Vom gefährdeten Glück der Demokratie
In der vergangenen Nacht trat ein neues Dekret des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Kraft: Er verhängte das Kriegsrecht für die ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson.
Wladimir Putin
Foto: IMAGO/Pavel Bednyakov / IMAGO/ITAR-TASS
Mit Handlungen wie diesen hat Putin viele derjenigen im Westen zum Schweigen gebracht, die vor Kriegsausbruch mal spielerisch, mal ernsthaft darüber nachdachten, ob die Demokratie wirklich die beste Staatsform sei. Selbst einige liberale Kräfte äußerten hier im vergangenen Jahr noch gefährliche Zweifel. Dann nämlich, als es zum Beispiel so aussah, als bekämpften autoritäre Staaten wie China die Pandemie effektiver als die Demokratien des Westens.
Heute zeigt sich: Da ist nicht viel, was in Ländern wie China besser läuft, schon gar nicht die Bekämpfung der Pandemie. Und dass irgendetwas in Russland noch gut liefe, kann seit dem Kriegsausbruch keiner mehr behaupten, der bei Verstand ist.
Doch in diesen Tagen zeigt sich nicht nur der unschätzbare Wert der Demokratie, sondern auch ihre Gefährdung: Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz, die britische Premierministerin Liz Truss, die neu gewählte italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni – aus völlig unterschiedlichen Gründen lösen diese Namen Schrecken aus.
Zur Freude an der Demokratie besteht genug Anlass. Zur Selbstgefälligkeit der Demokratinnen und Demokraten aber darf diese Freude nicht führen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Ukraine schränkt Stromversorgung ein, Steinmeier sagt Kiew-Reise kurzfristig ab: Die Schäden am ukrainischen Energienetz haben schwerwiegende Konsequenzen. Berlusconi zeigt Verständnis für Putins Angriff. Einer Studie zufolge muss Deutschland seinen Gasverbrauch um 30 Prozent reduzieren. Das geschah in der Nacht.
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Was hinter dem ungewöhnlichen Interview von General Surowikin steckt: Bevor Putin das Kriegsrecht verhängte, hatte ein TV-Auftritt für Aufsehen gesorgt. Erstmals sprach ein hoher General offen über die schlechte Lage an der Front – und bereitete damit den Boden für die Entscheidung des Präsidenten.
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Norwegen nimmt wegen Drohnenflug Sohn von Putin-Vertrautem fest: Die Infrastruktur Norwegens scheint von Russland immer mehr ausgekundschaftet zu werden. Nun hat die Polizei mit Andrej Jakunin den Sohn eines mächtigen Putin-Loyalisten wegen eines Drohneneinsatzes festgenommen.
»Höchst dringliches« Treffen
Heute Nachmittag beginnt der zweitägige EU-Gipfel in Brüssel, es wird wieder um den Ukrainekrieg und die horrenden Energiepreise gehen. Man müsse »mit höchster Dringlichkeit handeln«, um die Preise in den Griff zu bekommen und die Energieversorgung zu sichern, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsbrief an die Staats- und Regierungschefs. Das allerdings dürfte allen klar sein.
Charles Michel
Foto: FRANCOIS WALSCHAERTS / POOL / EPA
Die entscheidende Frage aber lautet: Wie soll gehandelt werden?
Mein Kollege Markus Becker, Korrespondent in Brüssel, rechnet mit einer wenig harmonischen Veranstaltung: »Insbesondere bei der Diskussion um einen Gaspreisdeckel dürfte es hoch hergehen.« Während eine Reihe von Ländern ein solches Instrument zur Preissenkung vehement fordern, lehnen andere es ab – darunter Deutschland und die Niederlande. Das ist nicht der einzige Punkt, an dem Kanzler Olaf Scholz sich auf Kritik gefasst machen muss. Auch das 200 Milliarden Euro schwere Entlastungspaket der Bundesregierung hat bei den EU-Partnern für Irritation gesorgt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird wieder einmal zugeschaltet sein – und voraussichtlich abermals mehr Hilfen im Krieg gegen Russland fordern. Hier hat die EU immerhin etwas anzubieten: Die gestern auf den Weg gebrachten neuen Sanktionen gegen Iran wegen der Lieferung von Kamikazedrohnen an Russland werden voraussichtlich noch heute Vormittag offiziell beschlossen.
Wie die Cannabislegalisierung aussehen könnte
Seit dem Regierungswechsel im Bund warten Befürworter der Legalisierung von Cannabis auf ein entsprechendes Gesetz. Das aber lässt auf sich warten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist vor allem mit Corona beschäftigt. Gestern kursierte nun ein Bericht vom Redaktionsnetzwerk Deutschland, wonach die Eckpunkte für die geplanten Gesetzesänderungen vorliegen.
