Die dysfunktionale Koalition
Meine Güte, das hat aber gedauert. Nach langem Hin und Her hat Kanzler Olaf Scholz den zähen Koalitionsstreit um die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke beendet. Er hat ein Machtwort gesprochen, wie es jetzt so schön heißt. Scholz hat per Brief und per Verweis auf seine Richtlinienkompetenz als Kanzler gleichsam angeordnet, dass die letzten drei aktiven deutschen Meiler über das Jahresende hinaus weiterlaufen sollen, dann aber spätestens zum 15. April 2023 endgültig abgeschaltet werden.
Kanzler Scholz bei einer Bundeswehrübung in Ostenholz
Foto:
David Hecker / Getty Images
Auch wenn es erst mal nicht so aussieht, ist die Sache wohl als Kompromiss zu verstehen. Alle Kontrahenten, speziell Robert Habeck von den Grünen und FDP-Chef Christian Lindner, retten sich irgendwie aus der Affäre. Die Grünen bekommen ihren endgültigen Atomausstieg im nächsten Jahr. Die FDP kann darauf verweisen, dass es gelungen sei, drei Kraftwerke etwas länger am Netz zu lassen als von den Grünen gewünscht. Und Scholz darf sich sehr mächtig vorkommen, weil er endlich einmal wie der Unfehlbare etwas ex cathedra entscheiden darf.
So richtig gut fühlt sich das Ganze trotzdem nicht an. Denn Otto-Normal-Stromkunde wird sich fragen, warum es eigentlich für die Politik so schwer ist, in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten ohne langes Gelaber das Naheliegende zu tun und drei Kraftwerke länger laufen zu lassen. Die Frage ist berechtigt.
Und wenn dann der Kanzler erst noch auf seine Richtlinienkompetenz verweisen muss, um einen Koalitionsstreit zu lösen, ist das auch nicht wirklich beruhigend. Mit einer Koalition, in der der Regierungschef auf dieses äußerste Mittel zurückgreift, damit es vorangeht, stimmt offenkundig etwas nicht. Sie ist dysfunktional. Scholz’ Machtwort ist so gesehen wohl eher ein Ohnmachtwort, kein Grund zu großem Jubel also.
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Kanzlermachtwort im Atomstreit: Der Hirte sprach, die Schafe folgten
Irans übles Spiel
Sind die Europäer – und speziell die Deutschen – einfach zu naiv für diese Welt? Manchmal scheint es so. Erst hat uns Gas-Zar Wladimir Putin veralbert, und nun droht die nächste böse Falle. Diesmal laufen die Europäer Gefahr, sich von den Iranern auf der Nase herumtanzen zu lassen.
Irans Sicherheitsdienste mähen im eigenen Land Protestler nieder. Zugleich beliefert Teheran offenbar Russland mit Kamikaze-Drohnen für den Krieg gegen die Ukraine. Bald könnten wohl noch Raketenlieferungen hinzukommen.
Proteste gegen das Regime in Teheran (am Montag in Istanbul)
Foto:
SEDAT SUNA / EPA
Was tut die EU? Sie agiert im Umgang mit Teheran weiterhin extrem vorsichtig. Das brutale Vorgehen des Regimes gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten wird zwar offiziell verurteilt, die mutmaßlichen Raketenlieferungen werden ebenso kritisiert. Die EU-Außenminister haben auch einige zaghafte Sanktionen gegen die Sicherheitsapparate verhängt. Das war es dann aber auch. Ansonsten herrscht vornehme diplomatische Zurückhaltung.
Die EU steckt in einem Dilemma, das Iran ausnutzt. Denn über allem schwebt die Sorge der Europäer, Iran könnte die aktuellen Verhandlungen über die Wiederbelebung des Atomabkommens JCPOA scheitern lassen. Kommt das neue Atomabkommen nicht zustande, könnte Iran bald Nuklearmacht sein. Gelingt das Abkommen hingegen und der Westen ließe im Gegenzug Sanktionen fallen, würde dies wiederum die Machthaber in Teheran stärken – und den Protest schwächen.
