Kein Ausweg mit Putin
Wann immer Wladimir Putin zu längeren, öffentlichen Vorträgen ausholt, stellt sich unweigerlich die Frage: Glaubt der Mann eigentlich selbst, was er da sagt? Verdreht und verbiegt er die Realität ganz bewusst? Oder ist das pathologisch?
Wladimir Putin
Foto: Mikhail Metzel / AP
So wie gestern. Fast vier Stunden nahm sich der Kremlherrscher da Zeit, um bei einer Diskussionsveranstaltung in Moskau Einblicke in sein Paralleluniversum zu gewähren:
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Der Westen ist an allem Schuld, dieser spiele ein »gefährliches, blutiges und schmutziges« Spiel.
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Die Entwicklungen der vergangenen Monate seien unvermeidlich gewesen; Russland müsse »sein Existenzrecht verteidigen«.
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Er wolle gute Beziehungen zu allen Ländern: »Russland ist kein Feind.«
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Er sei bereit zum Dialog mit der Ukraine, um den Konflikt zu beenden – aber die Ukraine wolle das nicht; die USA müssten die Ukraine zu Friedengesprächen drängen.
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Es gebe nichts in diesem Jahr, worauf er mit Enttäuschung zurückblicke.
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»Wir haben nie über die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen gesprochen.«
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Die Ukraine arbeite an einer »schmutzigen Bombe«.
Lässt sich irgendetwas aus solch einem Auftritt herauslesen, das uns dem Frieden näher bringt? Wohl kaum.
Die bittere Erkenntnis ist einmal mehr: Solange Putin in seiner Parallelwelt verharrt, bietet sich kein Ausweg aus dem Krieg. Freiwillig wird der Kremlherrscher die illegal annektierten, ukrainischen Gebiete nicht wieder aufgeben. Und so lange gibt es für die Ukraine keinen Grund, mit Russland zu verhandeln.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Kadyrow räumt schwere Verluste ein, Selenskyj spricht von 8000 Luftangriffen seit Februar: Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow bestätigt viele Todesopfer in seinen Einheiten. Kiew vergleicht das russische Vorgehen mit der Nazizeit. Und: IAEA-Mission in der Ukraine wird konkreter. Das geschah in der Nacht.
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Die Geheimtruppe, die Raketen auf die Ukraine lenkt: Russland beschießt zivile Ziele in der Ukraine und beschädigt Infrastruktur. Der SPIEGEL hat gemeinsam mit zwei Enthüllungsplattformen eine geheime Armee-Einheit identifiziert, deren Mitglieder die Raketen programmieren.
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»Der dritte Weltkrieg hat praktisch bereits begonnen«: Erderwärmung, Krieg, Inflation: Die Welt steckt in einer Dauerkrise. Crash-Prophet Nouriel Roubini sieht zehn »Mega-Bedrohungen« – und sagt, wie er selbst damit umgeht.
Hält Steinmeier endlich eine große Rede?
Der Bundespräsident hat sich etwas vorgenommen für seine zweite Amtszeit. Nachdem Frank-Walter Steinmeier die ersten fünf Jahre ziemlich geräuschlos vor sich hinpräsidiert hatte, wollte er nun lauter werden, mutiger, auch mal die Kontroverse mit der Bundesregierung zu suchen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Foto: Britta Pedersen / dpa
Und tatsächlich: Seit seiner Wiederwahl im Februar wirkt Steinmeier deutlich munterer, er sucht den Kontakt zu den Menschen, nervt die Koalition mit einem Pflichtdienst-Vorstoß, mischt sich ein in die China-Politik des Kanzlers. Was bisher fehlt: eine große Rede.
Das will Steinmeier heute nachholen. Am Vormittag will er bei einem Auftritt den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft in diesen Krisenzeiten beschwören. »Alles stärken, was uns verbindet«, lautet die Überschrift der Ansprache, in der es vor allem um den Krieg in der Ukraine und den Klimawandel gehen soll. Das Staatsoberhaupt wolle eine Grundsatzrede halten, heißt es, mancher kündigt gar eine »Rede zur Lage der Nation« an. Die ARD hat extra eine Sondersendung angesetzt, überträgt live aus dem Schloss Bellevue.
Die Latte liegt damit hoch. Zu hoch? Steinmeier hat als Präsident schon Hunderte Reden gehalten – in Erinnerung geblieben ist nicht viel davon. Dass das beim heutigen Auftritt anders sein wird, ist keine leichte Aufgabe.
Denn wann immer der Bundespräsident über Putins Überfall auf die Ukraine spricht, dann liegt darauf der Schatten der Vergangenheit, in der Steinmeier als Außenminister und Kanzleramtschef für die irrige Russland-Politik der Bundesregierung mitverantwortlich war. Eine schwere Bürde für eine große Rede.
Söder im Angriffsmodus
Markus Söder ist wieder da, so viel steht fest. Der CSU-Vorsitzende läuft derzeit mächtig aufgepumpt durch die Gegend, teilt kräftig aus gegen die Ampel, vor allem gegen den Kanzler und die Grünen. Letztere sind inzwischen zur Hauptzielscheibe geworden – der Mann, der vor kurzem noch Bäume umarmt hat, will von Schwarz-Grün nichts mehr wissen.
Markus Söder
Foto: IMAGO/Sammy Minkoff
Es hat eine Weile gedauert, bis Söder sich berappelt hat. Er hatte ja auch einiges wegzustecken: Die Bundestagswahl ging krachend verloren, Söders Anteil am Machtverlust ist angesichts des Kandidatenkrawalls gegen Armin Laschet nicht geringzuschätzen – und damit auch am Bedeutungsverlust seiner CSU auf der großen Berliner Bühne.
So langsam aber muss der bayerische Ministerpräsident wieder in die Offensive. In einem Jahr ist Landtagswahl im Freistaat, und die CSU hängt in den Umfragen unter 40 Prozent fest. Zu wenig für die Ansprüche der Christsozialen, die sich am Freitag und Samstag zum Parteitag treffen.
Wahlen stehen in der Augsburger Messehalle nicht an, an dieser Front hat Söder also von der Basis nichts zu befürchten. Aber bei aller Begeisterung über die Attacken gegen Cannabis-Legalisierung und Gendersprache – die Partei wüsste auch gern, was Söder mit Bayern vorhat. Außer, dass die CSU regiert.
Am Samstag schaut auch Friedrich Merz bei der kleinen Schwester vorbei. Das unter Angela Merkel und Armin Laschet zerrüttete Verhältnis zur CDU hat sich zwar normalisiert. Aber wie lange hält der Frieden? Die nächste K-Frage kommt bestimmt, und ob Söder als bayerischer Regierungschef stillhält, wenn ein semi-populärer, bald 70-jähriger CDU-Chef die Kanzlerkandidatur beansprucht?
Für ihn sei die Sache vorbei, hat Söder im Sommer einmal betont. Wer’s glaubt.
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Die Startfrage heute: Welches Land gilt als jüngster Staat der Welt?
Gewinner des Tages ist…
Vorfahrt für E-Autos ab 2035?
Foto: Panama Pictures / ddp/Panama Pictures
… das Klima. In der Europäischen Union dürfen ab 2035 nur noch Neuwagen verkauft werden, die keine Treibhausgase ausstoßen. Mit anderen Worten: Neue Benzin- und Dieselfahrzeuge sind dann verboten. Auf ein entsprechendes Gesetz haben sich die beteiligten EU-Institutionen geeinigt. Ob Verbrenner künftig noch mit synthetisch hergestellten Kraftsoffen, sogenannten E-Fuels, fahren dürfen, soll noch geprüft werden. Ein Zugeständnis auch an die FDP.
Das Klima ist damit natürlich nicht gerettet – aber richtig ist der Schritt allemal. Und er gibt den Autobauern Planungssicherheit.
Einen Haken hat die Geschichte: 2026 soll das Verbrennerverbot noch einmal überprüft werden. Wer die Entscheidungsprozesse in der EU kennt, ahnt, dass die Debatte dann noch einmal von vorn losgehen könnte.
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Elon Musk übernimmt Twitter und feuert Spitzenkräfte: Der Deal ist laut US-Medienberichten perfekt: Elon Musk hat den Twitter-Konzern vor Fristablauf übernommen. Bisherige Führungskräfte wurden unmittelbar danach entlassen – und aus dem Gebäude eskortiert.
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Schiffbrüchiger nach zwei Tagen gerettet: Auf eine Boje gekauert hat Mann das Kentern seines Kajaks überlebt. Ernährt habe er sich in den zwei Tagen von Muscheln, Krabben und Seetang, erzählte der Brite nach seiner Rettung. Und trank literweise Frischwasser.
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Kommen Sie gut in den Tag.
Herzlich,
Ihr Philipp Wittrock