1. Versöhnliches vom Boss a nova
Seit seiner Niederlage am Sonntag verschanzt sich der amtierende Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, wechselweise in seinem Präsidentenpalast und in seinem Amtssitz in der Hauptstadt Brasilia. Noch immer hat sich der rechtspopulistische Politiker nicht zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen geäußert, die sein Herausforderer Luiz Inacio Lula da Silva in der Stichwahl knapp für sich entschied. Erst hieß es, Bolsonaro sei müde, dann, er feile an einer Rede, die er am Montag halten wolle. Inzwischen ist ein weiterer Tag ohne Stellungnahme vergangen.
Das anhaltende Schweigen des Präsidenten schürt Befürchtungen, er könne seine Niederlage anzweifeln und die Machtübergabe am 1. Januar an Lula torpedieren. Im Vorfeld der Abstimmung hatte Bolsonaro wiederholt unbegründete Behauptungen aufgestellt, das Wahlsystem sei anfällig für Betrug. Im ganzen Land blockieren Lkw-Fahrer Autobahnen, um gegen Lulas Sieg zu protestieren (hier im Video). Einige von ihnen fordern einen Militärputsch. Die Lastwagenfahrer zählen zu den wichtigsten Wählergruppen Bolsonaros und sind dafür bekannt, mit ihren Blockaden wirtschaftliches Chaos in der Exportnation anrichten zu können. Bolsonaro arbeite mit dem Generalstaatsanwalt an der Räumung der Autobahnen, sagt sein Sprecher.
Lula hingegen sendet versöhnliche Worte. Obwohl das Land tief gespalten ist und er mit nur 2,1 Millionen Stimmen Vorsprung gewann, sagte er, er wolle Präsident aller Brasilianerinnen und Brasilianer sein, also auch für jene 58 Millionen Menschen, die für Bolsonaro votierten. »Es gibt keine zwei Brasilien«, so Lula am bei seiner Siegesrede. Mein Kollege Marian Blasberg beschreibt in seinem Text , dass dies eher Wunsch statt Wirklichkeit ist. Lula konnte nur in 13 Bundesstaaten gewinnen, Bolsonaro in 14. Der Ausgang spiegelt das Wohlstandsgefälle des südamerikanischen Landes wider: Im ärmeren Norden triumphierte der Linke Lula, im reicheren Süden, Südosten sowie im mittleren Westen hingegen punktete Bolsonaro.
Seine Berater würden ihn beknien, die Wahlniederlage anzuerkennen, heißt es. Sie spekulieren bereits auf die nächste Wahl und hoffen auf einen späteren Sieg. Würde ihr Chef jetzt querschießen, minimierte das die Chancen in vier Jahren gen Null. Und so gab ein Regierungsmitglied in Brasilien jetzt bekannt: Der abgewählte Präsident wird den Sieg seines Rivalen Lula da Silva anerkennen. Von Bolsonaro selbst aber weiterhin: Schweigen.
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Lesen Sie hier mehr: Wer in Brasilien wie gewählt hat – Je reicher, desto Bolsonaro
2. Bricht der Erdoğan-Putin-Pakt?
Es war ein Abkommen, auf das sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan viel einbildete: Unter seiner Vermittlung hat er gemeinsam mit den Vereinten Nationen am 22. Juli erreicht, dass Russland einer Vereinbarung zustimmte, wonach trotz Krieg zwischen den beiden Ländern Getreide aus der Ukraine ausgeführt werden kann. Damit sollte die globale Ernährungskrise abgemildert werden. Die Ukraine gilt als eines der getreidereichsten Länder in Europa.
