Mit Hans-Jochen Vogel ist nicht nur ein großer und populärer SPD-Politiker gestorben. Mit ihm geht ein großes Stück sozialdemokratisches Wissen und Gewissen. Denn er gehörte zu den wenigen, die den Bogen von Hitlers Machtergreifung bis ins 21. Jahrhundert schlagen konnten. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Schwachen waren die Eckpunkte seines politischen Wertesystems, wie die seines großen Vorbilds Josef Felder – einer jener mutigen Reichstagsabgeordneten, die 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis gestimmt hatten.
Da war Hans-Jochen Vogel gerade mal sieben Jahre alt. Die Familie bürgerlich-konservativ, der Vater ab 1932 in der NSDAP, und der Sohn ging, sobald er das Alter hatte, in die Hitlerjugend, mit “einer gewissen Faszination”. Es folgten Wehrmacht, Verletzungen, Gefangenschaft. Das Kriegsende empfand er nicht als Befreiung, sondern “als Aufatmen, dass das Töten und Morden und der Krieg und die Bomben ein Ende hatten”.
Das Nachdenken und das “Aufarbeiten der Vergangenheit” kam erst später – aber dann blieb es ihm zeitlebens wichtig. So unterstützte er, zum Beispiel, die damals umstrittene Ausstellung über die “Verbrechen der Wehrmacht” und sagte in seiner Rede dazu, die deutsche Gesellschaft dürfe nie einen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg ziehen. Das und die zunehmende soziale Ungleichheit in der Gesellschaft waren für Vogel die wichtigsten Themen. Wenn früher die Vorstände in großen Unternehmen das 20-fache ihrer Facharbeiter bekommen hätten, heute aber das 200-, 300-fache, mahnte er immer wieder, dann müsse man das kräftig besteuern und damit “für das Gemeinwohl in Anspruch nehmen”.
Der jüngste OB einer europäischen Metropole
Das klingt links, dabei war Vogel doch lange Zeit einer der Rechten in der SPD. In die Partei war er 1950 eingetreten und hatte schnell Furore und Karriere gemacht. Nur zehn Jahre später war er Oberbürgermeister von München, mit 34 Jahren der jüngste OB in einer europäischen Millionenstadt. Über 60 Prozent der Münchner hatten ihn gewählt und damit zu einem neuen Hoffnungsträger der Sozialdemokraten gekürt.
Vogel war damals äußerst populär: Er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass 1972 mit München zum ersten Mal nach dem Krieg eine deutsche Stadt Gastgeber der Olympischen Spiele wurde.
Ende der Sechziger- und Beginn der Siebzigerjahre war aber auch die Hochzeit großer und heftiger politischer Diskussionen, auch in der SPD. Und obwohl die Münchner ihren OB mochten, weil dieser die Stadt und deren Verwaltung modernisierte, stand der mit einem Male als “Agent kapitalistischer Klasseninteressen” im Kreuzfeuer der in München recht starken Jusos. Man brüllte sich gegenseitig nieder, Vogel bekam von den Medien den Titel “Jusofresser”, verlor aber den Wettstreit der Besserwisser. Viele Genossen fühlten sich zudem von ihm gegängelt. Zu jedem Thema trug er exakt ausgearbeitete Positionen in Klarsichthüllen mit sich und wollte darüber nicht noch lange reden.
Entnervt verzichtete er 1972 auf eine erneute Kandidatur, zog von München nach Bonn, wurde erst Wohnungsbau-, später Justizminister. Ob es die Leichtigkeit des Rheinlands oder die Nähe zum großen Willy Brandt war? Hans-Jochen Vogel veränderte sich: Er lernte zuzuhören, offen zu diskutieren, wechselte vom rechten SPD-Rand in die Mitte. Leichter wurde sein Leben dadurch auch nicht.
Sich dem Terror nicht beugen
Denn seine Zeit im Justizressort fiel in die dramatischste Etappe des gegen den Staat gerichteten Terrors der Roten Armee Fraktion (RAF). Nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 – bei der drei Polizeibeamte und der Chauffeur ermordet wurden – sowie der Geiselnahme des Lufthansa-Flugzeugs “Landshut” mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern am 13. Oktober stand die Bundesregierung vor einer grausam-schwierigen Entscheidung: Soll man die Forderung der Entführer akzeptieren und die im Gefängnis von Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder freilassen, um so das Leben von Hanns Martin Schleyer womöglich zu retten?
