Guten Abend, die drei Fragezeichen:
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Steigende Preise – Aus böser Inflation wird gute »Greenflation«?
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Tödliche Verkehrskontrolle – Wer erschoss zwei Polizisten in Rheinland-Pfalz?
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Coronapolitik, wir sind jetzt 1G – einfach genervt?
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1. Fluch und Segen steigender Preise
Die Inflation in Deutschland lag im Januar bei 4,9 Prozent. Für viele Gering- und Normalverdiener bedeutet das: Wenn Lohn und Gehalt vor einem Jahr noch so gerade bis zum Monatsende reichten, ist jetzt immer schon eineinhalb Tage vorher die Kasse leer.
Die Inflationsrate von 4,9 Prozent ist etwas geringer als im Dezember. Experten hatten allerdings einen deutlich stärkeren Rückgang erwartet, wegen eines Basiseffekts. Seit Jahresbeginn werden die Preise nicht mehr mit jenen aus dem zweiten Halbjahr 2020 verglichen, als die Mehrwertsteuer wegen der Coronakrise zeitweise von 19 auf 16 Prozent gesenkt worden war.
Ziemlich blamiert steht die Europäische Zentralbank (EZB) da, die bis vor Kurzem noch so tat, als seien die Inflationssorgen eine deutsche Neurose ohne Bezug zur Wirklichkeit. Auch Großökonomen wie Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, der gern vor »schädlichem Inflations-Alarmismus« warnte, haben die Pferde gewechselt, seit sich die Preissteigerungen nicht mehr wegleugnen lassen. Nun heißt es plötzlich: »Die höhere Inflation ist willkommen.« Höhere Energiepreise seien nötig, um Verbraucher und Industrie zu umweltschonender Sparsamkeit zu erziehen. Aus der bösen Inflation wird so die gute »Greenflation«. Vielleicht wärmt Sie der Gedanke ans Weltklima, wenn Sie Ihre Heizung herunterdrehen.
Wie werden sich die Preise weiterentwickeln? Die Fachwelt teilt sich in zwei Lager. »Team Transitory« hält den Inflationsschub für ein vorübergehendes Phänomen, sieht die Ursache in Kurzeitphänomenen wie coronagestörten Lieferketten. Das »Team Transitory« war lange in der Mehrheit, tritt aber kleinlauter auf als zuletzt, zumal in den USA, wo die Inflation im Dezember sogar auf sieben Prozent kletterte.
Auf der anderen Seite steht »Team Permanent«: Hier fürchtet man, dass die Inflation dauerhaft steigen wird, auch weil sich steigende Preise und steigende Löhne gegenseitig hochschaukeln werden. Die US-Notenbank nimmt diese Sorgen inzwischen ernst und plant mehrere Zinserhöhungen in kleinen Schritten, um gegenzusteuern.
An diesem Donnerstag wird sich der Rat der EZB mit den neuen Zahlen befassen. Erstmals wird auch der neue Bundesbankchef Joachim Nagel dabei sein. Mein hellsichtiger Kolumnistenkollege Henrik Müller, der gegen den Mainstream schon vor Monaten vor der Inflation gewarnt hat, sagt eine Zerreißprobe voraus. Eigentlich müsste die EZB gegensteuern, ihre Wertpapierkäufe schneller beenden und die Zinsen anheben. Doch Europas Regierungen haben sich an die Geldflut gewöhnt und zu einem Spottpreis ihre Schulden hochgetrieben. Davon kommen sie so schnell nicht herunter.
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Lesen Sie hier mehr: Zwischen Inflation und Schuldenkrise
2. »Polizeibekannt«: Die Suche nach dem Todesschützen von Kusel
Bei einer Verkehrskontrolle in Rheinland-Pfalz sind heute früh gegen 4.20 Uhr zwei Polizisten erschossen worden: eine 24-jährige Polizeianwärterin und ihr 29-jähriger Kollege. Sie waren nach Angaben des Polizeipräsidiums Westpfalz auf Streife auf der Kreisstraße 22 im Landkreis Kusel, als sie einen Funkspruch durchgaben. Sie hätten totes Wild im Kofferraum eines Wagens entdeckt.
