staffel reinzuziehen.
Sinnvoll wären schon alle 178 Episoden von »Star Trek: The Next Generation«, außerdem mindestens der Kinofilm »Star Trek: First Contact«. Und weil auch Seven of Nine wieder mitspielt, gucken Sie vielleicht auch die 178 Folgen »Star Trek: Voyager«.
Einen schönen Abend. Herzlich,
Ihr
Oliver Trenkamp
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