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News des Tages: Fracking, Elnaz Rekabi, Kita-Pflicht

1. Woher nehmen, wenn nicht fracken?

Auch noch das! Als wäre es nicht genug, dass sich angesichts von zweistelligen Inflationsraten das Päckchen Butter langsam dem Wert eines Goldbarrens annähert, sollen ab dem 18. November auch noch große und kleine Geschäfte teuer werden: Sanifair erhöht die Preise auf Autobahntoiletten von 70 Cent auf einen Euro.

Aber es gibt auch überraschend positive Nachrichten an diesem Tag: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat die Europäische Union laut einer Studie so viel Strom aus Wind und Sonne produziert wie noch nie. Zwischen März und September kam fast ein Viertel der Elektrizität in der EU aus Solar- und Windkraft: Das geht aus einer Studie der Organisationen Ember und E3G  hervor, die am Dienstag veröffentlicht wurde und aus der die Nachrichtenagentur dpa zitiert. Auch Deutschland erreichte der Studie zufolge einen Rekord mit 104 Terawattstunden Strom aus Sonne und Wind seit März. Das entspreche etwa einem Drittel der gesamten Elektrizität.

Natürlich reicht das noch lange nicht, um eine Industrienation wie Deutschland unabhängig von russischem Gas zu machen. Auch Scholz’ Machtwort, die drei deutschen Atomkraftwerke bis Mitte April weiterlaufen zu lassen, wird – so richtig und wichtig diese Entscheidung ist, wie mein Kollege Gerald Traufetter kommentiert  – den deutschen Energiedurst nicht stillen können. Wie also sieht ein effizienter und resilienter Energiemix der Zukunft aus?

Reinhard Ploss, der den Zukunftsrat der Bundesregierung leitet, findet: »Mittelfristig wäre Kernenergie eine denkbare Option.« Der Streit über ein paar läppische Monate Streckbetrieb, der die Regierung an den Rande des politischen Blackouts geführt hat, zeige aber, dass Atomkraft nicht »konsensfähig« sei. Daher regt Ploss an: »Wir sollten Fracking ernsthaft in Erwägung ziehen.«  Sonst werde man aus der Bittstellerrolle nicht herauskommen.

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SPIEGEL-Kolumnist Michael Sauga kommentiert heute in die gleiche Richtung: »Anstatt auf ihrem eigenen Kontinent Fracking-Gasförderungen zu erlauben, kaufen die Europäer den ungeliebten Brennstoff lieber mit viel Geld in Amerika ein, um seinen Einsatz daheim anschließend mit noch mehr Geld zu subventionieren.« So sorge der Doppelwumms für doppelte Freude in Washington und doppelten Frust in Europa.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Ermittler entdecken offenbar gewaltiges Loch in Nord-Stream-1-Pipeline: Bislang deuteten nur Gasblasen auf der Meeresoberfläche die Zerstörung der Gaspipeline an. Nun wurden Unterwasseraufnahmen veröffentlicht, die drastische Schäden an der Leitung Nord Stream 1 zeigen sollen.

  • Dutzende Schiffe mit LNG stauen sich vor Spaniens Küste: Weil Russland Gaslieferungen gestoppt hat, ist verflüssigtes Erdgas heiß begehrt. Doch mehr als 30 LNG-Frachter harren an Europas Südküste aus – und könnten wieder abdrehen.

  • Wie der Krieg die Gefühle verdreht: Während in ihrer Heimat der Ausnahmezustand herrscht, kämpfen die bekanntesten Schriftsteller der Ukraine mit Worten für ihr Land. Unterwegs mit den drei Heimatlosen Serhij Zhadan, Andrej Kurkow und Oksana Sabuschko .

  • Bündnis der Ausgestoßenen: Das Regime in Teheran ist innenpolitisch schwer angeschlagen, nun dient es sich Russlands Diktator an. Iranische Raketen könnten im Krieg einen Unterschied machen – aber auch eine bisher unbeteiligte Nation provozieren .

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Auftritt ohne Kopftuch

Was können wir in Europa tun, um die mutigen Proteste der Menschen in Iran zu unterstützen? Wäre man prominent, könnte man sich als Zeichen der Solidarität auf Instagram von ein paar Haarsträhnen trennen. Oder sich auf offener Bühne eine Glatze rasieren, wie es der Gewinner des Deutschen Buchpreises, Kim de l’Horizon, gestern Abend zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse getan hat.

Wäre man Politikerin, könnte man wie Außenministerin Annalena Baerbock ein »weiteres Sanktionspaket gegenüber dem iranischen Regime« fordern. Oder die Atomverhandlungen mit dem Regime vorerst auf Eis legen.

Wichtig ist aber auch, Einzelschicksale wie das der Kletterin Elnaz Rekabi nicht aus den Augen zu verlieren. Nach ihrem Auftritt ohne Kopftuch bei den Asienmeisterschaften im südkoreanischen Seoul wächst die Sorge über ihren Verbleib. Die Nachrichtenagentur AP berichtet, Rekabi habe Südkorea auf Druck Irans bereits wieder verlassen müssen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Nach Informationen von BBC Persia seien ihr zudem von der iranischen Delegation der Pass und ihr Handy abgenommen worden.

