1. Ausgeschwärmt
Selten gab es um einen Staatsbesuch mehr Hickhack als um die Reise von Frank-Walter Steinmeier in die Ukraine. Ursprünglich hatte der Bundespräsident im April eine Reise nach Kiew geplant, gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda und den Staatschefs der baltischen Staaten. Doch die Regierung in Kiew sagte Steinmeier damals kurzfristig ab.
Die Zurückweisung führte zu einem ungewöhnlich scharfen Telefonat zwischen Selenskyj und Steinmeier. In deren Folge zeigte sich auch Kanzler Olaf Scholz angefressen und musste sich vom damaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk vorwerfen lassen, er sei eine »beleidigte Leberwurst«. Scholz’ Ambitionen, selbst in die Ukraine zu reisen, wuchsen bekanntermaßen darauf nicht gerade. Später begründete die ukrainische Regierung die Absage an Steinmeier unter anderem mit Sicherheitsbedenken. Die gab es dann vergangene Woche auf deutscher Seite. Am Donnerstag sollte die Reise eigentlich nachgeholt werden – nachdem die Missstimmungen offenbar ausgeräumt waren. Doch diesmal zögerten das Auswärtige Amt, das Bundesinnenministerium und die Bundespolizei. Auch weitere Behörden meldeten Sicherheitsbedenken an.
Nun ist Steinmeier also im dritten Anlauf in der Ukraine angekommen. Er fuhr mit dem Nachtzug nach Tschernihiw, von dort aus ging es mit dem Auto weiter in den kleinen Ort Korjukiwka, den Steinmeier vor einem Jahr schon einmal besucht hat. In dem Ort verübten Deutsche 1943 ein Massaker an nicht-jüdischer Zivilbevölkerung mit Tausenden Toten. Seit dem Besuch hielt Steinmeier Kontakt mit dem Bürgermeister der Stadt, am Denkmal legte er heute weiße Rosen nieder.
Später ging es mit dem Auto in die Hauptstadt Kiew, wo der Bundespräsident heute Abend auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sowie den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko treffen wird. Mein Kollege Thore Schröder ist derzeit in Korjukiwka und führt Gespräche mit Menschen, die am Vormittag mit Steinmeier gesprochen haben. »Es war ein guter Zug des Bundespräsidenten, zuerst hierherzukommen«, sagt Thore, »denn damit zeigt er, dass ihm nicht nur das aktuelle Leid der Ukrainer bewusst ist, sondern auch das frühere.« Dem Bürgermeister, den Steinmeier schon im Frühjahr während der russischen Besatzung anrief, versprach er, bei der Umstellung von Gas auf Holz in der Wärmeversorgung des Orts behilflich zu sein. Und er brachte ihm einen Brief des Bürgermeisters Stadt Waldkirch in Baden-Württemberg mit, die eine Städtepartnerschaft mit Korjukiwka eingehen möchte.
Eigentlich wollte sich Steinmeier im Ortsmuseum mit den Einwohnern von Korjukiwka treffen. Doch wegen eines Luftalarms musste er in den Keller des Gerichtsgebäudes ausweichen. Das zeigt: So ganz unbegründet scheinen die Sicherheitsbedenken weder auf der einen, noch auf der anderen Seite gewesen zu sein.
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Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Russlands Propaganda-Bombe: In Cherson inszenieren sich die russischen Besatzer als Retter. Sie schüren Ängste vor einem Schlag der ukrainischen Armee, der Stadt drohe die Überflutung oder gar eine »schmutzige Bombe«. Bei wem verfängt das?
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Demokraten um Ocasio-Cortez verlangen Verhandlungen mit Russland: Erstmals fordern prominente Demokraten US-Präsident Joe Biden zu einem Kurswechsel im Ukrainekrieg auf. Sie wollen eine Verhandlungslösung mit Moskau erreichen. Das Weiße Haus will diese Entscheidung der Ukraine überlassen.
