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Bericht des Europarats zu Gewaltschutz: »Für Frauen endet das im schlimmsten Fall mit dem Tod«

Ehemalige Bewohnerin in einem Frauenhaus in Oberhausen


Foto: Ina Fassbender / picture alliance / dpa

SPIEGEL: Der Europarat attestiert Deutschland in seinem Bericht »gravierende Defizite« bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Warum?

Nelles: In Deutschland gilt seit Anfang 2018 die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Bis heute gibt es in Deutschland allerdings keine bundesweite Strategie, um dieses Abkommen umzusetzen. Es fehlt ein übergreifender Plan, in dem klar definiert wird, was Gewalt gegen Frauen überhaupt bedeutet, wie sie bekämpft werden soll und wo es zusätzlichen Bedarf gibt. Tatsächlich ist nicht einmal erkennbar, wie viel Geld Deutschland für Gewaltschutz ausgibt. Es gibt nur stellenweise belastbare Zahlen dazu.




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Panos Kakaviatos


Johanna Nelles ist Exekutiv-Sekretärin der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Sie leitet das Sekretariat zur Überwachung des Abkommens. Am 7. Oktober 2022 veröffentlichte ein unabhängiges Expertengremium einen Bericht zum Stand der Umsetzung der Konvention in Deutschland.

SPIEGEL: Wie äußert sich das Fehlen einer nationalen Strategie denn in der Praxis?

Nelles: Aktuell gibt es in einzelnen Bundesländern und Kommunen gute Ansätze zum Gewaltschutz, aber eben nicht flächendeckend. In Deutschland hängt es also stark vom Wohnort ab, wie gut eine Frau oder ein Mädchen vor Gewalt geschützt wird. Und auch die Lebensumstände einer Frau spielen eine große Rolle.

SPIEGEL: Inwiefern?

Nelles: Frauen mit Behinderungen haben es zum Beispiel sehr viel schwerer, Hilfsangebote wahrzunehmen, weil sie dabei oft Unterstützung benötigen. Ähnlich sieht es bei Frauen und Mädchen aus, die nicht gut Deutsch sprechen oder durch ihren Aufenthaltsstatus ortsgebunden sind. Diese Gruppen sind besonders vulnerabel. Gleichzeitig tritt dort der Mangel an Beratungsstellen noch einmal deutlicher zutage.

SPIEGEL: Wie groß ist dieser Mangel denn tatsächlich?

Nelles: Aktuell gibt es in Deutschland rund 5086 Plätze in Frauenhäusern. Eigentlich gehen wir aber davon aus, dass pro 10.000 Einwohner ein Platz in einem Frauenhaus zur Verfügung stehen muss, um Betroffenen ausreichend Schutz bieten zu können. Da besteht also ein klares Defizit, kein Bundesland erreicht dieses Ziel. Die Folgen zeigen sich in einer Studie, die im Jahr 2016 in Bayern durchgeführt wurde: Dort wurden genauso viele Frauen in Frauenhäusern aufgenommen wie abgewiesen. Vielen bleibt so der Weg in eine sichere Zuflucht versperrt.

Ein unabhängiges Expertengremium des Europarats hat die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland evaluiert. Die Gruppe nennt sich GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence – Expertinnen und Experten zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt).

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, auch Istanbul-Konvention genannt, gilt in Deutschland seit dem Jahr 2018. In dem völkerrechtlichen Vertrag sind verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen sowie häusliche Gewalt festgehalten. Auf dieser Grundlage sollen Gewalttaten verhindert und bekämpft werden. Die Umsetzung wird von einer Kommission aus Expertinnen und Experten überprüft.

In Deutschland wertete das Gremium dafür diverse Berichte und Stellungnahmen von Behörden sowie mehr als 40 Organisationen aus. Im Herbst 2021 absolvierte es einen sechstägigen Evaluierungsbesuch, unter anderem bei Landesregierungen. Der GREVIO-Bericht deckt den Zeitraum bis September 2021 ab. Soweit verfügbar, wurden wichtige gesetzliche Entwicklungen bis Juni 2022 berücksichtigt.

Der Europarat ist eine internationale Organisation mit Sitz in Straßburg. Er wurde 1949 gegründet und setzt sich hauptsächlich für den Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ein. Er hat 46 Mitgliedstaaten, darunter die 27 EU-Staaten.

SPIEGEL: Der Bericht beschäftigt sich nicht nur mit der Versorgungslage, sondern auch mit dem Thema Strafrecht und Strafverfolgung bei Gewalt gegen Frauen. Wie schätzen Sie da die Lage in Deutschland ein?

Nelles: Beim materiellen Recht ist die Bilanz positiv. Viele Straftatbestände, die auch die Istanbul-Konvention als solche einordnet, haben in Deutschland inzwischen Eingang ins Gesetzbuch gefunden. Dazu gehört zum Beispiel die Nein-heißt-Nein-Reform des Sexualstrafrechts, nach der der Tatbestand der Vergewaltigung nun auf der fehlenden Zustimmung des Opfers basiert. Die tatsächliche Durchsetzung des Rechts lässt aber an vielen Stellen noch zu wünschen übrig.

SPIEGEL: Welche Probleme nehmen Sie da als besonders drängend wahr?

Nelles: Eine Studie hat gezeigt, dass die Ermittlungsdauer bei der Polizei im Bereich sexueller Gewalt zwischen drei Tagen und 38 Monaten liegt. Es kann also mehrere Jahre dauern, bis so ein Verfahren überhaupt vor Gericht geht. Opfer müssen dann lange in Ungewissheit verharren. In einigen Regionen gibt es daher bereits spezialisierte Dezernate und Staatsanwaltschaften, die sich um das Thema sexuelle Gewalt kümmern – aber auch das eben nicht überall. An vielen Stellen fehlt in Justiz und Behörden zudem einfach Sensibilität für das Thema, oft werden schädliche Stereotype reproduziert.

SPIEGEL: Welche Stereotype zum Beispiel?

Nelles: Es gibt viele Vorstellungen darüber, wie sich ein ideales Opfer bei einer Vergewaltigung verhalten sollte. Die Realität ist aber oft komplizierter. Zum Beispiel gibt es viele Gründe, warum Frauen oft nicht direkt nach einem sexuellen Übergriff Anzeige erstatten. Trotzdem wird ihnen in solchen und auch anderen Konstellationen das Erlebte abgesprochen. Oder es wird infrage gestellt, warum sie spätabends an einem bestimmten Ort unterwegs waren oder Alkohol getrunken haben. Das führt immer wieder zu einer Täter-Opfer-Umkehr in der Justiz und Strafverfolgung. Da muss mehr sensibilisiert werden.

SPIEGEL: Der Bericht empfiehlt unter anderem auch, Femizide in Deutschland genau zu erheben und nachträglich gesondert zu untersuchen. Was versprechen Sie sich davon?

Nelles: Häusliche Gewalt ist ein Kreislauf, der sich zyklisch fortsetzt. Nach Gewalt folgt vielleicht eine Trennung, dann Stalking, Manipulation und Drohungen – oder umgekehrt. Oft haben Frauen vergeblich bei Behörden Hilfe gesucht, bevor es dann zum Äußersten kam. Solche Fälle im Nachhinein systematisch zu untersuchen, kann helfen zu verstehen, wo und warum diese Hilferufe nicht gehört oder Gefahren unterschätzt wurden. Auch das ist im Übrigen in Deutschland ein Problem: Die tatsächliche Gefährdungslage von gewaltbetroffenen Frauen wird oft nicht systematisch erfasst.

SPIEGEL: Wie würde eine solche Erfassung denn aussehen?


Mehr zum Thema

Nelles: Das ist ein wichtiger Bestandteil der Istanbul-Konvention: Risikomanagement bei häuslicher Gewalt und anderen Gewaltformen, wie zum Beispiel Zwangsheirat. Es gibt bestimmte Faktoren, die eine Gefährdungslage für Frauen verschärfen. Trennung gehört etwa dazu, Schwangerschaft, ökonomische Abhängigkeiten oder auch, wenn der Partner einen Waffenschein hat. Solche Punkte sind natürlich auch wichtig für Sorgerechtsentscheidungen und Kontaktverbote zu Mutter und Kind. Diese Faktoren werden aber nicht überall in Deutschland automatisch erhoben, wenn eine Frau sich wegen häuslicher Gewalt an die Behörden wendet. Andere Länder haben bereits einheitliche Kriterien entwickelt, nach denen die Gefahr für eine Frau eingeschätzt wird. In Deutschland ist das eher ein Flickenteppich. Für Frauen endet das dann im schlimmsten Fall mit dem Tod.

SPIEGEL: Der Bericht sollte Einblick geben, wie weit Deutschland bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention gekommen ist. Was ist Ihr Fazit?

Nelles: Es gibt bislang kein Land, das die Konvention vollumfänglich umgesetzt hat, weil sie sehr umfassend ist. Deutschland ist in punkto Strafrecht aber schon auf einem sehr guten Weg. Inzwischen gibt es außerdem eine Hilfe-Hotline in verschiedenen Sprachen für betroffene Frauen. Und auch die Zivilgesellschaft hat viele Beratungsstellen und Angebote aufgebaut, in denen Frauen geholfen wird. Das sehe ich alles sehr positiv. An vielen Stellen fehlt es aber an Unterstützung durch den Staat, an einheitlichen Konzepten und flächendeckender Versorgung. Die Ampel-Regierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag bereits vorgenommen, einige dieser Punkte anzugehen. Wir hoffen daher nun auf eine weitergehende Umsetzung.


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