Wenig später folgte ein weiterer Funkspruch: »Die schießen auf uns.« Als Verstärkung ankam, sei die Polizistin bereits tot gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Der Kollege sei kurz nach Eintreffen der Rettungskräfte gestorben. Er soll am Tatort noch mehrere Schüsse abgegeben haben. Die Waffe seiner Kollegin kam offensichtlich nicht zum Einsatz. Beide Opfer hätten Uniform und Schutzweste getragen.
Die Polizei suchte nach einem Tatverdächtigen, der bereits polizeibekannt sei. Sie schrieb den 38 Jahre alten Johannes S. aus dem Saarland zur Fahndung aus und veröffentlichte auch ein Foto. Am Nachmittag teilte sie mit, in der Pfalz sei der Tatverdächtige festgenommen worden. Die Fahndungsmaßnahmen liefen aber weiter, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass es Mittäter gebe. Wir halten Sie auf SPIEGEL.de auf dem Laufenden.
Wenn Polizisten im Dienst getötet werden, ist das neben der persönlichen Tragödie auch ein Angriff auf den Staat. Viele Menschen reagierten heute bestürzt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte: »Diese Tat erinnert an eine Hinrichtung, und sie zeigt, dass Polizistinnen und Polizisten jeden Tag ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren.« Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ordnete Trauerbeflaggung an, ebenso der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU).
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Lesen Sie hier mehr: Polizei nimmt Tatverdächtigen fest
3. 1G – einfach nur genervt
Ende letzter Woche bekam ich einen Brief vom Gesundheitsamt meines Berliner Bezirks. Dort stand: »Wir haben die Meldung bekommen, dass Sie mit dem Coronavirus infiziert sind«. Ich müsse mich »sofort in Isolation« begeben. Außerdem möge ich meine Telefonnummer und Mailadresse mitteilen. Nun bin ich tatsächlich positiv auf Corona getestet worden. Allerdings schon 13 Tage zuvor. Ich selbst hatte damals auch die Meldung ans Gesundheitsamt veranlasst. Einschließlich meiner Telefonnummer und Mailadresse.
Ich weiß nicht, ob ich belustigt oder verzweifelt sein soll. Merken die noch was? Müsste es nach zwei Jahren Pandemie nicht Routinen und standardisierte Abläufe geben? Wird im Gesundheitsamt überhaupt noch gearbeitet?
Vor Kurzem hat Deutschland den Genesenenstatus von sechs auf drei Monate verkürzt. Mal wieder ein deutscher Sonderweg. In der EU gelten sechs Monate, in der Schweiz sogar neun. Die deutsche Dreimonatsregel wurde im Zuständigkeitsbereich von Gesundheitsminister Karl Lauterbach erfunden und praktisch über Nacht eingeführt, ohne jemandem groß Bescheid zu sagen. Zigtausende wachten am nächsten Morgen auf und stellten fest: Hoppla, mein 2G ist weg. Restaurantverbot, Schwimmbadverbot, Einkaufsbeschränkungen. So schnell findet man sich draußen bei den »Querdenkern« und Impfverweigerern wieder.
Lauterbach sagt, die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate sei medizinisch richtig. Eine überstandene Coronainfektion mit der Delta-Variante schütze nicht gut vor einer neuen Omikron-Attacke. Vielleicht hat Lauterbach Informationen, die man im Rest der EU nicht hat. Doch auch, wenn er recht damit hat, dass Omikron die Lage ändert: Müsste für die Geimpften dann nicht dasselbe gelten wie für die Genesenen? Biontech und Co. helfen ja auch nur begrenzt gegen die neue Virusvariante, wie Zigtausende Impfdurchbrüche zeigen.
Das einzuräumen wäre freilich kontraproduktiv für Lauterbachs Forderung nach einer schnellen Impfpflicht, die – ebenfalls eine besondere Form der Dialektik – für Abgeordnete gerade zur individuellen Gewissensfrage erklärt wird, für die Bevölkerung jedoch zur allgemeinen Bürgerpflicht werden soll.
Ich glaube, es ist diese Mischung aus Widersprüchlichkeit, Wurstigkeit und Managementversagen, die viele Menschen inzwischen gegen die Coronapolitik aufbringt. Sie sind 1G: einfach nur noch genervt.