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Trafos, Generatoren und Kabel – so wichtig wie Panzerhaubitzen: Russland zerstört Kraftwerke und Verteilernetze, die Ukraine benötigt dringend Ersatzteile. Zwei Konferenzen sollen diese Woche die Hilfe beschleunigen. Reicht das, um die Bevölkerung durch den Kriegswinter zu bringen?
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Ausgezehrt
Das Wetter scheint derzeit mal wieder verrücktzuspielen, Temperaturen um die 25 Grad im Oktober, kaum Niederschlag, immer noch zu trockene Böden. Dafür Unwetter mit Starkregen auf Kreta, Überschwemmungen in Nigeria und in Australien. Doch auch hierzulande wird der Tag kommen, an dem es über die Maßen regnet und Wassermassen auf verdorrte Böden treffen, die das Nass nicht so schnell aufnehmen können.
Im vergangenen Jahr hat das in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen zu einer der schwersten Flutkatastrophen geführt, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Mehr als 180 Menschen kamen ums Leben, Infrastruktur wurde zerstört, deren Aufbau teils bis heute noch nicht wieder begonnen hat. Politikerinnen und Politiker traten zurück. Man müsste meinen, das Land sei nach diesen Erfahrungen klüger und besser vorbereitet auf künftige Naturkatastrophen.
Mein Kollege Matthias Bartsch hat recherchiert, dass dies leider Wunschdenken ist . Sollte in absehbarer Zeit wieder ein Unwetter mit Überflutungen einsetzen, droht sich die Situation von 2021 zu wiederholen. Der Katastrophenschutz in Deutschland müsse »deutlich modifiziert« werden, zitiert Matthias in seinem Text Ulrich Cimolino vom Deutschen Feuerwehrverband. Viele Probleme seien seit Jahren bekannt und zögen sich »quer durch alle Organisationen und über alle administrativen Ebenen«.
Das beginne damit, dass es nicht genügend leistungsfähige Hubschrauber gebe, setze sich in fehlendem ausgebildeten Personal fort und ende bei funktionstüchtiger Kommunikationstechnik im Krisenfall. Am Ende scheitert ein vernünftiges Management auch noch am Kompetenzgerangel der Behörden. Wer ist zuständig? Das Land? Die Kommunen? Der Bund? Wer zahlt? Bis heute sind all diese Fragen nicht hinreichend beantwortet. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft nur zu starkem Regen wie dem vergangene Nacht in Wuppertal kommt. Dort registrierten die Wetterstationen zwischen 20 und 21 Uhr als Maximum zwölf Liter, ein Starkregen beginnt ab 15 Litern pro Stunde. Ein Dach eines Discounters ist dennoch eingestürzt. Zu Schaden kam Gott sei Dank niemand.
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Lesen Sie hier mehr: Katastrophenschutz nach der Flut im Ahrtal – Nichts gelernt
3. Ausgelaufen
Die Welt hat Kanye West viel zu verdanken. Er ist Produzent eigener Platten und auch vieler weiterer Künstlerinnen und Künstler. Bei seinem Label Good Music stehen Musiker wie John Legend, Common oder Kid Cudi unter Vertrag. Er designt Mode, betreibt Restaurants. Die »New York Times« bezeichnete Wests Karriere mal als »sui generis« – als einzigartig und eigene Gattung.
Einzigartig sind allerdings auch seine verbalen Ausfälle, seine Hochnäsigkeit, seine »Leck-mich-am-Arsch-Attitüde«. Nach der Trennung beleidigte er aufs Übelste seine Ex-Frau Kim Kardashian, pöbelte gegen den Stand-up-Comedian Trevor Noah, der Kardashian verteidigte, wütete, nachdem er im April 2022 nicht wie geplant bei den Grammy-Awards auftreten dufte. Die Begründung der Jury: »sein bedenkliches Online-Verhalten«. Darin lassen sich zweifelsohne auch seine antisemitischen Aussagen einsortieren, die Kanye West immer wieder vom Stapel lässt.