Diese Meldungen sind offiziell nicht bestätigt worden. Dafür meldete sich die Sportlerin heute selbst über Instagram mit einer kurzen Botschaft zu Wort, in der sie jeden politischen Inhalt der Aktion zurückwies: »Ich entschuldige mich für die Aufregung und die Unruhe, die ich verursacht habe. Ich muss sagen, dass meine Kopfbedeckung wegen meiner Aufgeregtheit im Finale der Asienmeisterschaften in Südkorea wegen des ungeschickten Timings aus Versehen weggerutscht war. Und jetzt bin ich, wie geplant, in Begleitung der Mannschaft auf dem Weg nach Iran.« Ist also alles gut? Mitnichten.

Aus Versehen weggerutscht? Mir jedenfalls kommt diese Erklärung so glaubwürdig vor wie der sechs Jahre zurückliegende Versuch der AfD-Politikerin Beatrix von Storch, einen menschenfeindlichen Facebook-Eintrag damit zu erklären, sie sei »auf der Computermaus ausgerutscht«.

Die aktuellen Bewegungen in Iran gelten als größte Herausforderung für die iranische Theokratie seit den Massenprotesten um die umstrittene Präsidentschaftswahl 2009. »Der Verdacht liegt nahe, dass Rekabis Entschuldigung erzwungen wurde und nur unter Druck entstanden ist, dass es ein Pflichtgeständnis sein könnte«, schreiben Anne Armbrecht und Jan Göbel aus dem SPIEGEL-Sportressort. Der Fall um Rekabi zeige, »wie nervös das Regime ist und dass mit aller Macht Sportlerinnen und Sportler – die gerade für junge Menschen Vorbilder sind – auf die politische Linie gebracht werden sollen«.

3. Vorgezogene Schulpflicht

Seit gestern ist klar: »In den vergangenen zehn Jahren haben die allermeisten Bildungsfachleute in Deutschland das Ausmaß der Probleme im Schulsystem verdrängt, übersehen oder wissentlich ignoriert«, so Armin Himmelrath aus dem SPIEGEL-Bildungsteam. Nur noch die Hälfte aller Grundschulkinder erreichen die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen, zeigt der aktuelle IQB-Bildungstrend – und rund 20 Prozent erreichen nicht einmal die Mindeststandards.

Heute hat sich nun Stephan Dorgerloh, früherer Kultusminister in Sachsen-Anhalt, zu Wort gemeldet. »Die Ergebnisse sind eine Katastrophe«, sagt auch er wenig überraschend. Er fordert »einen handfesten Aktionsplan von Politik, Verwaltung, Praxis und Wissenschaft«. Und hat auch schon eine Idee, wie dieser Aktionsplan aussehen könnte. Die plakativste Forderung seines Fünfpunkteplans: ein verpflichtender Kita-Besuch für alle Kinder ab vier Jahren – man könnte das auch als vorgezogene Schulpflicht beschreiben. Hier finden Sie den Gastbeitrag von Stephan Dorgerloh.

Von wie auch immer gearteten »Pflichten« für Vierjährige halte ich grundsätzlich wenig. Als Mutter eines Siebenjährigen, der fünf Jahre seines Lebens eine Kita besucht hat, finde ich aber auch, dass man Kitas künftig mehr als Bildungseinrichtungen denn als Verwahranstalten begreifen könnte. Freies Spiel und ständig wechselnde Betreuerinnen und Betreuer – daraus bestand, jedenfalls hier in München, der Kita-Alltag. Die Gelder des »Gute-Kita-Gesetzes« flossen wie eine Art Schmerzensgeld in vielen Bundesländern in die Gebührenbefreiung für Eltern, nicht unbedingt in die Betreuungsqualität. Das sollte sich dringend ändern.

Immerhin: Im Entwurf des Familienministeriums zum geplanten »Kita-Qualitätsgesetz« wird nun eine »stärkere Fokussierung auf die Weiterentwicklung der Qualität der Kindertagesbetreuung« betont. Neue Beitragssenkungen sollen damit nicht mehr umgesetzt werden können.

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Chemische Haarglättung könnte Gebärmutterkrebsrisiko erhöhen: Frauen, die sich regelmäßig die Haare glätten, erkranken einer Studie zufolge häufiger an Gebärmutterkrebs. US-amerikanische Forscher führen das auf bestimmte Chemikalien zurück.

  • Rechnungshof sieht Verstoß gegen die Verfassung: Mit rund 200 Milliarden Euro will die Bundesregierung Wirtschaft und Privathaushalte unterstützen, um die Härten der Energiekrise abzufedern. Die Finanzierung bereitet manchen Fachleuten aber Kopfschmerzen.

  • Zahl der Baugenehmigungen bricht ein: Hohe Finanzierungskosten und steigende Baukosten machen der Immobilienwirtschaft zu schaffen. Nun zeigt sich: Die Zahl der Baugenehmigungen ist im August stark eingebrochen.