Sollten Sie wie derzeit so viele Menschen gerade in Isolation sein, möchte ich Ihnen das Interview mit dem Infektiologen Michael M. Kochen empfehlen, das meine Kollegin Marthe Ruddat geführt hat. Hier erfahren Sie, was Sie tun können, damit es Ihnen rasch besser geht. Ein Tipp für Ältere lautet: Nehmen Sie eine Extradosis Vitamin D3. Das hilft nicht gegen Corona, aber es kann die Abwehr gegen virale Atemwegserkrankungen verbessern.
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Lesen Sie hier das Interview: Wie kuriere ich Covid-19 zu Hause aus?
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Untersuchungsbericht kritisiert Lockdown-Feste der britischen Regierung: Die Opposition sieht ihre Rücktrittsforderungen untermauert: Eine Spitzenbeamtin attestiert den Verantwortlichen in Downing Street 10 schwere Versäumnisse. Premier Johnson wird aber an keiner Stelle direkt kritisiert.
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Polen sieht Anzeichen für stärkere russische Militärpräsenz in Belarus: Der polnische Außenminister spricht von einer »Tendenz« zur Aufrüstung Russlands in Belarus. Die Ukraine hat derweil Personen festgenommen, die mutmaßlich »Massenunruhen« vorbereiten wollten.
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Niederländischer Verlag entschuldigt sich für umstrittenes Anne-Frank-Buch: Die These war sensationell. Anne Frank – von einem jüdischen Notar verraten. Doch nach vielfacher Kritik an einem Buch über das Schicksal des berühmten NS-Opfers zieht der Verlag der niederländischen Ausgabe nun Konsequenzen.
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Oscar-Preisträger Rolf Zehetbauer ist tot: Er entwarf die Sets und Kulissen für Kinofilme wie »Die unendliche Geschichte« und »Das Boot«, für »Cabaret« gewann er 1973 einen Oscar. Jetzt ist der Filmarchitekt Rolf Zehetbauer im Alter von 92 Jahren gestorben.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Legendäres Schiffswrack in der Antarktis
Im November 1915 versank die dreimastige Schonerbark »Endurance« im Packeis der Antarktis. Der britische Polarforscher Ernest Shackleton und seine 27 Männer waren auf eine Eisscholle geflüchtet und sahen hilflos zu. »Sie ist weg, Jungs«, soll Shackleton gesagt habe. Dabei wollte er doch die erste Durchquerung des Südkontinents schaffen.
Besatzungsmitglieder am Wrack der »Endurance« im Weddellmeer 1915
Foto: Frank Hurley / Royal Geographical Society / Get
Dass die Expedition dennoch nicht in einer Katastrophe endete, lag an Shackletons Durchhaltewillen und Können. In einem Kraftakt gelang es ihm, sich und seine Leute aus dem ewigen Eis zu retten, auch wenn sie ihre Schlittenhunde verspeisen mussten. Bis heute dient die Expedition in Managementseminaren als Fallbeispiel für erfolgreiches Scheitern. Die Überreste der »Endurance« jedoch liegen irgendwo in drei Kilometer Wassertiefe.
Mein Kollege Christoph Seidler berichtet nun, dass Forscher einen neuen Anlauf unternehmen wollen, das legendäre Schiff zu finden. Zur Mission gehört auch der Meereisphysiker Lasse Rabenstein von der Bremer Firma Drift & Noise, einer Ausgründung des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Ein südafrikanischer Eisbrecher soll das Fahndungsteam an die vermutete Stelle bringen: irgendwo bei 68° 39ˇ 30ˇˇ südlicher Breite und 52° 26ˇ 30ˇˇ westlicher Länge. Christoph schreibt: »Wenn die Expedition gelingt, wird sie Geschichte schreiben.«
Allerdings wird das Team nur Bilder von der »Endurance« zurückbringen. »Wir werden das Schiff nicht berühren«, versichert ein Organisator, »wir werden es lassen, wo es ist.« Die Geschichte werde man später trotzdem gut erzählen können.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Expedition in eisige Tiefen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Die Bündnistreue Deutschlands infrage zu stellen, ist absurd: Die Kritik an der deutschen Haltung zu Russland reißt nicht ab – im In- und Ausland. Dabei ist sie oft übertrieben. Und der Eindruck eines gespaltenen Europas nutzt am Ende nur Moskau.