Cannabis
Foto: Fabian Sommer / dpa
Der Kauf und Besitz von 20 Gramm Cannabis ab dem Alter von 18 Jahren soll demnach grundsätzlich straffrei sein. Die Menge des berauschenden Wirkstoffs THC soll maximal 15 Prozent betragen. Um »cannabisbedingte Gehirnschädigungen« zu verhindern, dürfen allerdings an Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren nur Produkte mit einem THC-Gehalt von höchstens 10 Prozent verkauft werden.
Zwischen jungen und älteren Erwachsenen zu unterscheiden, ist sinnvoll. Die Gehirne von jungen Erwachsenen sind nicht immer ganz ausgereift und können durch Cannabis geschädigt werden. Ganz ausgegoren klingt der Entwurf aber noch nicht: Wie zum Beispiel kann festgestellt werden, ob ein an der Straßenecke rauchender 18-Jähriger nur die erlaubte Dosis konsumiert?
Lauterbach ließ über einen Sprecher ausrichten, es liege noch gar kein »abgestimmtes Eckpunktepapier« vor. Soll heißen: Kritik an einzelnen Punkten möge man ihm ersparen.
Seine frühere Skepsis gegenüber Cannabis hat Lauterbach abgelegt. Als Jugendlicher habe er erlebt, so erzählte er kürzlich in einem SPIEGEL-Gespräch , wie Schulfreunde mit Cannabis angefangen hätten, bald auf härtere Drogen umgestiegen und dann an einer Überdosis Heroin gestorben seien. Inzwischen aber habe er sich durch Studien davon überzeugen lassen, dass Cannabis keine klassische Einstiegsdroge mehr sei.
In dem Interview gab er zu, auch mal einen Joint geraucht zu haben »Sehr angenehm« sei das gewesen. »Genauso, wie es sein soll. Entspannend. Ich hatte auch keine Nebenwirkungen. Ich habe es dann aber nie wieder gemacht.«
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Die Startfrage heute: In welcher Stadt ermittelt »Tatort«-Hauptkommissar Freddy Schenk?
Gewinner des Tages…
… ist das Personalpronomen. Heute wird an der Uni Bielefeld eine Konferenz dazu veranstaltet.
Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie – diese Worte sind im Grammatikunterricht früherer Zeiten einfach so heruntergeleiert worden, gedankenlos, weil allen klar zu sein schien, was »er« und »sie« bedeuten. Ein gedankenloser Umgang mit Personalpronomina ist aber heute nicht mehr möglich. Sie stehen für Identität. Und wie sich Identität durch Sprache ausdrückt, darüber wird gestritten.
Die einen sagen, Sprache müsse sich ändern und deutlich machen, dass nicht immer klar ist, ob sich jemand als eindeutig »er« oder »sie« versteht. Die anderen sagen, durch solche Veränderungswünsche gehe die Klarheit der Sprache verloren.
Zu der Tagung heute treffen sich Fachleute aus der Linguistik, der Altphilologie, der Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Biologie und der Soziologie. Diese Zusammensetzung zeigt, dass es Diskussionsbedarf und viel zu bedenken gibt. Daraus folgt zweierlei: Erstens, dass es zu leicht ist, einfach so zu sagen, Sprache müsse sich nicht ändern. Zweitens, dass die Veränderung von Sprache ganz ohne Widerspruch und gründliches Nachdenken wiederum nicht zu haben ist.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Trumps Aussagen über Nordkorea-Briefe: Donald Trump bestreitet weiter jedes Fehlverhalten im Umgang mit geheimen Dokumenten aus dem Weißen Haus. Nun allerdings sind Audioaufnahmen aufgetaucht, die das Gegenteil nahelegen. Es geht um Nordkorea.
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Total Eclipse of the Heart: Eclipse war ein Phänomen: Die US-Hündin fuhr mehrfach pro Woche mit dem Bus in den Park und zurück – ohne ihr Herrchen. Nun ist das Tier gestorben. Und die Trauer um »eine wahre Ikone von Seattle« ist groß.
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Ich wollte niemals nach New York: »Der Central Park«, »die Wolkenkratzer«, »der Broadway«, »Jay Z!!!«. Wer nach New York City reist, hält sich schnell für einen Weltbürger. Aber was bleibt von der Stadt, wenn man ihr den Mythos nimmt?
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Wie Joe Biden China technologisch aushungern will: Im Wettlauf mit China nutzen die USA ihre Tech-Führerschaft als Waffe. Exportbeschränkungen sollen verhindern, dass Peking eine Hochleistungschip-Industrie aufbauen kann. Das Sanktionsregime trifft auch Europa.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer