Scheitern mit Ansage
Selten zuvor war eine politische Niederlage so vorhersehbar wie diese. Das Scheitern von Liz Truss als britische Premierministerin ist das Ergebnis einer jahrelangen Politik von Brexit–Fanatikern, die so taten, als sei Großbritannien allein auf der Welt, gefeit gegen alle Stürme. So wie früher eben, in der längst vergangenen Zeit des Empire.
Nun haben es wohl endlich alle Anhänger von Gernegroßbritannien mitbekommen: Die Realität sieht anders aus. Es brennt an allen Ecken und Enden im Vereinigten Königreich. Das Land macht sich zum Gespött Europas, wie unser London-Korrespondent Jörg Schindler in der neuen SPIEGEL-Titelgeschichte schreibt. Schuld sind Truss, die anderen Besserwisser bei den Tories und all jene nationalistischen Kommentatoren in den rechten Blättern des Landes, die das Land mit ihrem Vulgärpopulismus in diese Lage gebracht haben.
Liz Truss in London
Foto: HENRY NICHOLLS / REUTERS
Truss’ abenteuerliches Vorhaben aus der libertären Giftküche, Steuern massiv zu senken, ohne einen Plan zur Gegenfinanzierung vorzulegen, hat Wirtschafts- und Finanzpolitik des Landes ins Chaos gestürzt. Sie musste nach nur 45 Tagen im Amt kleinlaut zurücktreten.
Über Truss’ Nachfolge soll schon kommende Woche entschieden werden. Dass sich ihr Vorgänger Boris Johnson angeblich auf ein Comeback vorbereitet, klingt wie ein Witz, scheint aber möglich zu sein. Nach Angaben von Verbündeten in der Partei soll er eine Kandidatur ernsthaft erwägen. Im Gespräch sind auch andere Namen: Rishi Sunak, ein wohlhabender Technokrat, Kemi Badenoch, eine rechte Hardlinerin, oder Penny Mordaunt, die frühere Verteidigungsministerin.
Die oppositionelle Labour-Partei und deren Chef Keir Starmer fordern Neuwahlen. Das wäre tatsächlich der einzige logische Schritt nach einem solchen politischen Desaster. Die Tories könnten einen Urnengang allerdings noch monatelang hinauszögern. Die USA, aber auch der Rest der Nato, blicken mit Sorge auf dieses Chaos. Ausgerechnet jetzt, wo es darum geht, gemeinsam Wladimir Putin die Stirn zu bieten, wirkt eines der wichtigsten Mitglieder des westlichen Bündnisses politisch wie gelähmt.
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Regierungsimplosion im Vereinigten Königreich: Wie sich die Briten zum Gespött Europas machen
Es kriselt zwischen Berlin und Paris
Arroganz, Überheblichkeit, das sind Worte, die immer häufiger fallen, wenn Gesprächspartner im In- und Ausland über die Spitze des deutschen Kanzleramts sprechen. Dass nun offenbar auch von den französischen Freunden solche Töne kommen, zumindest hinter vorgehaltener Hand, ist beunruhigend. Durch die plötzliche Absage des eigentlich für kommende Woche geplanten deutsch-französischen Gipfels in Fontainebleau wird wie unter einem Brennglas sichtbar, dass es um die Beziehungen zwischen Paris und Berlin derzeit nicht allzu gut bestellt ist.
Emmanuel Macron, Olaf Scholz in Brüssel
Foto: Olivier Hoslet / AP
»Seit Monaten verfestigt sich in Paris das Empfinden deutscher Arroganz, früher eher eine französische Domäne, verbunden mit dem unguten Gefühl, Scholz und seiner Regierung fehle der Sinn für die elementare Bedeutung des deutsch-französischen Motors«, berichten meine Kollegen und Kolleginnen Matthias Gebauer, Leo Klimm und Bitta Sandberg in einer Analyse zu den Beziehungen.
Streitpunkte gibt es genug, das deutsche 200–Milliarden–Paket zur Milderung der Energiekrise, Rüstungsprojekte, die nicht vorankommen, die Ausgestaltung eines europäischen Gaspreisdeckels. Und dann kommen wie in vielen Langzeitbeziehungen auch noch Nickeligkeiten hinzu. Wie zu hören ist, waren die Franzosen verstimmt, weil einige deutsche Ministerinnen nicht zum Ministerrat nach Fontainebleau kommen wollten – es gab Terminprobleme. Auch deshalb wurde das Treffen dann abgesagt.