Als Reaktion auf massive Drohnenangriffe auf die russische Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim hatte Russland am Wochenende die Uno und die Türkei informiert, dass es das Abkommen auf unbestimmte Zeit aussetze. Moskau machte die Ukraine für die Angriffe verantwortlich. Der Uno-Koordinator für die Getreideinitiative, Amir M. Abdulla, kritisierte Moskaus Entscheidung daraufhin scharf: Zivile Frachtschiffe dürften weder als »militärisches Ziel noch Geisel« missbraucht werden, schrieb er auf Twitter. Und so setzten sich die Türkei und die Uno über Moskaus Entscheidung hinweg. Am heutigen Dienstag verließen drei Frachtschiffe mit Getreide ukrainische Häfen. Die Schiffe sind auf dem Weg zu dem sogenannten humanitären Seekorridor im Schwarzen Meer.
Es ist ein Vabanquespiel, das Russland dazu veranlassen könnte, das Abkommen ganz aufzukündigen. Weitere Exporte über das Schwarze Meer könnten »nicht ohne uns umgesetzt werden«, gab der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja zu Protokoll. Dass die Türkei sie dennoch duldet, könnte am Ende Erdoğan blöd dastehen lassen. Denn der rühmt sich, als einer der letzte Vertreter der Nato noch einen direkten Draht zu Russlands Machthaber Putin zu haben. Wenn auch der gekappt würde, wäre das nicht nur ein Problem für die globale Hungerkatastrophe.
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Milliardär gibt russische Staatsbürgerschaft auf – und rechnet mit »faschistischem Land« ab: Bankgeschäfte haben Oleg Tinkow schwerreich gemacht – und zu einem der bekanntesten russischen Unternehmer. Nun entsagt er seinem Heimatland. In sehr klaren Worten.
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Betreiber untersucht Pipeline Nord Stream 2: Könnte Nord Stream 2 noch Gas transportieren? Die Bundesregierung geht nicht davon aus. Doch der vom Kreml kontrollierte Betreiber schickt nach eigenen Angaben ein Schiff zur Überprüfung.
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»Überall herrschte Gewalt und Korruption«: Der Filmemacher Oleh Sentsov ist eine politische Symbolfigur – jetzt kommt sein Thriller über die Neunzigerjahre in der Ukraine in die Kinos. Doch sein Hauptdarsteller hat eine Geschichte als Neofaschist .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
3. Sind die »Klima-Kleber« skupellos?
Am Montag kam es zu einem furchtbaren Unfall in Berlin. Eine 44 Jahre alte Radfahrerin war in der Bundesallee von einem Betonmischer-Lastwagen überrollt und unter dem Wagen eingeklemmt worden. Die Frau erlitt laut Polizei »schwerste, lebensgefährliche Verletzungen«. Feuerwehr-Einsatzkräfte mit Spezialgeräten standen wegen Protesten von Klimademonstranten auf der Stadtautobahn A100 im Stau und trafen erst verspätet am Unfallort ein, weshalb an der Unfallstelle improvisiert werden musste, so die Feuerwehr. (Hier mehr.)
Die Klimaschützer der Gruppe »Letzte Generation« sagten, dass einige von ihnen tatsächlich auf der Stadtautobahn protestiert und den Verkehr unterbrochen hätten. Die Gruppe könne nicht ausschließen, dass die Verspätung des Fahrzeugs »auf einen durch uns verursachten Stau zurückzuführen ist«. Die Aktivisten ziehen nun von allen Seiten Kritik auf sich. »Klimaproteste dürfen keine Menschen in Gefahr bringen«, sagte die grüne Verkehrssenatorin von Berlin, Bettina Jarasch. Wenn dies so gewesen sei, sei das »schlicht entsetzlich« und dürfe nicht wiederholt werden. Die Gefährdung von Menschenleben sei »durch nichts zu rechtfertigen«, sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey. Der Klimaforscher Mojib Latif griff die Aktionen der Protestierenden ebenfalls scharf an. »Es ist furchtbar und kontraproduktiv. Das Vorgehen der Klima-Kleber ist völlig inakzeptabel.«
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte die Blockadeaktion der Klimaschützer. »Spätestens jetzt sollte man sich mal vom Märchen des harmlosen Protests verabschieden. Wer Verkehrswege blockiert, riskiert und behindert die Handlungsfähigkeit der Inneren Sicherheit und nimmt auch bewusst in Kauf, dass Menschen in Not länger auf Hilfe von Polizei und Feuerwehr warten müssen«, sagte ein Sprecher.
