Bolsonaro muss seinen Platz für den Ex-Präsidenten räumen
Nein, es ist nicht zu hochtrabend ausgedrückt: Bei der Stichwahl in Brasilien ging es gestern nicht nur um die Zukunft des fünftgrößten Landes der Welt, sondern um die Zukunft des ganzen Planeten. Der Regenwald Brasiliens gilt als grüne Lunge der Erde, und der bisherige Präsident Jair Bolsonaro hat dieser Lunge durch Abholzungen schweren Schaden zugefügt.
Wahlsieger Lula
Foto: CHRISTOPHE PETIT TESSON / EPA
Außerdem geraten die Demokratien weltweit unter Druck, ein Sieg Bolsonaros hätte den Druck verstärkt. Gut möglich, dass er eine zweite Amtszeit genutzt hätte, um im Land ein autoritäres System zu etablieren.
Nun unterlag der Rechtspopulist extrem knapp seinem linken Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva, der schon einmal Brasiliens Präsident gewesen ist. Auf einen Wahlsieg Lulas hatten Demokraten weltweit gehofft, dass er aber so knapp ausfiel, ist kein gutes Zeichen. Denn im Land und außerhalb wird damit gerechnet, dass Bolsonaro das Ergebnis anfechten wird. Nach dem Vorbild des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hatte er vor der Wahl Zweifel am System gesät, um bei einer Niederlage Betrugsvorwürfe erheben zu können.
Das Land ist durch einen brutalen Wahlkampf und das Kopf-an-Kopf-Rennen ohnehin aufgewühlt, und Bolsonaro versteht es, Hass zu schüren. Brasilien könnte nun, am Ende einer schwierigen Zeit, die nächste Prüfung bevorstehen.
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Lulas Wahlsieg in Brasilien: Triumph des Versöhners
Reformation – jetzt!
Heute ist Reformationstag. Er dient dem Gedenken an die kirchliche Erneuerung im 16. Jahrhundert durch Martin Luther und andere.
Denkmal auf dem Marktplatz von Wittenberg erinnert an den Reformator Luther
Foto: Hendrik Schmidt/ picture alliance / dpa
Erneuerung sollte allerdings nie abgeschlossen sein. Gerade in den Kirchen nicht. Erneuerung muss in den Kirchen nicht bedeuten, sich dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen, das hat oft peinliche Folgen. Erneuerung läge in der Bereitschaft, die Ursachen von Missständen zu beseitigen.
Solange aber die katholische Kirche am Zölibat festhält, wird sie sich nicht grundlegend erneuern können. Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche sei Teil einer Krise des Systems, zu dem der Zölibat gehöre, so sagte der Kirchenhistoriker Hubert Wolf einmal im Deutschlandfunk . Die Krise sei größer als die in der Reformation und gefährde das Überleben der Institution.
In der evangelischen Kirche gibt es trotz der liberaleren Strukturen ebenfalls Fälle sexualisierter Gewalt, auch hier wäre Erneuerung nötig, ein neues Buch aus dem Herder-Verlag fordert sie ein: »Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Wie Theologie und Spiritualität sich verändern müssen«, so lautet der Titel.
Die Reformation im 16. Jahrhundert führte zu einer Spaltung der Kirche. Wenn sich die Kirchen jetzt zusammentäten (und zwar deutlich mehr als bisher), um die Strukturen zu verstehen und zu beseitigen, die sexualisierte Gewalt befördern, wäre viel gewonnen. Eben weil sie unterschiedlich sind, könnten sich die Kirchen hier gegenseitig herausfordern und helfen.
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Zeugen über Missbrauch in der katholischen Kirche: Der Teufel hinter der Kirchentür
Polen: Überleben im Gelände
Das Ende der Sowjetunion und somit des Kalten Krieges war maßgeblich von Polen ausgegangen, von der dortigen Solidarność-Bewegung. Und nun? Nun bereitet sich Polen offenbar auf kriegerische Zeiten vor: Die Armee des Landes soll in den kommenden Jahren auf die doppelte Größe wachsen, und in der Stadt Deblin steht der heutige Tag unter dem Motto: »Trainiere mit der Armee«. Die Streitkräfte wollen mit dem eintägigen Programm für den Dienst an der Waffe werben. Soldaten werden zeigen, wie man schießt, Handgranaten wirft und im Gelände überlebt.
Ukrainische Flüchtlinge in Polen
Foto: Michael Kappeler / dpa
Das alles ist die Konsequenz aus Russlands Angriff auf die Ukraine. Willkommen im Europa des Jahres 2022.
Die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert, der Einmarsch des Deutschen Reiches und der Sowjetunion in Polen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und die millionenfachen Verbrechen der Deutschen während dieses Kriegs haben zu dieser Sensibilität gegenüber Bedrohungen aus der Nachbarschaft geführt.
