1. Wie schaffen wir es vom Corona-Freistaat zum Corona-freien Land?
“Wir müssen das Virus aggressiv jagen, um es loszuwerden!” Nein, dieser Satz stammt nicht von Markus Söder, sondern von Devi Sridhar, Professorin für globale Gesundheitsversorgung in Edinburgh und Pandemie-Beraterin der schottischen Regierung. Sie will Schottland coronafrei machen und findet, auch der Rest Großbritanniens und Europas sollte eine “Null Covid”-Strategie verfolgen. Bei den Schotten sah das so aus: Lockdown, bis die Fallzahlen “extrem niedrig” waren, nur schrittweise lockern, viel testen, Kontakte isolieren, Maskenpflicht durchsetzen, Schulen erst nach dem Sommer aufmachen. Meine Kollegin Veronika Hackenbroch hat die Expertin interviewt und sagt: “Sridhar hat völlig recht, das wäre die beste Lösung.”
“Corona kommt schleichend zurück, leider aber mit aller Macht.” Dieser Satz stammt von Markus Söder, dem es an Entschlossenheit nicht fehlt, im Kampf gegen die Pandemie entschlossen zu wirken. Dabei wütet das Virus auch in Bayern noch, der Freistaat ist längst nicht coronafrei, wie der jüngste Ausbruch zeigt. Auf einem Gemüsehof im niederbayerischen Mamming fielen die Tests bei 174 Erntehelfern positiv aus.
Nun muss sich zeigen, ob Söders Hardliner-Strategie wirklich wirkt, analysiert mein Kollege, der München-Korrespondent Jan Friedmann: “Es ist auch eine politische Prüfung.” Söder scheint ernsthaft besorgt zu sein angesichts der steigenden Zahlen an verschiedenen Orten, sagt Jan. “Er bleibt bei seiner vorsichtigen Linie. Er will testen, testen, testen; er sieht Bayern da als Primus.” Damit treibt der Ministerpräsident den Bund und die anderen Bundesländer weiter vor sich her – als Schotte des Südens. (Übrigens sollen Coronatests jetzt in ganz Deutschland zur Pflicht werden für Reiserückkehrer aus Risikogebieten.)
AdvertisementAllerdings findet Devi Sridhar, Frauen seien die besseren Seuchenbekämpfer. Ein Satz, den Söder wohl nie sagen würde.
2. Die Stillen ohne Reserve
Als das Gerede und Geschreibe über die Coronamilliarden muss Elke Küffen, 56, sehr weit weg vorkommen; sie lebt von Hartz IV. Der Regelsatz sieht rund 5 Euro pro Tag für Lebensmittel vor. Küffen kocht gern für sich und ihren Sohn, doch in der Krise wurde vieles teurer, Zucchini kosteten im April fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor, Paprika, Blumenkohl und Brokkoli über die Hälfte mehr.
Meine Kollegin Anne Seith aus dem Wirtschaftsressort hat mit Küffen gesprochen, um herauszufinden, wie die Seuche die Schwächsten beutelt, selbst wenn sie nicht erkranken. Anne beschreibt Elke Küffens Perspektive so: “Die Regierung wirft mit Hunderten Milliarden um sich, fast jedermann scheint davon etwas abgreifen zu können – sie jedoch dreht zu Hause jeden Euro zwischen den Fingern.” Hilfe hat zwar auch sie bekommen – aber nicht vom Staat, sondern von einem Verein, der nach dem Zufallsprinzip je 100 Euro an betroffene Familien verteilt.
Anne findet erschreckend, “wie still sich viele der Betroffenen in ihr Schicksal fügen, obwohl das ohnehin schon knappe Geld sicher nicht mehr gereicht hat”. In der Krise fühlen sich ja nicht nur Hartz-IV-Empfänger alleingelassen, doch statt so laut zu protestieren wie Soloselbstständige oder Gastronomen, leiden viele leise – die Scham, von Stütze zu leben, wiegt zu schwer. Schließlich glauben fast ein Drittel der Deutschen, dass Hartz-IV-Empfänger gar nicht arbeiten wollten. Ein Armutszeugnis, finde ich, und zwar nicht für die Bedürftigen.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Was 100 Euro extra bewirken
3. Vergiss es, Google
Das Internet ist leider nicht so vergesslich wie ich beim Einkaufen. Das ärgert vor allem Leute, über die unliebsame Onlineartikel erschienen sind. Immer wieder versuchen sie dann zumindest daraufhinzuwirken, dass Google entsprechende Suchtreffer löscht. Dann gibt es den Artikel vielleicht noch irgendwo, aber kaum jemand findet ihn noch.