Inzwischen ermittelt die Polizei gegen einen 63-Jährigen und einen 59-Jährigen wegen unterlassener Hilfeleistung beziehungsweise der Behinderung hilfeleistender Personen. Noch ist nicht erwiesen, ob die Aktivisten tatsächlich Rettungswege freihielten, wie sie das bisher immer postulierten. Ich will an dieser Stelle nichts relativieren, und der Vorfall ist zweifelsohne schlimm für das Opfer. Aber ich stelle mir schon die Frage, ob sich so viele Menschen auch so echauffieren würden, wären die Rettungskräfte wegen eines ganz normalen Staus im morgendlichen Berufsverkehr am schnellen Durchkommen gehindert worden. Ich fürchte, das hätte weniger Aufregung verursacht.
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Lesen Sie hier mehr: Betonmischer-Unfall in Berlin – Polizei ermittelt gegen zwei Klimaaktivisten
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Kanzleramt will Gaspreisbremse schon ab Februar: Wie lassen sich die hohen Energiepreise drücken? Olaf Scholz bespricht sich am Mittwoch mit den Regierungschefs der Länder. Nach SPIEGEL-Informationen soll die Gaspreisbremse bereits einen Monat früher greifen. Der Strompreisdeckel ist bei 40 Cent geplant, Übergewinne sollen rückwirkend abgeschöpft werden.
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Tödliches Massengedränge in Seoul – Polizei räumt Fehler ein: Schon Stunden vor der Tragödie gingen Notrufe bei der Polizei ein – sie wurden nur unzureichend bearbeitet: 150 Menschen sind in Seoul ums Leben gekommen, Südkoreas Polizeichef spricht von »schwerer Verantwortung«.
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Iranische Regimeanhänger protestieren vor deutscher Botschaft: Bundesaußenministerin Baerbock kündigte Iran wegen der Unterdrückung der Proteste Sanktionen an. Das Regime hat nun Dutzende Menschen zu einer Kundgebung vor das Gebäude der deutschen Botschaft in Teheran beordert.
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»Tagesschau«-Sprecher erstmals ohne Krawatte: Der Schlips kann weg: In den »Tagesschau«-Sendungen sind die Sprecher künftig nicht mehr angehalten, Krawatte zu tragen. Die Lockerungen gelten jedoch nur mit Einschränkung.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
Journalistin Wellmer mit Linkenpolitiker Gregor Gysi: Wenn nur die Menschen nicht wären, die in den blühenden Landschaften herumstanden.
Foto: Thomas Henkel / rbb
…ist die Rezension der »Story im Ersten: Russland, Putin und wir Ostdeutsche« meines Kollegen Alexander Osang. Der sehenswerte Film der »Sportschau«-Moderatorin Jessy Wellmer geht der Frage nach, warum Ostdeutsche aufgrund ihrer Sozialisation bis heute einen anderen Blick auf Russland haben, als Westdeutsche. Alexander fragt sich in seinem ebenso lesenswerten Text allerdings, warum man Westdeutschen auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer den Osten erklären muss, obwohl er konstatiert: »Damit verdiene auch ich mein Geld. Hier wieder.« Meine Frau (Westdeutsche) sagte übrigens, sie habe nicht viel Neues in dem Film von Wellmer erfahren. Aber das liegt vielleicht daran, dass ich (geborener Ostdeutscher) ihr andauernd in den Ohren liege und sie ungefragt mit Ostgeschichten nerve.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Für Westler erklärt – Wir Ostdeutschen, Putin und die Pilze im Wald
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Es wird eng für Joe Biden: Der US-Präsident und seine Demokraten müssen um ihre Mehrheiten im Kongress bangen. Werden sie bei den Midterms wenigstens den Senat halten? Warum Nevada zu einem Schlüsselstaat werden könnte .
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»Jeder liebt den Verrat, aber keiner den Verräter«: In Deutschland sollen Whistleblower bald besser geschützt werden. Harvard-Ökonom Jonas Heese darüber, wer in Unternehmen häufig auspackt – und warum man Hinweisgeber mit Geld belohnen sollte .
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Die Welt ist zu laut für ihn: Der Isländer Ólafur Arnalds ist ein Star der Stille – seine Musik ist das Gegenprogramm zur digitalen Dauerbeschallung. Er selbst kommt vom Hardcore-Punk .
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»So einen Sturm habe ich noch nie erlebt«: Mitte August verwüstet ein Unwetter Teile Korsikas. Mehrere Segler werden überrascht, offenbar hat niemand das Ausmaß des Orkans kommen sehen. Hier berichten drei Skipper von ihren dramatischen Erfahrungen .
Was heute weniger wichtig ist
Wurmflur: Zum 21. Mal lud die deutsche Entertainerin Heidi Klum, 49, zu ihrer traditionellen Halloween-Party. Schon im Vorfeld erregte sie Kollegen der Boulevardmedien, da sie auf Instagram Fotos der Vorbereitungen für die Kostümierung postete. Auf einem war sie im Rahmen dessen, was beim prüden Facebook-Konzern gerade noch möglich ist, quasi nackt zu sehen . Im Endergebnis war sie umso verhüllter, tippelte als dicker Wurm über die Teppiche des Moxy Lower East Side in New York, ihr Freund Bill Kaulitz, 33, daneben als Angler mit verrutschtem Auge. Dorsch ist forsch, Qualle schafft alle, Klum lag krumm.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Die Vergüngungswilligen sind von einem Coronalockdown in dem Freizeitpark überrascht worden.«
Cartoon des Tages: Ganz schön harte Arbeit, Herr Benko!
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Neulich erzählte mir meine Mutter, dass sie auf den Geschmack gekommen ist, Podcasts zu hören. Sie bat mich um Tipps, welche sie denn hören könnte. Ich habe ihr natürlich alle 15 Audioformate empfohlen, die der SPIEGEL im Angebot hat. Die Bandbreite ist enorm. Sie beginnt bei dem Service, sich zahlreiche Artikel aus der jeweiligen Ausgabe des SPIEGEL-Magazins vorlesen zu lassen. Man kann auch eintauchen in das Verbrechermilieu und dem sogenannten »True-Crime«-Podcast »Im Verhör« lauschen, man kann sich bei »Coaching« in Lebensfragen beraten lassen oder bei »Daily« ein tagesaktuelles Thema vertiefen.
Ans Herz legen möchte ich Ihnen vor allem unsere zwei neuesten Produktionen. Wenn Sie sich mit Medizinerinnen und Medizinern in ihre schwierigsten Fälle begeben wollen, könnten sie meiner Kollegin Heike Le Ker und ihrer Co-Moderatorin Sibylle Voss zuhören, die aus der langjährigen Reihe »Der rätselhafte Patient« einen spannenden Podcast entwickelt haben. Und passend zur in drei Wochen beginnenden Fußballweltmeisterschaft in Katar haben die Kollegen aus dem Sportressort den Podcast »Ausverkauft« gestartet. Innen- und Sportministerin Nancy Faeser, die sich in Katar gerade auf den neuesten Stand bringen lässt , hätte sich die Reise auch sparen können. In »Ausverkauft« kommt alles zur Sprache, was ihre Gesprächspartner in Katar ohnehin nicht erzählen.
Hören Sie hier die beiden jüngsten Folgen des »Rätselhaften Patienten« und von »Ausverkauft«.
Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen und falls Sie heute freihatten, einen schönen restlichen Feiertag. Herzlich
Ihr Janko Tietz
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