Was also tun? Am Ende hilft vermutlich nur Konsequenz und eine klare Ansage: Ändert Iran nicht sein Verhalten, werden die EU und die USA nicht darum herumkommen, die Atomverhandlungen wenigstens auszusetzen und Teheran weiter klar mit harten Sanktionen zu ächten. Alles andere wäre ein Zeichen von Schwäche – und Naivität.
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Der Kanzler und die Panzer: Für einen Vormittag besucht Olaf Scholz eine scharfe Übung der Bundeswehr. Das heikle Thema Panzerlieferungen für die Ukraine spart er sorgsam aus, viele Fragen stellt er nicht. Dafür sorgt ein anderer Fauxpas für Aufsehen.
Nervöse US-Demokraten
US-Präsident Joe Biden wird heute bei einer Parteiveranstaltung im traditionsreichen Howard Theater in der US-Hauptstadt Washington erneut in den Wahlkampf zu den bevorstehenden Kongresswahlen eingreifen. Erwartet wird eine flammende Rede des Präsidenten vor allem zum Thema Abtreibungen.
Bidens Demokraten werden wegen der Midterms am 8. November zunehmend nervös: Laut einer neuen Umfrage im Auftrag der »New York Times« geraten sie gegenüber den Republikanern ins Hintertreffen. Demnach wollen 49 Prozent der Wählerinnen und Wähler für republikanische Kandidaten stimmen, lediglich 45 Prozent wollen ihr Kreuz bei den Demokraten machen.
US-Präsident Joe Biden
Foto:
Manuel Balce Ceneta / dpa
Zwar sollte man Umfragen in den USA stets mit Vorsicht genießen. Doch sollten diese Zahlen auch nur annähernd stimmen, würden damit die Chancen für einen republikanischen Sieg am 8. November steigen. Biden und seine Demokraten hoffen darauf, dass die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichts, das bestehende Abtreibungsrecht zu kippen, ihnen Wähler zutreiben wird. Nach Lage der Dinge interessieren sich die meisten Amerikaner derzeit aber vor allem für die Aussichten der Wirtschaft und die hohe Inflation, beides Themen, bei denen Biden schlechte Noten erhält.
Bei den Kongresswahlen werden das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt. Gelingt es den Republikanern, in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit zu erobern, könnten sie Bidens politische Agenda in den nächsten zwei Jahren nach Belieben ausbremsen und blockieren.
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Ölpreis und US-Wahlen: Warum Bidens Erfolg von den Launen der Saudis abhängt
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Die Startfrage heute: Wer war der letzte Kaiser des Römischen Reichs vor der Teilung in eine West- und eine Osthälfte im Jahr 395?
Verlierer des Tages…
Trump-Klub Mar-a-Lago in Florida
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MARCO BELLO / REUTERS
… ist der frühere US-Präsident Donald Trump. Laut einem Kongressbericht sollen Trump und seine Familie die Staatskasse zur Aufbesserung der Bilanzen ihrer gleichnamigen Hotels missbraucht haben. Immer wenn Trump als Präsident oder seine Kinder in einer ihrer eigenen Luxusherbergen abstiegen, nutzten auch ihre Bewacher Zimmer in den Hotels – für die dann die Steuerzahler saftige Rechnungen zahlen mussten. Die Unterbringung der Personenschützer der Trump-Familie soll demnach mit bis zu 1185 US-Dollar pro Nacht und Zimmer abgerechnet worden sein.
So war es sicherlich kein Zufall, dass Trump und Mitglieder seiner Familie häufig und gerne bei Reisen innerhalb der USA oder außerhalb in ihren eigenen Hotels wohnten. Von mehreren hundert Besuchen ist laut den Listen die Rede. Besonders häufig besucht wurde demnach die Residenz Mar-a-Lago in Florida, Trumps Golfklub in Bedminster, New Jersey, sowie das Trump-Hotel in der Hauptstadt Washington, DC. Insgesamt soll der Secret Service mindestens 669 Rechnungen von Trump-Firmen bezahlt haben.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Roland Nelles