Jetzt hat der Bundesgerichtshof sich in zwei Verfahren mit der Frage befasst, unter welchen Umständen gelöscht werden muss, wenn sich Betroffene darüber beschweren. Das Ergebnis: Es kommt drauf an. Nämlich auf den Einzelfall.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Nachruf auf einen Gorilla
Wie Sie wissen, veröffentlichen wir im SPIEGEL Nachrufe auf große Staatsleute, auf Künstlerinnen, Schauspieler und Autorinnen; die ganz großen schaffen es auf den Titel des Magazins, Willy Brandt damals und Helmut Kohl, Loriot und Karl Lagerfeld. Jetzt hat unser Reporter Max Polonyi eine für unsere Verhältnisse eher ungewöhnliche Würdigung geschrieben: Der Veblichene, um den es geht, ist eines der ältesten Gorillamännchen Europas – Massa, 49, umgekommen beim Brand im Krefelder Zoo in der Silvesternacht.
“Eine ganze Stadt, mehrere Generationen sind damit aufgewachsen, dass er jeden Tag am gleichen Ort auf sie zu warten schien”, schreibt Max Polonyi. “Das Leben Massas war wie das aller Zootiere bestimmt von den Wünschen der Menschen. Tierfänger jagten ihn, weil er kostbar war; er wurde verschifft, weil Europa exotische Tiere wollte; er wurde eingesperrt, damit Menschen ihn bewundern können.”
Massa wurde im Regenwald Afrikas gefangen, er zeugte mit zwei Weibchen acht Junge – und ließ sich nie ganz zähmen. Es ist die Geschichte eines Affenlebens. Und es freut mich, dass bei SPIEGEL-Nachrufen nicht immer das Primat der Politik gilt.
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
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Ermittler nahmen zwei Personen vorläufig fest: Im Zusammenhang mit dem Komplex “NSU 2.0”-Drohmails hat es zwei vorläufige Festnahmen gegeben. Es handelt sich um einen ehemaligen bayerischen Polizisten und dessen Ehefrau.
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Angeklagter beantragt Abberufung eines Verteidigers: Stephan Ernst will sich nicht mehr von einem seiner Anwälte vertreten lassen. Vorher war es im Prozess um den Mord an Walter Lübcke zu einem denkwürdigen Schlagabtausch gekommen.
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Deutsche Bank will weitgehend aus Kohlegeschäft aussteigen: Wer mehr als die Hälfte seines Geldes mit Kohleabbau verdient, soll künftig kein Kunde mehr sein. Das Geldhaus erhöht den Druck auf Firmen mit klimaschädlichem Geschäftsmodell – und bleibt doch hinter der Konkurrenz zurück.
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China schließt US-Konsulat als Antwort auf Konsulatsschließung der USA: Nachdem die USA ein chinesisches Konsulat wegen Spionagevorwürfen geschlossen haben, hat Peking reagiert. Am frühen Morgen holten chinesische Polizisten am US-Konsulat in Chengdu die US-Flagge ein.
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Sebastian Hoeneß wird neuer Trainer der TSG Hoffenheim: Von der zweiten Mannschaft des FC Bayern München zu Bundesligist TSG Hoffenheim: Sebastian Hoeneß wird Nachfolger von Alfred Schreuder. Der 38-Jährige hat bei der TSG einen Vertrag bis 2023 unterschrieben.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Der wahre Strippenzieher der FDP: Christian Lindner ist das Gesicht seiner Partei, doch Marco Buschmann schreibt fast allein das Programm für die nächste Wahl. Wer ist der Mann?
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Effektiver abnehmen: Intervallfaster aufgepasst – Lübecker Forscherinnen haben entdeckt, dass die Verwertung einer Mahlzeit stark davon abhängt, wann man sie zu sich nimmt.
Was heute nicht so wichtig ist
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Heldenmyth-U.S.: Der amerikanische Schauspieler Tom Hanks, 64, und seine Frau Rita Wilson, 63, deren filmische Odyssee sie vor 18 Jahren die Komödie “My Big Fat Greek Wedding” als Produzenten vorantreiben ließ, sind nun offiziell griechische Staatsbürger, wie verschiedene US-Medien übereinstimmend berichten. In Ermangelung eines aktuellen Zitats verweisen viele Meldungen auf eine Äußerung des Darstellers bei der Golden-Globe-Verleihung: “Ich bin um die Welt gereist, ich war an den schönsten Orten der Welt, keiner übertrifft Griechenland.”
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: “Die Suchergebnisse des Unternehmens haben großen Einfluss daraus, welche Netzinhalte wahrgenommen werden”
Cartoon des Tages: Urlaubsende
Und heute Abend?
Vielleicht einen Film mit Helen Mirren schauen? Die Alleskönnerin ist am Wochenende 75 geworden. Meine Kollegin Katja Iken hat sie in dieser Fotostrecke gewürdigt. Als Queen beeindruckte sie mich besonders – den Film gibt es bei vielen Streamingdiensten.
In diesem Sinne wenigstens ein Namenswitz heute: Mirren ist menschlich.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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