“Nein”, sagte Justizminister Vogel, “denn die Freigelassenen werden ja nicht in den Ruhestand gehen, sondern weiter Mordversuche und Morde unternehmen.” Den Standpunkt habe der damalige Kanzler, Helmut Schmidt, sogleich akzeptiert, berichtete Vogel später in einem Interview.
Am frühen Morgen des 18. Oktober 1977 wurde die “Landshut” auf dem Flugplatz von Mogadischu in Somalia gestürmt. Alle Geiseln wurden befreit, im Stuttgarter Gefängnis brachten sich daraufhin drei führende RAF-Mitglieder um, noch am selben Tag wurde Schleyer erschossen. Vogel sah sich als Mitverursacher, “auch wenn ich glaubte und heute noch glaube, mir keinen Schuldvorwurf machen zu müssen”, wie er viel später sagte. Seine entschlossene, gleichwohl selbstkritische Haltung brachte ihm viel Sympathie ein.
“Mission impossible” in Berlin und Bonn
1981 schickte die SPD ihn nach Berlin. Dort sollte er die sozialdemokratische Domäne verteidigen, denn der bis dato Regierende, Dietrich Stobbe, war nach einem Skandal um eine Landesbürgschaft von mehr als hundert Millionen D-Mark für Pleiteprojekte in Saudi-Arabien Anfang Januar 1981 zurückgetreten. Vogel übernahm den Job acht Tage später, versprach baldige Neuwahlen, die er aber satt verlor. Erstmals in Berlins Nachkriegsgeschichte waren die Sozialdemokraten nicht an der Regierung beteiligt, die CDU gewann mit 48 gegen 38 Prozent, Richard von Weizsäcker wurde Bürgermeister. Vogel hatte von vornherein nicht den Hauch einer Chance.
Das galt auch für die zweite aussichtslose Mission, die seine Partei ihm auftrug: Der Kampf um die Kanzlerschaft gegen Helmut Kohl im März 1983.
Im September 1982 wechselten die Liberalen aus der SPD-FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zur CDU, die neue Allianz kürte Kohl zum Nachfolger von Schmidt. Kohl suchte eine Legitimierung seiner Macht in vorzeitigen Neuwahlen, die SPD hatte keinen Kandidaten, keinen Glamour, kein Konzept.
Wieder einmal musste Hans-Jochen in einen Kampf ziehen, den er nicht gewinnen konnte. Er holte tapfer 38 Prozent der Stimmen. Die Union kam auf 49, weitere 7 brachte die FDP dazu – eine ganz klare Sache gegen Vogel.
Doch die Partei war ihm dankbar. Dem, der für sie den Kopf hingehalten hatte. Sie wählte ihn als Nachfolger des legendären Herbert Wehner zum Vorsitzenden der Fraktion. Bald darauf dankte Brandt als Parteivorsitzender ab. Oskar Lafontaine wollte in der miesen Verfassung der Partei den Job nicht, Johannes Rau ebenso wenig. “Ein drittes Mal in sieben Jahren”, sagte Hans-Jochen Vogel später, stand er “vor einer Aufgabe, die keiner übernehmen wollte. Deshalb sagte ich Ja.”
In den frühen Neunzigerjahren gab er den Stab weiter. Nach und nach, geordnet: die Partei an Björn Engholm, die Fraktion an Ulrich Klose. “Man muss gehen”, sagt er, “solange man seinen Mitmenschen die Bekundungen des Bedauerns noch glauben kann.”
Ordentlich und frühzeitig auch die Planung fürs hohe Alter. Um das Jahr 2000 wurde der Vorvertrag geschlossen, 2006 “bekamen wir die Wohnung, die wir wollten”, sagt Liselotte, seine zweite Frau: im Wohnstift Augustinum, “im zwölften Stock, die Lindauer Autobahn im Rücken, aber mit Blick von der Zugspitze bis zur Kampenwand”.
2012 bricht bei Vogel eine tückische Krankheit aus: Parkinson. Er macht sie, um Boulevardgeschichten zuvorzukommen, zwei Jahre später öffentlich. Er ist schon gezeichnet. Aber “zu meiner Freude funktioniert der Kopf noch einigermaßen.”