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Der Ruf des Geldes: Mit Union hätte er um die Champions League gekämpft, trotzdem wechselt Max Kruse in den Abstiegskampf nach Wolfsburg. Vor allem aus finanziellen Gründen, sagt der 33-Jährige. Aber da ist noch mehr.
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In Ludwigshafen KfZ-Meister, in Ghana ein König: Als sein Großvater starb, wurde Céphas Bansah zum ghanaischen König der Ewe erkoren. Seine Bedingung: Er regiert aus Deutschland, um seine Autowerkstatt weiterzuführen. Jetzt wird ihm ein Fastnachtsorden verliehen.
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Ein domptiertes Springpferd im Bockigkeitsmove: Das ist eine Premiere beim Dschungelcamp. Eric Stehfest verweigert spektakulär seine Dschungelprüfung – und zwar nicht etwa aus Angst, sondern um seine Mitcamper mit Essensentzug zu bestrafen.
Was heute weniger wichtig ist
Hinter Gittern: Joe Exotic, 58, der durch die Netflix-Doku »Tiger King« berühmt gewordene Privatzoobetreiber, wird seine Tiger so schnell nicht wiedersehen. Ein Gericht im US-Bundesstaat Oklahoma verurteilte ihn in einem Berufungsprozess am vergangenen Freitag erneut wegen versuchten Mordes an seiner Erzfeindin Carole Baskin. Joe Exotic muss demnach weitere 20 Jahre hinter Gittern bleiben. »Bitte lassen Sie mich nicht im Gefängnis sterben«, hatte er bei der Anhörung gesagt. Baskin jedoch hatte das Gericht aufgefordert, ihren Rivalen nicht aus der Haft zu entlassen, weil sie noch immer um ihr Leben fürchte.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Lidl darf damit ein bestimmtes Gerät – nämlich jenes mit einer von Vorwerk patentierten Dichschichtheizungs-Technologie – in Deutschland nicht anbieten.«
Cartoon des Tages: Nordkoreas alternative Omikron-Bekämpfung…
Foto:
Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Soll man sich in Pandemiezeiten eine TV-Serie über eine Pandemie ansehen? Unbedingt, schreibt mein Kollege Oliver Kaerver über den amerikanischen Zehnteiler »Station Eleven«, den Sie über den Streamingdienst Starzplay (App, Amazon) empfangen können. Oliver spricht von einem »Serien-Meisterwerk«: »Eine ergreifendere, wahrhaftigere und erfindungsreichere Serie als ›Station Eleven‹ dürfte in diesem Jahr schwer zu finden sein.«
Welches Ziel verfolgt der undurchsichtige Tyler (Daniel Zovatto)?
Foto: HBO Max/ The Hollywood Archive / Picturelux / IMAGO
Die Geschichte beginnt damit, dass ein Schauspieler während einer Aufführung von »König Lear« in Chicago einen theatralischen Tod erleidet. Kurz darauf setzt ein großes Sterben ein. Zunächst zusammenhanglos wirkende Bilder zeigen, wie das Theater 20 Jahre später aussieht: Grünpflanzen brechen durch den roten Samtbezug der Stühle, eine Rotte glücklicher Hausschweine hat es sich zwischen den Stuhlreihen bequem gemacht. Eine Hauptfigur ist die zunächst achtjährige Kirsten. Sie wirkte bei der Theateraufführung mit; plötzlich ist sie allein in dem Chaos, das ausbricht. Mit einem Begleiter flieht sie in ein Hochhaus. Hinter den Panoramafenstern beobachten sie, wie ein Flugzeug mitten in der Stadt abstürzt und die Welt, wie sie sie kannten, untergeht.
In den USA ist die Serie mit sehr großem Erfolg gestartet. Vielleicht auch, weil sie zeigt, dass es verglichen mit Corona noch sehr viel schlimmer kommen könnte. (Lesen Sie hier die ganze Rezension.)
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Ihr Alexander Neubacher
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