Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
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Inflation – Wir schlimm wird der Preisschock?
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Katholische Priester – Eine Chance für die Liebe?
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Deutsche Welle – Russland schaltet ab?
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1. Christine Lagarde steht unter Inflationsschock
In der Türkei sind die Verbraucherpreise im Januar um fast 50 Prozent im Jahresvergleich gestiegen. Viele Menschen können sich Lebensmittel, Strom, Benzin, Arzneien nicht mehr leisten. Die Türkei, lange ein Wirtschaftswunderland, verarmt. Staatspräsident Erdoğan, der glaubt, er könne die Fundamentalgesetze der Ökonomie außer Kraft setzen und Inflation mit künstlich niedrigen Zinsen bekämpfen, führt sein Land wirtschaftlich an den Abgrund.
Deutschland und die EU-Staaten sind von türkischen Verhältnissen weit entfernt. Doch auch im Bereich der Europäischen Zentralbank (EZB) stiegen die Preise zuletzt um 5,1 Prozent. Das ist ein neuer Rekord für die Eurozone.
Heute traf sich der Rat der EZB, um über die Lage zu reden. Man hätte denken können, dass auch gehandelt wird. Doch die EZB wirkt wie gelähmt; EZB-Chefin Christine Lagarde hat offenbar einen Inflationsschock. Der Leitzins bleibt bei null Prozent. An den milliardenschweren Anleihekäufen wird festgehalten. Nachdem Lagarde lange bestritten hat, dass es überhaupt ein Problem mit steigenden Preisen gebe, sucht sie noch nach einem Ausweg.
Wie ernst die Lage ist, hat die Vizechefin der Weltbank, Carmen Reinhart, jetzt meinem Kollegen Tim Bartz erklärt. Reinhart ist Expertin für Finanzkrisen und gehört zu den meistzitierten Wirtschaftswissenschaftlern der Welt. Sie glaubt, dass die Inflation zu einem Dauerproblem wird. Den Zentralbanken, auch der EZB, stellt sie ein vernichtendes Urteil aus.
Hier einige Auszüge aus ihrem Interview:
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»Wir vergleichen die heutige Situation oft mit den Siebzigerjahren, als die Weltwirtschaft das letzte Mal mit hohen Inflationsraten zu kämpfen hatte. Der Unterschied ist, dass es damals einen einzigen Angebotsschock gab: die hohen Ölpreise. Heute kommt es überall zu Engpässen.«
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»Die Zentralbanken haben es versäumt, rechtzeitig und angemessen auf die Inflation zu reagieren. Auch das ist eine der bitteren Parallelen zu den Siebzigerjahren. Das Gefährliche daran ist, dass diejenigen, die Entscheidungen hinauszögern, die Saat für spätere, drakonische Maßnahmen legen.«
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»Der Einfluss der Politik auf die Zentralbanken ist enorm, vor allem in Europa. Die Zentralbanken sind nur auf dem Papier unabhängig. Die Verschuldung ist viel zu hoch, und die Zentralbanken handeln viel zu zögerlich. Die Situation ist extrem gefährlich.«
Wer letztes Jahr vor steigenden Preisen warnte, musste damit rechnen, von Talkshow-Ökonomen und anderen Meinungsführern als »Inflationsneurotiker« und »Klamaukdeuter« dargestellt zu werden. Ich neige nicht zu Neurosen, mir machen eher Notenbanker und Politiker Sorgen, die sich der Realität verweigern. Inflation frisst Kaufkraft und Ersparnisse auf, vergiftet die Wirtschaft, macht Menschen arm. Die Erdoğanisierung der EZB ist eine reale Gefahr.
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Lesen Sie hier das vollständige Interview: »Die Situation ist extrem gefährlich«
2. Unter der Soutane schlägt ein liebendes Herz
Sollen katholische Priester andere Menschen lieben und sogar heiraten dürfen? Das wäre eine Revolution, die nun aber einen wichtigen Fürsprecher hat. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, lange Zeit Chef der Deutschen Bischofskonferenz, hat sich für die Abschaffung des Pflichtzölibats ausgesprochen. »Es wäre besser für alle, die Möglichkeit für zölibatäre und verheiratete Priester zu schaffen«, sagte Marx im Interview mit der »Süddeutschen Zeitung«. Die zölibatäre Lebensform bezeichnete er als »prekär«.
Unter der Soutane schlägt ein liebendes Herz: Selten dürfte ein Kardinal so offen über die Abgründe der priesterlichen Lebensweise gesprochen haben.
Es gibt im Interview einige seltsam verrutsche Passagen. Marx sagt: »Bei manchen Priestern wäre es besser, sie wären verheiratet.« Im Zusammenhang mit den massenhaften Fällen von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche wirkt dieser Satz irritierend. Soll der Zölibat als Entschuldigung dienen, dass einige Priester ihren Schutzbefohlenen grausame Gewalt angetan haben? Doch Marx konkretisiert: Für einige Priester wäre nicht nur aus sexuellen Gründen besser, verheiratet zu sein, »sondern weil es für ihr Leben besser wäre und sie nicht einsam wären«.
Auf die Frage, ob er einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und dem Kindesmissbrauch sehe, antwortete Marx, pauschal könne man das nicht sagen. »Aber diese Lebensform und dieses Männerbündische ziehen auch Leute an, die nicht geeignet sind, die sexuell unreif sind. Und Sexualität gehört eben zum Menschen dazu, das geht auch nie vorüber.« Die katholische Sexualmoral habe »viele Verklemmungen erzeugt«.
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, stellte sich heute hinter Marx’ Forderung, machte aber einen noch etwas verdatterten Eindruck. »Es gibt sicherlich weiter auch einen Wert eines zölibatären Lebens«, sagte sie im Deutschlandfunk. Die Hürden für die Weltkirche seien hoch.
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Lesen Sie hier die vollständige Meldung: Kardinal Marx für Abschaffung des Pflichtzölibats
3. Moskau bricht die Deutsche Welle
In einem Land wie Deutschland sind wir Medienleute daran gewöhnt, weitgehend ohne Angst vor Repressionen berichten zu dürfen. Unsere Meinungsfreiheit ist allenfalls durch Selbstzensur und Konformitätsdruck bedroht. Ganz anders bei Journalistinnen und Journalisten in Russland, wie heute auch die Kollegen der Deutschen Welle in Moskau erlebten. Russland hat dem Auslandssender der Bundesrepublik ein Sendeverbot erteilt, das Büro geschlossen und den Journalisten die Akkreditierungen entzogen. Zudem soll ein Verfahren eingeleitet werden mit dem Ziel, die Deutsche Welle als Hort ausländischer Agenten einzustufen.
Mit der Schließung reagiert Russland auf ein Sendeverbot des deutschsprachigen Programms seines Staatssenders RT DE in Deutschland. Nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Doch so einfach ist es nicht. In Deutschland ist Staatsfunk anderer Länder nicht erlaubt, auch aus historischen Gründen. Das hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ihrem russischen Amtskollegen Kollegen Sergej Lawrow bei ihrem Treffen im Januar erklärt. Als Zulassungsvoraussetzung für einen Sender gilt unter anderem, dass das verfassungsrechtliche Prinzip der Staatsferne des Rundfunks nicht verletzt werden darf, also ein Staat oder eine Partei keinen Einfluss auf die Programminhalte nehmen dürfen.
In Deutschland hatten die Regulierer der zuständigen Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) bei den Medienanstalten die Veranstaltung und die Verbreitung des Fernsehprogramms RT DE untersagt. Als Grund für das am Mittwoch veröffentlichte Verbot wurde das Fehlen einer Sendelizenz angeführt. RT kann die Entscheidung der Medienregulierer gerichtlich überprüfen lassen.
RT steht im Westen immer wieder als Propagandainstrument des Kremls in der Kritik. Der Sender verbreite im Auftrag des russischen Staates Verschwörungstheorien und Desinformationen. Wer auch nur eine einzige Nachrichtensendung dort verfolgt hat, weiß: Der Vorwurf stimmt.
Ob das deutsche Publikum es dennoch verkraftet, den Quatsch von RT DE auszuhalten, steht auf einem anderen Blatt.