Am Ende werden Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz die Unstimmigkeiten überwinden müssen. Beide werden wissen, dass es eine riesige Dummheit wäre, die aktuellen Verstimmungen in eine veritable Krise ausarten zu lassen. Europa hat schon genug Probleme.
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Deutsch-französisches Verhältnis: Misstrauen statt Freundschaft
Immer Ärger mit Berlusconi
Apropos Verstimmungen: In Italien haben die formellen Beratungen der Parteichefs mit Staatsoberhaupt Sergio Mattarella zur Bildung der neuen Regierung begonnen. Heute sollen die Gespräche weitergehen. Voraussichtlich wird Giorgia Meloni von der rechtsgerichteten Fratelli d’Italia die erste Ministerpräsidentin Italiens werden. Allerdings sorgt in der künftigen Koalition jetzt schon ein alter Bekannter für Ärger: Silvio Berlusconi.
Der 86-Jährige hat sich nämlich mit diversen positiven Äußerungen über Russlands Diktator Putin hervorgetan. Erst prahlte er damit, dass Putin ihm zum Geburtstags 20 Flaschen Wodka geschickt habe (»Er hat mir einen süßen Brief geschickt«). Dann wurden Äußerungen bekannt, in denen Berlusconi praktisch den Ukrainern die Schuld für die russische Invasion des Landes zuschiebt. Weil die Ukrainer im Donbass einige Tausend Menschen getötet hätten, habe Putin gar nicht anders gekonnt, als einzugreifen, soll Berlusconi vor Vertrauten im kleinen Kreis erklärt haben.
Silvio Berlusconi, Giorgia Meloni bei einem gemeinsamen Auftritt
Foto: ALBERTO PIZZOLI / AFP
Die Äußerungen werfen die Frage auf, wie die künftige Regierung in Rom sich gegenüber Russland verhalten wird. Meloni, die außenpolitisch über keinerlei Erfahrung verfügt, hat sich zwar klar zur Nato bekannt und auch die Invasion der Ukraine durch Russland verurteilt. Doch die Querschüsse von Berlusconi lassen erahnen, dass die Russlandpolitik schon bald zu einem Streitpunkt ausarten könnte. Putin wird sich freuen: Ein gespaltenes Europa ist genau das, worauf er setzt. Die 20 Wodka-Flaschen für Berlusconi könnten ein lohnendes Investment gewesen sein.
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Geburtstagspräsent aus dem Kreml: Putin-Wodka für Berlusconi verstößt vermutlich gegen EU-Sanktionen
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Russland soll Staudamm vermint haben, Kiew muss Strom sparen: Der ukrainische Präsident warnt vor einer Sprengung in einem Wasserkraftwerk. USA verurteilen Umsiedlungen durch Russland. Und: Regierung in Kiew befürchtet monatelange Energieengpässe. Das geschah in der Nacht.
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»Hier aus dem Dorf macht keiner so was«: Die Polizei geht von einem politischen Anschlag auf das Flüchtlingsheim in Groß Strömkendorf aus. Der kleine Ort ist erschüttert – wie passt der Brand zu all der Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit bislang?
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USA klagen Russen mit Firma in Hamburg wegen Verstoß gegen Sanktionen an: Weil sie Technik nach Russland verkauft haben sollen, wurden fünf Russen in den USA angeklagt. Einer von ihnen soll in Deutschland festgenommen worden sein.
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Die Startfrage heute: Wann zuletzt durften sich Frauen in Iran unverschleiert auf den Straßen bewegen?
Gewinner des Tages…
Mike Pence
Foto: Jose Luis Magana / AP
…ist Mike Pence. Während seiner Zeit als Vizepräsident von Donald Trump hat der stramm konservative Republikaner jeden Unfug mitgemacht, den sein Chef so täglich ausheckte. Erst ganz zum Schluss entdeckte Pence dann glücklicherweise sein Gewissen, indem er sich weigerte, bei Trumps Plan mitzumachen, die Wahl von Joe Biden für ungültig zu erklären.
Nun geht Pence abermals auf Distanz zu seinem früheren Boss und gibt deutlich wie nie zu erkennen, dass er möglicherweise selbst als Präsidentschaftskandidat bei der nächsten Wahl in den USA antreten könnte.
Als er bei einer Veranstaltung an der Georgetown University in Washington, DC, gefragt wurde, ob er erneut für Trump wählen würde, setzte der sonst eher spröde Pence ein schelmisches Lächeln auf und antwortete ungewohnt schlagfertig: »Vielleicht tritt jemand anders an, den ich lieber mag.«
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Roland Nelles