Das hat nun Konsequenzen, die über bloße Ausladungen hinausreichen. Der deutsche Sportartikel-Hersteller Adidas will die Zusammenarbeit mit dem Rapper sofort beenden. Adidas dulde »keinen Antisemitismus und keine andere Art von Hassrede«, heißt es vom Unternehmen. Und weiter: Die jüngsten Äußerungen und Handlungen von West seien »inakzeptabel, hasserfüllt und gefährlich.«
Lange hatte Adidas gezögert, diesen Schritt zu gehen. Zu einträglich war das Geschäft mit dem US-Musiker, der für die Deutschen die gemeinsame Produktlinie »Yeezy« designte. Doch der Druck wurde zu groß; als auch der Zentralrat der Juden an Adidas’ historische Verantwortung appellierte, »die täglich neuen antisemitischen Entgleisungen des Rappers« nicht länger zu ignorieren, bog man bei. Laut Adidas wird sich das mit bis zu 250 Millionen Euro »negativ auf den Nettogewinn des Unternehmens auswirken«. Haltung kostet eben. Schöne Grüße an die Fifa und nach Katar.
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Lesen Sie hier mehr: Antisemitische Ausfälle – Adidas beendet Zusammenarbeit mit Kanye West
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Sunak will »Fehler« seiner Vorgängerin korrigieren: Bei seinem ersten Auftritt als britischer Premier hat sich Rishi Sunak deutlich von seiner Vorgängerin Liz Truss distanziert – und seine Landsleute auf schwierige Zeiten vorbereitet.
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Ehemaliger US-Soldat gesteht Vergewaltigung – 37 Jahre nach der Tat: Im Oktober 1985 wird eine junge Frau in Göppingen vergewaltigt – sie entgeht nur knapp ihrem Tod. Die Suche nach dem Täter bleibt Jahrzehnte ohne Erfolg. Nun steht ein 65-Jähriger wegen versuchten Mordes vor Gericht.
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Sinkende Gaspreise sorgen laut Habeck erst »mittelfristig« für Entlastung: Die Großhandelspreise für Gas sind eingebrochen. Entwarnung für Verbraucher will Wirtschaftsminister Habeck allerdings mit Blick auf nächstes Jahr noch nicht geben.
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Russisches Gericht bestätigt neun Jahre Haft für Griner: Neun Jahre Haft wegen Drogenbesitzes und -schmuggels: So lautete das Urteil eines Moskauer Gerichts gegen die US-Basketballerin Brittney Griner. Nun ist ihr Versuch gescheitert, das Urteil anzufechten.
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Weinstein ignorierte »ihr Weinen, ihr Zurückweichen vor ihm, ihr Nein«: In Los Angeles hat ein Prozess gegen Harvey Weinstein begonnen – es geht um Vergewaltigung und weitere sexuelle Übergriffe. Der Anklagevertreter schilderte teils drastische Details.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
…ist das lange Gespräch, das meine Kollegin Heike Klovert mit der Journalistin Iris Sayram über ihre Kindheit in Armut geführt hat. Sayram wuchs in Köln als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters auf. Sowohl in ihrem Buch als auch im Interview mit Heike gewährt sie schonungslose Einblicke in ein Leben, das von außen trist und zerrüttet aussieht, und doch von Zuneigung, Liebe und Mut geprägt ist. Was soll dieser Seelenstriptease, könnten sich einige fragen? Will die Autorin nicht nur Aufmerksamkeit? Ja, genau, das will sie! Weniger für sich, sondern für Lebensumstände, die in der Öffentlichkeit zu wenig beleuchtet werden, denen aber eine immer größere Zahl an Menschen in Deutschland ausgesetzt sind. Ihnen will sie die Scham nehmen, offen über ihr Leben zu sprechen, statt eine Fassade aufrechtzuerhalten, die die Gesellschaft vermeintlich erwartet.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Iris Sayram über ihre Kindheit in Armut – »Ich hätte mir lieber einen Nagel ins Knie gerammt, als zuzugeben, wie wir leben«
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Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wie die Deutschen den Gürtel enger schnallen: Eine Umfrage zeigt, wie die Deutschen sich auf schlechte Zeiten einstellen: Billigprodukte statt Markenware, kurze Dusche und öfter Licht aus. Menschen mit niedrigem Einkommen trifft es bereits hart .
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»Wir waren nah am Ende der Welt«: Chruschtschow stationierte vor 60 Jahren Raketen auf Kuba, nun droht Wladimir Putin in der Ukraine mit Atomwaffen. Der SPIEGEL hat Expertinnen und Experten gefragt: Was kann man aus der Eskalation von 1962 lernen?
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Die größten Irrtümer zu Nebentätigkeiten: Alles wird teurer, da liegt ein Nebenjob nahe. Aber ist das mit einer 40-Stunden-Woche vereinbar – und lohnt sich das überhaupt mit der Steuer? Der Faktencheck .
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So teuer wird Skifahren in den Alpen: Europaweit machen die Skipasspreise einen Sprung wie seit Jahrzehnten nicht: Die Energiekrise ist auch in den Wintersportorten angekommen. Was bedeutet das konkret? Der Überblick .
Was heute weniger wichtig ist
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Werbung des Jahres: Wann bekommt der über 160 Jahre alte Langenscheidt-Verlag mal so richtig Aufmerksamkeit? Einmal im Jahr, verlässlich im Oktober. Dann nämlich veröffentlicht das in München ansässige Unternehmen das Jugendwort des Jahres. »I bims« und »lost« waren schon dabei, im vergangenen Jahr wurde »cringe« gewählt. 2022 kürten die Jugendlichen nun also den Begriff »smash«. Natürlich haben wir das gemeldet, amüsant daran sind vor allem anschließend die Zuschriften der Leserinnen und Leser. Denn immer, ja immer, folgt diese Klage: »Und das im Land der Dichter und Denker…«, diesmal vorgebracht von einer Leserin, deren Namen wir lieber nicht nennen wollen und die ihre Mail (voller Rechtschreibfehler) schließt mit den Worten: »Unmöglich, dieser Sprachzerfall«. Doch wie schrieb meine Kollegin Carola Padtberg letztes Jahr anlässlich der Wahl: »Jene Wörter, die von einem uncoolen Wörterbuch-Verlag zum coolsten ›Wort des Jahres‹ gekürt werden, dürften für die wirklich Coolen sofort zum No-Go werden.« Liebe Lesermailschreiberin, es besteht Hoffnung!
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Hören Sie hier den SPIEGEL-Postcast ›Ausverkauft‹ zum Thema.«
Cartoon des Tages: Hamburg…Nicht, dass warnende Stimmen schwiegen
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich die Fernsehdoku anschauen über den Tabellenersten der Fußball-Bundesliga der Herren. »Unser Verein: ‘Eisern Union!’« heißt die Erstausstrahlung, die um 20.15 Uhr im rbb zu sehen ist. Man muss nicht unbedingt Fußballfan sein, um diesen Film mit Gewinn zu sehen. Denn der Fußballverein ist eine Chiffre dafür, wie es vermeintliche Underdogs trotzdem zu Ruhm und Erfolg bringen können.
Erst 1966 gegründet, zu DDR-Zeiten abgehängt von Mielkes Stasi-Verein BFC Dynamo, als »Fahrstuhl-Mannschaft« verspottet wegen der vielen Auf- und Abstiege, nach der Wende durch Lizenzentzug und möglichem Bankrott bedroht, dauerte es Jahrzehnte, bis es Union in die Erste Bundesliga des vereinten Deutschlands schaffte. Dort angekommen, hielt es kaum jemand für möglich, dass es der Verein bis an die Spitze schaffen würde und sich dort auch noch wochenlang hält. Das Ganze weniger abhängig vom Geld wie bei der Konkurrenz des FC Bayern München, dem Red-Bull-Club RB Leipzig oder dem Stadt-Kontrahenten Hertha, dem nicht nur sein Investor Lars Windhorst das Leben schwer macht, sondern vor allem getragen von Leidenschaft fürs Spiel und den Fans und ihrer Identifikation mit ihrem Club.
Einen schönen (Fußball-)Abend wünsche ich Ihnen! Herzlich
Ihr Janko Tietz
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