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Lesen Sie hier mehr: Russland schließt Büro der Deutschen Welle in Moskau
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Anführer der Terrormiliz IS bei US-Militäreinsatz in Syrien getötet: Die USA haben in der Nacht eine Militäroperation in Syrien durchgeführt. Nun bestätigte Präsident Joe Biden: Ziel des tödlichen Antiterroreinsatzes war der IS-Chef Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi.
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Ampelkoalition schafft EEG-Umlage zum 1. Juli ab: Die Koalition hat sich nach SPIEGEL-Informationen auf eine schnellere Abschaffung des EEG-Zuschlags verständigt. Auch gibt es erste Ideen, um sicherzustellen, dass die Versorger die sinkenden Kosten an die Verbraucher weitergeben.
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Max Otte spendete 20.000 Euro an AfD: Die CDU will Max Otte aus der Partei werfen, weil er für die AfD bei der Bundespräsidentenwahl antritt. Seine Spende an den Kreisverband von Parteichef Chrupalla begründet er mit der »Unterstützung bürgerlicher Kräfte«.
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Ukrainische Sportler sollen russische Delegation meiden: Die ukrainische Regierung hat ihre Athleten aufgefordert, sich in Peking vom russischen Team fernzuhalten. Hintergrund sind die Spannungen mit Moskau. Die Sportler sollten »ihre Emotionen unter Kontrolle haben«.
Mein Lieblingsthema heute: Was hilft in der Corona-Quarantäne?
In der Abendlage gestern ging es darum, wie man sich auf eine Corona-Quarantäne vorbereiten kann. Ich fragte nach Ihren Erfahrungen: Was hilft Ihnen in der Isolation, was vermissen Sie? Fast 50 Leserinnen und Leser haben mir geschrieben. Hier einige Antworten:
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»Kümmern Sie sich unbedingt vorab um eine Person, die den Hund ausführt. Das kann spontan echt schwierig werden.« (Eliza S.)
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»Wir haben die Retroserien in der ZDF-Mediathek entdeckt: ›Anna‹ und ›Ich heirate eine Familie‹. Sehr zu empfehlen.« (Anna O.)
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»Eine Freundin war in Isolation und wollte ein ganz bestimmtes Stück Kuchen. Wir haben es besorgt, schon ging es ihr besser. Kuchen ist lebensnotwendig.« (Christiane S.)
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»Isolation in einer Familie mit kleinen Kindern in einem normalen Haus gehört ins Reich der Utopie.« (Peter Q.)
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»Wir haben uns Projekte gesucht: die Küche einmal ordentlich putzen, die Vorratskammer aufräumen.« (Maite N.)
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»Ein Kontakt nach draußen ist hilfreich.« (Wilfried M.)
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»Ich habe mir neben einem Fieberthermometer auch ein Inhaliergerät und ein Pulsoximeter zugelegt. Ich dachte, das könne mich durch die Anzeige meiner Sauerstoffsättigung entweder beruhigen – oder vorwarnen.« (Sabine D.)
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»Dringend zu empfehlen für zu Hause ist auch ein Blutdruckmessgerät.« (Dagmar S.)
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»Du musst ausreichend Kondome daheim haben.« (Frank)
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»Die Tochter schaut mehr dämliche Trickfilme, als die Mutter eigentlich tolerieren kann.« (Christina K.)
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»Wir machen jeden Morgen zehn Minuten Sport, nach YouTube-Videos.« (S. K.)
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»Was uns hilft: Routinen fortsetzen, zum Beispiel Aufstehen wie immer. Genussvoll Frühstücken mit Ei und frischem Saft. Glotze erst abends anschalten.« (Daniel S.)
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»Nudeln selber machen und auf der Wäscheleine trocknen. Und versuchen, ganz ruhig zu bleiben.« (Christine K.)
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»Mein Tipp für Eltern: Bastelsachen horten« (Ute K.)
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»Mir fehlt: In den Arm nehmen und genommen werden.« (Regina C. L.)
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»Mir fehlt die Umarmung meiner Frau und meiner Tochter.« (Stefan W. B.)
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»Mir fehlt der Kontakt mit meinen Kindern und Enkelkindern. Mir fehlt der Kegelklub.« (Gerhard N.)
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»Was mir in der Isolation hilft: Zeitungen. Eigenes großes Zimmer. Wissend und dankend, dass es mir hier in Deutschland an nichts fehlt und ich es gut habe.« (Jutta H.)
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»Ibuprofen und Paracetamol braucht man wegen der Kopfschmerzen, nachdem einem die Decke zu oft auf den Kopf gefallen ist.« (Hanna B.)
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»Überraschenderweise läuft es besser als gedacht. Der Kühlschrank ist voll und es fehlt uns eigentlich bisher an nichts. Außer etwas Sonnenschein.« (Stefanie B.)
Ich danke Ihnen für die vielen Anregungen.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Mit diesen Sanktionen könnte Joe Biden Russland empfindlich treffen: »Mutter aller Sanktionen«: Die USA schnüren das massivste Strafmaßnahmenpaket ihrer Geschichte, um Russland von einer Invasion in der Ukraine abzuhalten. Betroffen wäre womöglich erstmals auch Wladimir Putin persönlich.
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Haftbefehl gegen 17-jährigen Terrorverdächtigen aus Kerpen erlassen: Emoji-Bombe an die Eltern: Ein Jugendlicher hatte am Samstag einen Terroreinsatz in Hannover ausgelöst. Nach SPIEGEL-Informationen soll sich der 17-Jährige in einer Vernehmung nun selbst belastet haben.
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Die Genugtuung: Claudia Pechstein darf mit nun 49 Jahren erstmals die Fahne bei der olympischen Eröffnungsfeier tragen – und zeigt sich geehrt. Doch die Entscheidung hat einen Beigeschmack.
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Goodbye, Fliesenhölle: Als König der Heimwerker wurde Fynn Kliemann auf YouTube berühmt. Jetzt baut er alte Gemäuer zu Ferienwohnungen um – obwohl er selbst nie in Urlaub fährt. Was macht er anders als die Hotels, die er hasst?
Was heute weniger wichtig ist
Foto:
Jordan Strauss / dpa
Zweite Chance: Jennifer Lopez, 52, hat erzählt, wie es ist, wieder mit ihrem Schauspielerkollegen Ben Affleck, 49, zusammen zu sein, 17 Jahre nach ihrer Trennung. »Wir sind jetzt älter, wir sind klüger, wir haben mehr Erfahrung«, sagte sie dem US-Magazin »People«. Zuerst hätten sie Angst gehabt, ihre neuerliche Beziehung öffentlich zu machen. Affleck sorgte sich, dass es seine drei Kinder aus der Ehe mit Jennifer Garner belasten könnte. »Wir haben jetzt Kinder und wir müssen uns dieser Dinge sehr bewusst sein«, so Lopez. Doch »es ist eine wunderschöne Liebesgeschichte, dass wir eine zweite Chance bekommen haben.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Frankreichs Präsident Emmanuel Macron umarmt den urkainischen Präsidenten Wolodymyr Selenksyj vor einigen Wochen in Brüssel«
Cartoon des Tages: Lasst die Spiele beginnen
Foto:
Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Der Großteil meiner Familie sitzt heute Abend vor dem Fernseher und guckt sich den Staffelstart von »Germany’s Next Topmodel«, kurz GNTM, an. Ich bin dabei unerwünscht, seitdem ich mich mehrfach negativ über das dort verbreitete Frauenbild geäußert habe. Meine Töchter sagen, ich hätte den Witz an der Sache einfach nicht verstanden. Außerdem werde in der Sendung inzwischen sehr auf Diversität geachtet.
Ich überlege, mir im Nebenzimmer auf dem Laptop noch einmal den Film »L’Eclisse« ansehen, auf Deutsch »Liebe 1962«, Michelangelo Antonionis Meisterwerk mit Monica Vitti und Alain Delon. Man findet den Film unter anderem im Onlineverleih bei Amazon.
Monica Vitti 1964 in »Rote Wüste«
Foto:
ddp images / ddp
Vitti ist gestern im Alter von 90 Jahren gestorben. Meine Kollegin Hannah Pilarczyk würdigt sie in ihrem Nachruf als »Verkörperung eines neuen Typus von Frau – einer Frau, die sich von der Ausdeutung durch Männer gelöst hat«. Außerdem habe sie die coolste Visage des europäischen Nachkriegskinos gehabt.
Zu GNTM wäre Monica Vitti selbstverständlich nie gegangen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Alexander Neubacher
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