Das Gefühl der Bedrohung führt aber auch zu einer großen Solidarität gegenüber der Ukraine. Politisch ist Polen eigentlich ein zweigeteiltes Land, doch in der Solidarität sind sich beide Lager weitgehend einig. Laut des Flüchtlingshilfswerks des Vereinten Nationen (UNHCR) sind zurzeit 1,7 Millionen ukrainische Geflüchtete in Polen registriert.
Anfang Oktober bin ich für ein paar Tage nach Polen gereist, nach Wrocław, dem früheren Breslau, nach Nysa, dem früheren Neiße, und nach Krzyżowa, dem früheren Kreisau. In Wrocławs Innenstadt lief ich an einem improvisierten Gedenkort an das Massaker von Butscha vorbei: Kinderspielzeug, einzelne Schuhe und Totenkerzen lagen verstreut auf dem Boden, auf einem Plakat stand: »Als Protest gegen den Krieg, in Hochachtung vor den Opfern«. Vor Schloss Kreisau, das einst die Grafen Moltke bewohnten und heute eine Stiftung für Europäische Verständigung beherbergt, wehten drei Flaggen nebeneinander: die polnische, die deutsche und die ukrainische. Auch das – immerhin – ist Europa im Jahr 2022.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Russland spricht von Attacke mit Schwimmdrohnen, Kriegswaffen in Finnland aufgetaucht: Ferngesteuerte Boote sollen die Schwarzmeerflotte angegriffen haben – sagt Moskau. Die finnische Polizei sorgt sich wegen der Bewaffnungen von Kriminellen. Und: SPD und Grünen lehnen Fracking ab. Das geschah in der Nacht.
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»Putin hat leider noch viele Optionen«: Wird der Kremlchef in der Ukraine Nuklearwaffen einsetzen? Gut möglich, sagt der US-Forscher Hein Goemans – aber Europa und vor allem Deutschland könnten das Risiko mit einem strategischen Kniff minimieren.
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Etwas Schutz, wenn die Bomben fallen: Leuchtende Farben und Helme wie die Großen: Spezielle Schutzausrüstung soll Kinder in der Ukraine vor Schüssen, Bombensplittern und Trümmern schützen. Mehr als 1200 Kinder wurden bereits Opfer des Krieges.
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Wir müssen schon jetzt das Russland der Zukunft schaffen: Es war eine unglaubliche Woche: Ich habe meinen Partner geheiratet und bin zum »ausländischen Agenten« ernannt worden. Für beides wurde ich beglückwünscht. Diese Reaktionen sprechen Bände.
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Die Startfrage heute: In welcher Stadt eröffnete Karl Albrecht senior 1913 seinen ersten Laden?
Gewinner des Tages…
Platane in Münster gestern
Foto: Friso Gentsch / dpa
….ist das Wetter. 18 Grad sind für heute in Berlin angesagt, für morgen sogar 19, gestern waren es 22. Natürlich sind zu warme Temperaturen in Zeiten des Klimawandels eigentlich kein Anlass zu Freude, und doch gibt es in diesen Tagen eben auch eine andere politische Komponente des Wetters: »Friere, friere« hatte Russlands Präsident Wladimir Putin dem Westen im September zugerufen. Jeder Tag, an dem wir nicht frieren müssen, ist ein Triumph.
Vergangene Woche hatte ich zwei Abendtermine in der Hamburger Innenstadt und weil es so milde war, forderte ich mich selbst zu Spaziergängen auf. Merkwürdig war es schon: Die Cafés draußen waren voll besetzt, die Menschen eher leicht bekleidet – und die Eingänge der großen Geschäfte an der Alster mit Weihnachtsbäumen dekoriert.
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Freibadwetter im Oktober: Das Badewasser so warm wie die Nacht
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Weltmeister Verstappen stellt einen Siegrekord auf: Bisher hielten Michael Schumacher und Sebastian Vettel den Siegrekord in einer Saison – nun hat sich Max Verstappen diese Bestleistung geschnappt. In Mexiko verwies er den hoffnungsvollen Lewis Hamilton auf Platz zwei.
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Tausende Tschechen demonstrieren Solidarität mit Ukraine: Aufgeladene Stimmung in Prag: Während die einen Verhandlungen mit Moskau fordern, bekunden die anderen, sie ließen sich keine Angst machen: »Die Dunkelheit wird niemals siegen.«
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Elon Musk verbreitet auf Twitter Verschwörungstheorie zu Paul Pelosi: Der neue Twitter-Besitzer Elon Musk hat mit seinen 112 Millionen Followern eine völlig unbelegte Verschwörungstheorie geteilt, laut der Paul Pelosi von einem Callboy angegriffen worden sei.
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Der Kryptokunst-Crash: Der irre Hype um digititale Werke beherrschte zwei Jahre lang die internationale Kunstwelt. Dann brach der Markt zusammen, Käufer verloren Millionen. Trotzdem: Die Szene ist in Aufbruchstimmung.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer