Dem Kanzler ist die Erleichterung anzumerken. »Einen schönen guten Morgen«, sagt Olaf Scholz und grinst, als er kurz nach 3 Uhr in der Nacht zum Freitag vor die Kameras tritt. »Wir haben uns zusammengerauft«, sagt er. »Das ist ein gutes Zeichen der Solidarität.«
Rund zehn Stunden lang hatte Scholz zuvor mit den Staats- und Regierungschefs der anderen 26 EU-Staaten gerungen, bis eine Einigung gefunden war. Die EU soll nun weiter an einem Mechanismus gegen extreme Gaspreis-Steigerungen arbeiten, wozu auch ein zeitlich begrenzter Höchstpreis gehören soll. Schon am Dienstag könnte es bei einem Treffen der für Energie zuständigen EU-Minister eine Entscheidung geben.
Die EU hat damit, wieder einmal, gerade noch die Kurve gekriegt zu einem Minimalkompromiss – und Scholz hat es vermieden, am Ende auf offener EU-Bühne isoliert dazustehen. Bis zuletzt hatte er versucht, Markteingriffe durch die EU im Kampf gegen die Gaspreise zu verhindern, um am Ende beizudrehen.
Scholz fordert Veto
Doch Scholz wäre nicht Scholz, wenn er einfach klein beigäbe. Es seien noch viele Details zu klären, schränkte er ein. Außerdem müsse jede finale Entscheidung im Ministerrat nicht nur »einvernehmlich«, sondern »einstimmig« fallen. Gelinge das nicht, so Scholz, müssten die Staats- und Regierungschefs »noch mal dran«. Damit fordert der Kanzler praktisch ein Veto, das er gar nicht hat. Denn laut dem EU-Vertrag entscheidet der Ministerrat an dieser Stelle mit qualifizierter Mehrheit, Deutschland könnte also überstimmt werden.
Beobachter hatten zuvor vermutet, dass die Angst vor einem solchen Kontrollverlust der Grund für den hartleibigen Widerstand Berlins gegen jede Form eines Preisdeckels war. Seit Wochen fordert eine Mehrheit der EU-Staaten ein solches Instrument in unterschiedlichen Formen. Von der Bundesregierung aber kam bis zuletzt ein Nein, noch unmittelbar vor dem Gipfel versuchte sie, jede Nennung eines Preisdeckels aus der Schlusserklärung streichen zu lassen.
Macron und Scholz beim Gipfel in Brüssel
Foto: OLIVIER HOSLET / AFP
Das verursachte schon vor Beginn des Gipfels einen Eklat. »Es ist weder für Deutschland noch für Europa gut, wenn Deutschland sich isoliert«, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, als er im Brüsseler Europagebäude eintraf. Es müsse alles getan werden, dass die europäische Einheit erhalten bleibe – »und dass Deutschland dazugehört«. Es waren Sätze, die diplomatischen Ohrfeigen nahekamen – und auf offener Bühne zeigten, wie tief die Entfremdung zwischen Berlin und Paris inzwischen reicht.
Zudem blieb Macron mit seiner Kritik nicht allein. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas belehrte Scholz, dass Europa nicht ohne Kompromisse funktioniere. »Ich hoffe, dass auch Deutschland diesen Sinn für Kompromisse findet.« Estlands Regierungschef Krišjānis Kariņš warf Deutschland mit Blick auf das 200 Milliarden Euro schwere »Doppelwumms«-Paket »fast schon protektionistische Tendenzen« vor. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bezeichnet die frühere deutsche Abhängigkeit von billigem russischen Gas als »Fluch für ganz Europa«.
Scholz: »Wir zahlen 26 Prozent des Budgets«
Scholz bügelte die Kritik auf die ihm eigene Art ab. Es sei »ganz klar, dass Deutschland sehr solidarisch gehandelt hat«, sagt der Kanzler. Immerhin habe er, Scholz, den Corona-Wiederaufbaufonds entwickelt, »der uns aus der COVID-19-Pandemie geführt hat«. Deshalb könne er »ein ganz gutes Urteil darüber ablegen, wie man das machen kann« mit der Krisenbewältigung. Anschließend erklärte Scholz sich und seine Regierung zu den »größten Unterstützern Europas«, und fügte hinzu: »Wir zahlen 26 Prozent des Budgets.«
Solche Worte, das darf man getrost annehmen, wären Scholz’ Vorgängerin, der stets auf Ausgleich bedachten Angela Merkel, nie über die Lippen gekommen. Zwar trafen sich Scholz und Macron nach ihrem verbalen Fernduell zum Vier-Augen-Gespräch, zudem soll es am kommenden Mittwoch zu einem Treffen der beiden in Paris kommen. Doch im Brüsseler Sitzungssaal bekam Scholz die Quittung für sein als unsolidarisch empfundenes Verhalten und seine auf EU-Ebene mittlerweile vielfach kritisierte Schwäche darin, unter den europäischen Partnern Kompromisslinien zu finden und Brücken zu bauen.
Selbst bisher enge Verbündete im Abwehrkampf gegen Preisdeckel und andere Markteingriffe, etwa die Niederlande oder Schweden, wandten sich von Scholz ab. Sie meldeten zwar Vorbehalte gegen den Kompromissvorschlag der EU-Kommission an, bekräftigten aber, auf seiner Basis weiterarbeiten zu wollen. Am Ende, das berichteten mehrere Diplomaten unabhängig voneinander, stand Scholz weitgehend allein da – und musste einlenken, zumindest ein wenig.
Streit entschärft – aber nur für wenige Tage
Damit ist ein wochenlanger Streit zunächst entschärft, wenn auch nur für einige Tage. Denn die Hauptsorge in Berlin und anderen Hauptstädten bleibt bestehen: Sollte die EU wie von den Mitgliedsländern im Süden und Osten gefordert einen Preisdeckel für Gas einführen, werden andere den Brennstoff umso lieber ordern. Am Ende fließt dann viel weniger davon nach Europa als benötigt, und der Kontinent muss die knappen Mengen nach bürokratischen Verfahren zuteilen. Ein beständiges Gerangel über die Frage, wem wann wieviel Gas zusteht, könnte die Staatengemeinschaft endgültig auseinandertreiben, so warnten die Kritiker.
Wochenlang tobte der Streit, bis die EU-Kommission vergangene Woche einen Kompromiss präsentierte. Einen allgemeinen Preisdeckel wird es danach zwar nicht geben; doch soll die die Staatengemeinschaft Gas künftig stärker gemeinschaftlich einkaufen. Zudem soll die Kommission in einer Phase extremer Preisausschläge ausnahmsweise eine Obergrenze festlegen dürfen, wenn eine Mehrheit der EU-Mitglieder dafür ist. Dieser »vorübergehende dynamische Preiskorridor« soll »Episoden exzessiver Gaspreise begrenzen«, wie es nun im Gipfel-Kommuniqué heißt.
Der Bundesregierung aber wollte ursprünglich auch das verhindern. Die EU dürfe sich an den internationalen Energiemärkten nicht verspekulieren, mahnte Scholz. Alle Maßnahmen müssten sorgfältig überprüft werden, weshalb er vorschlug, das Thema zu vertagen. Am besten wäre es, wenn sich die Regierungschefs in zwei oder drei Wochen erneut zum Gipfel treffen würden.
Zahlreiche andere Regierungschefs drängten dagegen auf eine schnelle Entscheidung – und auf ein robusteres Auftreten im internationalen Energiehandel. »Die Märkte registrieren unsere Entschlossenheit«, sagte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis. In den vergangenen Wochen habe sich gezeigt, dass bereits die Diskussionen über eine Preisgrenze zu niedrigeren Notierungen geführt hätten. Wenn Europa »eine klare Botschaft sende«, so bekräftigte der konservative Politiker, würden »die Märke reagieren«.
Ob der jetzt gefundene Kompromiss funktioniert, ist offen. Denn der »dynamische Preiskorridor« soll der Spekulation auf den Energiemärkten eindämmen und zugleich sicherstellen, dass alle EU-Länder stets genug Gas bekommen. Es ist eine Quadratur des Kreises, die den Fachleuten in den nächsten Wochen noch viel Kopfschmerzen bereiten wird. Viele Regierungschefs aber wollten unbedingt ein Signal der Stärke mit nach Hause nehmen, das sie an ihre verunsicherten Bürger und Unternehmen weitersenden können.
Kein neues schuldenfinanziertes Programm
Ob es hilft, die europäischen Versorgungsprobleme in den nächsten Monaten zu lösen, halten die Experten für zweifelhaft. »Der EU ist es bisher nicht gelungen, eine koordinierte Antwort auf die Gaspreiskrise zu entwickeln«, sagt Georg Zachmann, Energieexperte bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Derzeit versuche jedes Land, die eigene Wirtschaft zu schützen. »Solange sich die Mitgliedstaaten hier nicht zu mehr Solidarität bereitfinden, kann auch die Kommission keine einheitliche Linie entwickeln.«
In einer weiteren Frage dagegen setzte sich weitgehend Scholz durch. Nachdem er mit seinem »Doppelwumms« vorgeprescht war, hatten viele Regierungen im europäischen Süden ein vergleichbares Programm für die Staatengemeinschaft gefordert, finanziert mit neuen Gemeinschaftsschulden. Das wird es jetzt erst einmal nicht geben. Stattdessen soll die Kommission überlegen, wie dreistellige Milliardenbeträge an nicht abgerufenen EU-Geldern für die Krisenbekämpfung eingesetzt werden können.
Auch hier hatten die Deutschen die teils wütenden Angriffe auf die reichen, sturköpfigen Deutschen als Teil des typisch europäischen Pokerspiels verstanden. Als taktische Manöver, die der Berliner Regierung Zugeständnisse abtrotzen sollte.
Scholz gab sich nach dem ersten Gipfeltag demonstrativ gelassen. »In keiner Weise« habe er sich isoliert gefühlt, so wie Macron es insinuiert hatte. Und am Ende habe es eine Einigung gegeben, sagte Scholz – genau so, wie er es am Donnerstagmorgen in seiner Regierungserklärung prophezeit habe.