  • Innenministerium stellt BSI-Präsident Arne Schönbohm frei: Das Innenministerium hat den Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik mit sofortiger Wirkung freigestellt und leitet ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein, wie der SPIEGEL aus Sicherheitskreisen erfuhr.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Mein Freund, die Beißmaschine: Obwohl Surfer am häufigsten Opfer von Haien werden, wollen die Wassersportler die aggressiven Raubfische besser schützen. Bröckelt das Feindbild? 

  • Zwei Gramm am Tag: Seit 2017 verschreiben Ärzte in Deutschland Cannabis. Wissenschaftler sagen: Helfen könnte es bei vielem, gesichert ist wenig. Aber es gibt Patienten, denen es das Leben erleichtert. Hier berichten zwei von ihren Erfahrungen .

  • So bleiben Sie in Krisenzeiten ein guter Chef: Viele Menschen fühlen sich gerade erschöpft und verunsichert – um gegenzusteuern, wollen manche Führungskräfte noch mehr strukturieren und vorschreiben. Das ist der falsche Weg, sagt Personalexpertin Constanze Buchheim .

  • Wie der Chaos Computer Club die Bürokratie im Gesundheitswesen vorführt: Tausende Arztpraxen sollen neue Spezialhardware kaufen, um weiter Leistungen abrechnen zu können. Dahinter stehe kein technischer Grund, sagen Hacker des CCC, sondern »strategische Inkompetenz« der Hersteller .

  • »Boris Johnson musste gehen, die BBC ist noch da«: Die BBC wird heute 100 Jahre alt. Die Tories attackieren den Sender seit Jahren als »zu links«, die Linke wirft ihm vor, nach rechts zu rücken. Kann die Institution des Journalismus das überleben? Fragen an die Historikerin Jean Seaton .


Was heute weniger wichtig ist

  • Mit künstlerischem Talent, vor allem aber mit Selbstbewusstsein, scheint der Regisseur Werner Herzog vom Herrgott großzügig ausgestattet worden zu sein. »Ich sehe relativ wenige Filme«, sagte Herzog in der Deutschen Kinemathek in Berlin. »Und ich weiß natürlich, dass fast alles Schrott ist.« Auch auf den großen Festivals sei das so. »Cannes: 90 Prozent Schrott. Berlinale: 95 Prozent Schrott. Venedig: 90 Prozent Schrott.« So sei es auch mit Serien. »Aber der Unterschied ist, dass meine Filme anders sind und auch besser.« Es habe immer wieder auch Rückschläge gegeben, aber Zweifel an seinen Filmen habe er eigentlich nie gehabt. Wenn er ein Buch schreibe, dürfe das »nicht schlechter sein, als Büchner es geschrieben hätte«. Auf den (möglicherweise ironischen?) Kommentar, das sei ja gelungen, antwortete er: »Danke, ich weiß es.«

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Ola Scholz wäre deshalb gut beraten, vor dem Gipfel dieser Woche eine andere Tonlage anzustimmen als vor dem letzten.« 

Cartoon des Tages: Liz Truss’ neues Kochrezept

Illustration: Klaus Stuttmann


Und heute Abend?

Welcher Ort am Meer war für Thomas Mann ein »Kindheitsparadies« und wurde von ihm in seinem Roman »Buddenbrooks« verewigt? An welcher Körperstelle ist der Nibelungenheld Siegfried verwundbar, obwohl er im Drachenblut gebadet hat? Wie viele Verse hat ein Sonett? Wissen Sie es?

Ich leider nicht. Immerhin habe ich 10 von 15 Fragen des SPIEGEL-Quiz zur Buchwoche, das sich Martin Doerry und Volker Hage ausgedacht haben, richtig beantwortet.

Als ich vor ungefähr elf Jahren mein Vorstellungsgespräch beim SPIEGEL hatte, lautete übrigens eine einstellungsrelevante Frage: »Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?« Damals antwortete ich: »6 Österreicher unter den ersten 5«. Ein autobiografischer Roman von Dirk Stermann über seine »Entpiefkenisierung« in Wien.

Am vergangenen Wochenende habe ich Thomas Melles »Das leichte Leben« fertig gelesen. Es ist ein bürgerlicher Familienroman, vor allem aber ein Buch über Sex. Melle kann darüber schreiben »wie nur wenige, weil er abdrehen kann wie kein Zweiter, aber in diesem Roman ist er nicht nur ein Ekstatiker, sondern auch ein Analytiker des Sex. Er bringt die existenzielle Verzweiflung auf den Begriff, die Sexualität oft zugrunde liegt. Und die Aggression«, schreibt Tobias Becker aus der SPIEGEL-Kulturredaktion .

Melle hat außerdem viel zeitdiagnostischen Humor. Einen seiner Protagonisten etwa lässt er eine Affäre beginnen mit einer Praktikantin oder Volontärin, die Jasmin oder Johanna heißt, wer weiß das schon, und die »eines dieser herben Männerparfüms« trägt, »die sich die Studentinnen in diesen Tagen gerne auftrugen, wegen struktureller Dinge wahrscheinlich.« Ich jedenfalls habe an der Stelle sehr gelacht.

Einen heiteren Abend wünscht
Ihre Anna Clauß

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